Читать книгу Die richtige Frau - Dieter Zimmer - Страница 6

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Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Westin Grand Hotel war Tim viel zu früh, was er sich schwer erklären konnte, da er sonst immer und überall auf den letzten Drücker kam. Er beschloss einen kurzen Abstecher in seine Redaktion. Er nahm sich fest vor, nur kurz nach seiner Post und flüchtig über die E-Mails zu schauen und gleich wieder zu verschwinden.

Ältere Kollegen hatten ihm stets eingebläut, es komme überhaupt nicht darauf an, ständig Nase zu zeigen und Bereitschaft zu demonstrieren; stattdessen müsse man den Riecher dafür entwickeln, wann man unabkömmlich sei oder in eine Bresche springen könne. Aber Tim war noch nicht so weit.

„Hallo, Tim“, rief Wuttke, sein Redaktionsleiter, mit zwei Telefonen Hektik demonstrierend wie in einer Karikatur. „Gut, dass du da bist.“

Patsch!, dachte Tim, jetzt haben sie mich erwischt.

„Du hast doch einen Draht zu Hertha BSC", sprudelte Wuttke. „Da soll mal wieder die Kacke am Dampfen sein. Na ja, der Tabellenplatz nach den teuren Einkäufen … Kannst du dich gleich mal drum kümmern?“

„Hat das ein bisschen Zeit?“, fragte Tim mit schlechtem Gewissen. „Ich habe Besuch aus den USA. Außerdem dampft es bei Hertha immer.“

„Du musst es ja wissen“, antwortete Wuttke leicht pikiert.

„Außerdem haben wir eine Beerdigung“, log Tim.

„Beerdigung, Beerdigung!“, äffte der Sportchef. „Das ist der Schnee von gestern. Tot ist tot, aber news is news.“

„Aber …“, setzte Tim an und verwünschte seinen blinden Eifer.

„Wer hat denn den Löffel weggelegt?“, fragte Wuttke.

„Das ist schwer zu erklären. Eine alte Freundin meines Opas.“

„Also, das kannst du mir nun wirklich nicht erzählen!“

„Doch. Ich hatte extra frei genommen. Ihre Enkelin aus Amerika ist gekommen, um die muss ich mich kümmern.“

„Wie alt?“

„Die Enkelin? So alt wie ich.“

„Na dann.“ Wuttke klopfte ihm mäßig verständnisvoll auf die Schulter. „Aber merk dir für alle Zukunft: Lass dich nie in der Redaktion blicken, wenn du was Wichtiges vorhast.“

Tim bedankte sich für den kollegialen Rat und hatte das Gefühl, dass der heutige Tag seiner Karriere nicht übermäßig förderlich sei. Andererseits wollte er ohnehin raus aus der Sportredaktion und hinein in die Politik.

Tim kam dann doch etwas zu spät ins Westin Grand. Er rief mit schlechtem Gewissen von der Rezeption aus an, aber er weckte Lisa aus tiefem Schlaf. Sie war etwas maulig, aber versprach sich zu beeilen. Was immer dieses Versprechen zu bedeuten hatte.

Tim setzte sich an die Bar und bestellte einen Orangensaft – er lebte nach dem Prinzip: vor achtzehn Uhr keinen Alkohol, nach achtzehn Uhr kein Wasser. Noch mal kam ihm die Frage, warum Lisa nicht, wie jeder vernünftige Mensch, um elf Uhr abends ins Bett gehen und um sieben Uhr morgens aufstehen konnte. Aber das würde er ihr in ihren paar Berliner Tagen nicht beibringen. Das war der Job ihres Freundes zu Hause in Amerika. Falls sie dort einen hatte.

