Читать книгу Die richtige Frau - Dieter Zimmer - Страница 8

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Für Lisas Besuch mit Lesung und Abendessen hatte sich Tim für Spaghetti mit roter Soße entschieden, nicht zu scharf, geeignet für amerikanische Gaumen. Dazu einen bunten Salat, Salate der Saison sozusagen. Sagte man in Amerika dazu Salads of the Season? Alles in allem etwas leicht zu Machendes, das nach menschlichem Ermessen selbst einem einfachen Spiegeleibrater kaum misslingen konnte. Im Grunde genommen schämte sich Tim vor sich selbst, immer noch ein derart lausiger Koch zu sein. Aber wie sah sein lukullischer Alltag aus? Zum Frühstück Müsli oder nur einen schnellen heißen Kaffee, mittags ein hastiges Mahl in der Kantine oder in einer der Hunderten von Dönerbuden. Abends war er auf Achse durch die Stadien und Sporthallen oder die Kneipen der Hauptstadt. Manchmal schmierte er sich nach Mitternacht zu Hause noch eine Stulle. Wozu sollte er kochen lernen?

Lisa erschien wieder in einem anderen, aber sehr ähnlichen bunten Kleid. Sie hatte Tims Angebot, sie mit dem Auto abzuholen, diesmal ausgeschlagen. Sie wollte selbst mit der U-Bahn fahren, denn sie war der Meinung, ein intelligenter Mensch, der sich obendrein in einem Moloch wie New York zurechtfand, müsse sich in jeder Stadt der Welt zurechtfinden, zumal wenn er die Sprache des Landes beherrschte.

Sie fand die Spaghetti ein wenig zu hart, aber Tim erklärte ihr mit überlegener Geste, acht Minuten im sprudelnden Wasser seien genau nach italienischer Art, auch wenn man vielleicht in Amerika aus den bedauernswerten Spaghetti bleiche, aufgequollene Regenwürmer mache.

„Bist du ein erfahrener Koch?“, fragte sie schnippisch.

„Für amerikanische Verhältnisse ja“, gab er spitz zurück.

Nach dem Essen machte er es gemütlich. Er zündete Kerzen an und öffnete eine Flasche Wein, einen Riesling von der Mosel. Er hatte sich im Supermarkt beraten lassen; man hatte ihm halbtrocken empfohlen, da könne man wenig falsch machen.

„Hast du mir das erste Kapitel wieder mitgebracht?“, fragte er.

„Oh, ich muss dir etwas gestehen. Ich habe es in der U-Bahn liegen lassen.“

„Bravo! Und nun?“, fragte er gereizt.

„Nun ist es weg. Aber du hast es ja in deinem schlauen Computer. Es ist übrigens ziemlich nett beschrieben. Ein richtiger kleiner dummer Junge. Gut getroffen.“

„Wir werden sehen, ob das Mädchen schlauer ist“, erwiderte Tim und schlug sein Manuskript auf, dessen erste Seiten also neu ausgedruckt werden mussten.

„Kapitel zwei!“, begann er ein bisschen feierlich: „Robert stand vor dem Haus von gestern und bibberte vor Aufregung.“

„Moment! Was heißt bibberte?“

„Lisa, hör mal zu!“ Tim nahm sich zusammen. „So können wir nicht verfahren. Du kannst mich nicht bei jedem Wort, das du nicht verstehst, sofort unterbrechen. Du kannst auch nicht vor ein Gemälde von Rubens treten und als Erstes fragen: Dieser Hund da unten in der Ecke, ist das ein Pudel? Es kommt doch auf den Gesamteindruck an. Verstehst du?“

„Bei einem Buch hast du den Gesamteindruck erst ganz zum Schluss. Bei Rubens hast du ihn zuallererst.“

„Ja. Aber so kriegst du ihn jedenfalls nicht.