Am frühen Vormittag spielte in der Lobby bereits ein Pianist am Blüthner-Flügel und intonierte gerade den Frank-Sinatra-Titel The Lady Is A Tramp. Irgendwie, dachte Tim, passte das ja zu Lisa. Er spendierte dem Pianisten einen Drink, ebenfalls alkoholfrei, und durfte sich einen Titel wünschen. Er wählte Über sieben Brücken musst du geh’n … Man war ja im Osten, auch wenn es die Trennung in Ost und West nicht mehr gab.

Tim ließ den Blick schweifen. Dieses damalige DDR-Devisenhotel hatte bei seiner Eröffnung das Flair des Vergangenen ausgestrahlt. Unwillkürlich stellte man sich bildlich vor, wie der betagte Honecker mit den Architekten über den Plänen brütete, hier noch einen Schnörkel, dort noch einen Staubfänger vorschlug. Aber das höchst luxuriöse Haus war bei seinen West-Gästen immer beliebt gewesen wegen Lage und Komfort. Ob man Lisa alle diese Geschichten erzählen musste? Sie studierte immerhin Neuere Geschichte, und in Berlin begegnete man dieser auf fast jedem Schritt und Tritt.

Eine knappe Stunde war vergangen, da kam Lisa die Treppe hinabgeschwebt. Sie trug ein geblümtes, weit schwingendes Sommerkleid und weiße Pumps. Ein wenig altmodisch. Sechzigerjahre. So hatte sich Tim eine junge Frau aus der Oberschicht einer amerikanischen Oststaaten-Kleinstadt immer vorgestellt.

„Sorry“, lächelte sie.

Tim versuchte zurückzulächeln: „Was wollen wir machen?“

„Oh, ich denke, du kennst dich aus in Berlin?“

Tim schlug vor, einen ersten Bummel durch Berlin-Mitte zu machen, das alte Herz der Hauptstadt, wie er etwas pathetisch formulierte. Später konnte man bei Borchardt essen: „Das ist ein hauptstädtisches In-Lokal, da kannst du, wenn du Glück hast, unsere Spitzenpolitiker sehen.“

„Und was ist“, fragte Lisa, „wenn ich die gar nicht kenne?“

„Dann erkläre ich sie dir.“

„Ich wollte beim Essen nie George Double-U sehen.“

Tim entschied, zuerst Richtung Brandenburger Tor zu gehen. Die geballte Ladung deutscher und europäischer, sogar weltgeschichtlicher Schauplätze auf ein paar Quadratmeilen. Wenn das eine historisch gebildete Ausländerin nicht beeindrucken würde!

„Wie findest du mein Kleid?“, fragte Lisa.

„Oh, dein Kleid“, erwiderte er überrascht. „Sehr schön. Sehr amerikanisch. Trägt man wohl drüben?“

„Also, es gefällt dir“, stellte sie erfreut fest. „Und wie ging es weiter?“

„Womit?“, fragte er verdutzt.

„Na, mit Opa Robert und Grandma Rosie. Im Olympiastadion.“

„Oh, Gott! Du bist aber wirklich sehr anstrengend.“

Hier im Gewimmel Unter den Linden die Geschichte weitererzählen? Robert und Rosie, das war doch etwas Spannendes. Auch etwas Anrührendes. Eine Liebesromanze! Fast wie Romeo und Julia. Das konnte man nicht einfach abspulen, während man auf dem Boulevard den Touristenströmen auswich und achtgab, dass die Fußgängerampel grün zeigte. Tim schlug vor, irgendwo einzukehren. Dort drüben ins Café Einstein. Aber bitte drinnen. Obwohl es heute sommerlich samtweich war und durch die Abgase hindurch nach Blüten duftete. Er bestellte Cappuccino für sich und Orangensaft für Lisa.

„Also, wie gesagt“, fuhr er fort, als die Getränke gekommen waren, „die deutschen Frauen hatten ihr Staffelholz fallen lassen. Die Hunderttausend plus ein Führer waren konsterniert. Entsetzt. Das Blut stockte ihnen förmlich in den Adern. Und der kleine Robert, mein Opa, starrte auf die kleine Rosie, deine Grandma. Aber auch sie raufte sich verzweifelt die Haare und nahm natürlich keine Notiz von Robert.“

„Als ich zwölf war“, warf Lisa ein, „hätte ich das auch nicht bemerkt. Jungen glauben aus irgend einem Grund immer, sie seien für Mädchen interessant.“

„Jungen werden eines Tages Männer, und wenn ihr Frauen nicht irgendwann anfangt, euch für sie zu interessieren, stirbt die menschliche Rasse aus. Okay? Robert und seine Eltern waren jeden Tag im Olympiastadion. Obwohl sein Vater wenig und seine Mutter nichts übrig hatten für Sport. Sie gingen lieber ins Theater oder ins Konzert. Sogar ins Kabarett, solange es so was noch gab im Dritten Reich. Sie hatten auch nicht viel übrig für diesen ganzen Nationalsozialismus, der hier Triumphe feiern wollte.“

„Oh!“, rief Lisa, „das sagten hinterher alle.“

„Aber bei manchen stimmte es. Das ist ein Thema für sich. Und für einen langen Abend. Jedenfalls, dieser riesigen kollektiven Hysterie im Stadion und in der ganzen Stadt, im ganzen Reich sogar, konnten auch sie sich nicht ganz entziehen. Und wenn die Hakenkreuzfahne am Mast emporgezogen wurde und hunderttausend Kehlen Deutschland, Deutschland über alles schmetterten, dann bekamen sie feuchte Augen und sangen mit. Auch Robert.“

„Du musst mir versprechen, dass wir über dieses Thema ausführlich diskutieren. Es ist wichtig für meinen Kopf.“

Tim nickte und fuhr fort: „Die Wettkämpfe jenes besagten und für die Deutschen so unglücklichen Tages waren irgendwann zu Ende, und die Zuschauer brachen auf. Robert und seine Eltern wohnten nicht weit vom Olympiastadion. In Neu-Westend. Sie kamen zu Fuß zum Stadion. Robert wollte nicht mit nach Hause. ‚Ich will noch ein bisschen bummeln‘, sagte er, ‚noch ein bisschen die Begeisterung erleben in der Stadt.‘ Sein Vater war einverstanden. Nur zum Abendessen sollte Robert zu Hause sein. ‚Verlauf dich nicht!‘, rief ihm seine Mutter nach. Und: ‚Hast du Geld einstecken?‘ Aber das hörte er schon nicht mehr.“

„Sag mal“, fragte Lisa, „können wir nicht draußen in der Sonne sitzen?“

„Ich finde nicht“, gab Tim etwas schroff zurück.

„Why not?“

„Es ist eine wichtige Geschichte, die ich dir zu erzählen habe. Auch für dich.“

„Oh, dear!“, lachte sie. „Von einem unserer former Presidents, es war Mr. Ford, sagte man, er konnte nicht zwei Dinge gleichzeitig tun: Gehen und Kaugummi kauen. Ich kann vier Dinge zur gleichen Zeit: Fragen, Zuhören, Verstehen, Antworten. Und fünftens die Menschen auf eurem Kudamm beobachten.“

Aber sie beharrte nicht auf ihrem Wunsch, und Tim dachte, mit dieser Frau werde er noch manche Meinungsverschiedenheit austragen, solange sie in Berlin war.

„Also Robert. Er heftete sich an die Fersen der Familie mit dem Pony-Mädchen. Er hatte größte Mühe, sie im Gedränge der Aufbrechenden nicht aus den Augen zu verlieren. Er fürchtete, sie würden eine Kraftdroschke nehmen.“