„Also, erklär mir wenigstens noch, was bibberte bedeutet.“

„Ein bisschen mehr als zittern. Aber nicht so viel wie schlottern.“

„Thank you. I understand.“

Das konnte ja was werden, dachte Tim.

„Darf ich noch mal anfangen?“, fragte er höflich. „Ja? Also: Robert stand vor dem Haus von gestern und bibberte vor Aufregung. Es war sein erstes Rendezvous. Klassenkameraden hatten ihm erstaunliche Geschichten erzählt, von Siegen und Niederlagen im Kampf der Geschlechter. Sogar sein Vater hatte ihm Maßregeln auf den Weg gegeben – für später, wenn es mal so weit sein sollte! Höflich sein. Seinen Namen nennen. Verbeugung machen. Links von der Dame gehen. Und immer Konversation treiben. Ganz egal, worüber. Bloß keine Pausen entstehen lassen. Robert hatte sich ein paar Themen zurechtgelegt: Schule, Ferien, Sport, Olympia. Nichts Politisches, hatte der Vater geraten. In diesen Zeiten! Man konnte ja nie wissen.

Robert hatte lange hin und her überlegt, wie er die Sache mit dem Rendezvous ohne großen Schaden schaukeln sollte. Er hätte einfach beim Frühstück mit schmerzhafter Grimasse vorgeben können, er fühle sich furchtbar schlapp und bezweifle, mit seinen Eltern wieder ins Olympiastadion gehen zu können. Aber dann hätte seine Mutter fürsorglich auf die weiteren Endkämpfe der Leichtathleten verzichtet und wäre zu Hause bei ihrem kranken Kind geblieben. Wie hätte er dann mittags nach Pankow entweichen sollen? Also hatte er sich entschlossen, mit ins Stadion zu gehen und gegen halb elf schlimmstes Bauchgrimmen vorzutäuschen. Auch dieser Plan barg die Gefahr, dass die besorgte Mutter ihn nach Hause begleiten wollte. Oder dass gar der Vater eine medizinische Untersuchung anstellen wollte. Aber mit diesen Risiken musste man leben.

‚Ich habe plötzlich furchtbares Bauchgrimmen‘, sagte er unvermittelt.

‚Sollen wir nach Hause gehen?‘, fragte besorgt die Mutter.

‚Nein, nein! Lass mich ruhig alleine gehen!‘

‚Soll Papa mitkommen und dich untersuchen?‘

‚So schlimm wird’s ja nicht sein‘, winkte der Vater ungehalten ab, und Robert dankte ihm innerlich auf Knien.

‚Wir wollen ja auch die teuren Karten nicht verfallen lassen‘, bemerkte die Mutter. ‚Und wer weiß, wann wieder mal Olympische Spiele in Deutschland sind.‘

Das erlösende Wort kam vom Vater: ‚Tu die Wärmflasche auf den Bauch! Aber verbrüh dich nicht!‘

Robert versprach es. Er ging gemessenen Schrittes, bis er außer Sichtweite war, dann rannte er Richtung Ausgang. Er hörte wieder mal das Stadion aus hunderttausend Kehlen schreien, aber er nahm es …“

Tim blickte auf und sah Lisa den Kopf schütteln.

„Ja, du willst sagen, ein Stadion kann nicht schreien“, gab er zu, „aber das ist dichterische Freiheit. ‚Robert hastete zur U-Bahn-Station. Der Bahnsteig Richtung Stadtmitte war menschenleer. Keiner wollte nach Hause, nicht ausgerechnet jetzt!

Rendezvous! Was für ein Wort! In Deutschland sollte es neuerdings, im Rahmen der Ausmerzung alles Ausländischen, durch ,Verabredung‘ oder ‚Treffen‘ ersetzt werden. Wie langweilig!