„Eine was?“

„Ein Taxi. A cab. Oder gar ein eigenes Auto. Obwohl er dann anhand des Nummernschildes die Familie hätte ausfindig machen können. Aber sie liefen mit den Tausenden zum U-Bahnhof. Robert hätte jetzt eine Fahrkarte lösen müssen. Aber er stellte erschrocken fest, dass er kein Geld einstecken hatte. Außerdem hätte er, während er am Schalter wartete, sein Mädchen aus den Augen verloren. Er raffte seinen Mut zusammen und drängte sich hinter einem stämmigen Mann durch die Sperre. Der Mann am Schalter rief ihm etwas hinterher, aber Robert stürmte weiter und hatte nur im Sinn, die Fährte nicht zu verlieren. Mit knapper Not schlüpfte er im Gedränge in denselben Waggon wie die Familie. Uff!, dachte er, geschafft! Während der Fahrt versuchte er unablässig den Blick des Mädchens aufzufangen, und einmal hatte er das Gefühl, sie habe ihm zugelächelt. Ihm schoss das Blut in die Wangen und bis in die Spitzen der Ohren.“

Lisa lächelte: „Jungen sind überall auf der Welt gleich.“

„Ich weiß. Sonst wären die Mädchen völlig verwirrt. Robert kannte die Liebe ja noch nicht. Beziehungsweise nur aus jugendfreien UFA-Filmen. Wenn das Mädchen am Schluss in Großaufnahme mit feuchten Augen in die Kamera lächelte, dann war der Hase gelaufen.“

„Wer, bitte?“

„Der Blitz. Eingeschlagen. Darf ich weiter erzählen? Zum Glück für Robert mussten sie nicht umsteigen. Sie fuhren mit der U-Bahn-Linie Nummer zwei bis nach Pankow. Pankow! Den Namen hatte Robert schon mal gehört. Mehr nicht. Sein Vater hatte ihm versichert, Pankow sei keine Gegend, in der man schon mal gewesen sein musste. Robert hatte das nicht verstanden. Waren die Menschen nicht überall gleich? Und gleich wertvoll? Doch in Pankow gewesen war er sein Lebtag noch nicht. Groß-Berlin war wirklich ziemlich groß!“

„Warst du schon mal in New York?“, fragte Lisa.

„Nein. Mir geht es wie Udo Jürgens. Und jetzt sind wir erst mal in Pankow. Robert schlich hinter der Familie her, in gebührendem Abstand, um den Eltern nicht aufzufallen. Insgeheim wartete er darauf, dass das Mädchen mit dem Pony sich umdrehte und ihm ein Zeichen gab. Aber sie tat es nicht. Beziehungsweise tat sie es erst, als ihr Vater die Haustür aufschloss, hinter der die Familie verschwand. Da geschah das Wunder von Pankow: Das Mädchen kniff ein Auge zu und lächelte.“

„Und das“, platzte Lisa dazwischen, „ist für einen kleinen Jungen der untrügliche Beweis dafür, dass das Mädchen unsterblich in ihn verliebt ist und ihn bei nächster Gelegenheit heiraten will.“

Untrüglich, unsterblich – Lisa sprach wirklich ein gutes Deutsch. Wenn er sein Englisch damit verglich …

„Weißt du“, fragte Lisa, „was Grandma Rosie mir darüber erzählt hat? Sie hat gesagt: ‚Dieser dumme kleine Kerl schlich die ganze Zeit wie ein begießter Pudel …‘„

„Begossener.“

„Das ist doch schiskojenno! ‚Er schlich pudelmäßig hinter uns her und traute sich nicht. Typisch Junge. Er ging mir auf die Nerven! Nein, er tat mir leid. Ich habe ihm zugezwinkert, damit er nicht völlig verzweifelte.‘ Das hat Grandma mir erzählt.“

Hoppla!, dachte Tim. Diese Geschichte hatte ihm Opa Robert stets anders wiedergegeben. Das fremde Mädchen, dessen Namen er bislang nicht kannte, habe ihn ganz verliebt angeschaut und mit achselzuckender Gebärde auf ihre Eltern gewiesen. Und sie habe ihm ein Zeichen gegeben, vor dem Haus zu warten.

„Wie auch immer“, sagte Tim.

„Das ist so ein deutscher Satz, wenn man nicht weiter weiß. Wir sagen dann howsoever. Das ist genauso blöd.“

„Wie auch immer. Robert stand vor dem vierstöckigen schmucklosen Haus und dachte in immer kürzeren Abständen daran, dass er zu Hause zum Abendessen erwartet wurde. Er wollte sich schon abwenden und gehen, zwang sich aber noch mal zum Bleiben. Endlich öffnete sich oben im dritten Stock verstohlen ein Fenster, und ein Zettel schwebte herab und senkte sich Robert vor die Füße. Er entfaltete ihn hastig. ‚Morgen um zwei‘, stand darauf gekritzelt. Robert schoss wieder das Blut in die Ohren. Sein erstes Rendezvous. Aber wo? Wahrscheinlich hier. Etwas genauere Angaben hätte sie ja machen können.“

Lisa gluckste: „Typisch Weiber!“

„Robert hatte zwar Ferien, aber am nächsten Tag eine Verpflichtung. Er musste wieder mit seinen Eltern ins Olympiastadion. Wie sollte er ihnen beibringen, dass er etwas Wichtigeres zu tun hatte? Diese verflixten Mädchen! – Am U-Bahnhof verwickelte Robert den Mann am Schalter in eine Diskussion. Er habe seine Geldbörse verloren. Jawohl, bei der Herfahrt in der U-Bahn. Das müsse er melden, beschied ihn der Mann. Aber es seien doch Olympische Spiele. Ganz Deutschland, nein die ganze Welt, und überhaupt und so. Außerdem sei er schon viel zu spät und kriege zu Hause eine Abreibung. Von dem blonden Mädchen erzählte er nichts. Der Mann war ein Erwachsener und hätte kein Wort davon verstanden. Robert durfte durch die Sperre, aber nur, weil es so große Tage für das Deutsche Reich waren. In der U-Bahn hatte Robert das Gefühl, alle Fahrgäste schauten ihn anerkennend und aufmunternd an. Sein erstes Rendezvous! Er kam viel zu spät zum Abendbrot, aber das befürchtete Donnerwetter blieb aus. Seine Eltern diskutierten gerade darüber, ob die Erfolge der deutschen Athleten dem Führer zugute gehalten würden. Die Mutter befürchtete es, wohingegen der Vater der Ansicht war, die Deutschen könnten ja nicht alle blinden Glaubens sein. Robert hatte im Augenblick keine Meinung dazu und auch nicht zu anderen Fragen. Er strahlte. ‚Was ist mit dir?‘, fragte seine Mutter, ‚du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd.‘ – ‚Na ja, die ganzen Medaillen und so‘, antwortete Robert ernsthaft. Dann haute er beim Abendbrot tüchtig rein.“

„Was, bitte, ist ein Honigkuchenpferd?“, fragte Lisa.

„Das sagt man eben so.“

„Aber wenn man es so sagt, muss es doch auch etwas sein.“

„Ein besonders glücklicher Mensch.“

„Also kein Pferd.“

Tim stöhnte: „Das ist doch im Zusammenhang der Geschichte völlig gleichgültig.“

„Ich muss mein Deutsch vervollkommnen“, sagte sie.

Tim hätte seine Geschichte fortspinnen können, aber hier schien ihm einfach nicht der geeignete ruhige Ort dafür zu sein. Sie brachen auf und bummelten vom Café Einstein weiter in Richtung des Brandenburger Tors. Die Sonne wärmte und Tausende belebten die Linden und den Pariser Platz. Vor dem Fall der Mauer war Tim, damals noch ein Kind, einige Male mit den Eltern in Ost-Berlin gewesen und auch hier entlanggewandert. Er hatte es, verglichen mit dem Kudamm, eintönig und menschenleer gefunden. Jedenfalls hatte er es so in Erinnerung, wobei Vorurteile das Bild verzerren mochten: Osten heißt grau, Westen heißt bunt. Lisa blieb immer wieder stehen, schaute, betrachtete, las, fragte, hörte zu. Vorm Adlon versuchte Tim plastisch zu beschreiben, wie es hier ausgesehen hatte zu Zeiten der Honeckers: die Einöde des Platzes, das einsam ragende Brandenburger Tor, die Patrouillen der gelangweilten Grenzpolizisten, die hoppelnden Kaninchen und streunenden Katzen. Er spürte, dass Lisa es sich nicht vorstellen konnte. Wie hätte sie auch?

Durchs Brandenburger Tor gehen! Achtundzwanzig Jahre lang hatte das niemand gedurft, kein Ostdeutscher ohne Uniform und kein Westdeutscher. Auch keine Amerikanerin. Sie schritten ganz langsam hindurch, als erwarteten sie, angehalten zu werden. Tim wies Lisa auf den schmalen Streifen von Pflastersteinen hin, der heute markierte, wo damals die Mauer gestanden hatte. Er hatte das Gefühl, sie sei ernstlich beeindruckt. Sie stand lange vor der gepflasterten Grenzmarkierung, ging einige Male hin und zurück, sagte nichts.

„I’m hungry“, verkündete sie schließlich.

„Ich wollte aber erst noch …“, warf Tim ein.

„Ich nicht“, erwiderte sie.

Tim hatte noch in die Reichtagskuppel gewollt. Freilich konnte man den ganzen Tag dorthin, und bei Dunkelheit war das Dreihundertsechzig-Grad-Panorama des erleuchteten Berlin sogar viel eindrucksvoller.

Lisa steuerte auf ein nahes Restaurant mit Namen Tucher zu. Tim hatte hier schon einmal gegessen, gut gegessen, doch es war nicht seine Preisklasse für häufige Besuche. Aber er fügte sich. Lisa bestellte ein Steak mit Salat und stillem Wasser. Wie originell!, dachte Tim. Wie eine Amerikanerin auf Europareise. Am Ende ihres Aufenthalts würde er sie mit allen Tricks zu einem Eisbein mit Erbspüree und Speckstippe überreden. Und Berliner Weiße mit Schuss. Dann konnte sie nach der Heimkehr in ihr amerikanisches McDonald-Paradies wenigstens eine echte Schauergeschichte zum Besten geben.

„Was wusstest du über Grandma Rosie?“, fragte Lisa.

„Alles, was mein Opa mir erzählte“, antwortete er. „Immerhin war ich der einzige Mensch in unserer Familie, mit dem er über sie reden konnte. Der Rest wünschte sie dorthin, wo der Pfeffer wächst. So sagt man auf Deutsch.“

„Sie wünschten sie zur Hölle“, vermutete Lisa. „Sie fanden, Grandma hat eure Familie zerstört. Hat sie das?“ „Zerstört? Ja. Warum nicht?“

Lisa wollte nach dem Essen nicht mehr zum Reichstag, sondern ins Hotel für einen Mittagsschlaf. Tim drängte sie nicht. Das hatte er schon nach einem Tag begriffen, dass sie ihren ganz eigenen Kopf hatte. Und ihren Schlafrhythmus. Er lieferte sie im Hotel ab.

Er bummelte noch ein wenig die Linden hinauf und hinüber zur Oranienburger und die Friedrichstraße hinab, den Weg, den er häufig ging, weil jedes Mal etwas Neues zu entdecken war.

Ich weiß, dachte Tim auf der Höhe des Schiffbauerdamms, an wen mich diese amerikanische Kratzbürste Lisa verdammt erinnert. So war ihre Grandma Rosie gewesen. Eigensinnig.

Dickköpfig. Widerborstig. Und, wie man heute sagt, nicht kooperativ. So hatte Tim sie ja selbst noch kennengelernt in ihren letzten Tagen.

Die richtige Frau

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