Die gelbe U-Bahn schlich endlich heran, so gut wie leer. Robert nahm seinen Stammplatz ein, vorn links neben der Kabine des Fahrers. Er starrte gebannt in die dunkle Röhre, sah Züge entgegenkommen, sah die erleuchteten Bahnhöfe auftauchen, die Menschen erwartungsvoll schauen, als sei eine U-Bahn eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Die Stationen der meisten Linien konnte er auswendig hersagen. Robert war begeistert vom schnellsten, sichersten, zuverlässigsten Verkehrsmittel, wie es sich selbst nannte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Es wurde eng.

Für einen kurzen Augenblick kam ihm der Gedanke an seine Eltern. Hoffentlich waren sie gut damit beschäftigt, deutschen Erfolgen zuzujubeln, sodass sie nicht an ihr armes krankes Kind denken mussten. Ihm war überhaupt nicht wohl. Irgendwann, wahrscheinlich schon in ein paar Stunden, musste seine Lüge platzen. Aber was hätte er tun sollen? Gestehen, dass er ein Rendezvous hatte? Mit zwölf Jahren? Da hatte man noch kein Rendezvous zu haben.“

Lisa lächelte und nickte Tim aufmunternd zu. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und sich gemütlich in die Sofaecke gekuschelt. Manchmal nippte sie in winzigen Schlucken an ihrem Glas. Wein am helllichten Tag schien nicht ihre Gewohnheit zu sein.

„Genau zwei Minuten nach zwei kam Robert hechelnd um die Ecke gerannt. Er hatte sich zu guter Letzt noch am Ausgang des U-Bahnhofs vertan, war zunächst in die entgegengesetzte Richtung gelaufen.

Robert schaute voller Erwartung um sich. Aber nirgendwo war ein strohblonder Schopf zu entdecken. Er blickte nach oben, zu dem Fenster, aus dem gestern der Zettel mit der aufregenden Verheißung geflattert war. Das Fenster war geschlossen. Er hatte den Zettel bei sich und entfaltete ihn noch einmal. Eindeutig: ‚Morgen um zwei.‘ Zwei Uhr nachts konnte sie ja, auch wenn Mädchen alles zuzutrauen war, nicht gemeint haben. Er setzte sich auf einen Mauersockel und verschnaufte.“

„Darf ich doch was dazwischen fragen?“, meldete sich Lisa.

„Wenn’s sein muss.“

„Warum sagst du so Frauenfeindliches wie: Mädchen ist alles zuzutrauen?“

„Das sage nicht ich, das sagt Robert. Mein Protagonist darf das.“

Lisa schüttelte wieder den Kopf und nippte an ihrem Glas.

„Das also, dachte Robert, sollte sein großes Abenteuer sein, sein heiß ersehntes erstes Rendezvous! Vor einem unscheinbaren Wohnhaus in einer unscheinbaren Straße in einer unscheinbaren Gegend von Pankow auf einer Mauer sitzen und seit einer Dreiviertelstunde warten, warten, warten, während ihn immer mehr bedrückte, dass er seine Eltern genasführt hatte. Er ertappte sich dabei, wie er einen Zweig in der Hand hielt und Blatt für Blatt abzupfte, ohne freilich zu denken: Sie kommt. Sie kommt nicht. Sie kommt.

Plötzlich stand sie vor ihm.

‚Hallo!‘, sagte er verdutzt und sprang auf.

‚Auch hallo!‘, antwortete sie und lächelte.

Mit raschen Blicken nahm er ihr strohblondes Haar wahr, die strahlend blauen Augen, die Stupsnase. Es schien, dass sie geringfügig größer war als er. Das war ihm gestern gar nicht aufgefallen. Aber er wollte ja sowieso noch ein großes Stück wachsen.

‚Bisschen spät geworden, was?‘, bemerkte er, gar nicht unfreundlich.

Sie sah ihn erstaunt an: ‚Jedenfalls bist du noch da.‘

‚Aber ich habe lange gewartet.‘

‚Ich musste noch Geschirr abtrocknen.‘

Aber nicht eine Stunde lang, wollte er sagen, aber er schluckte es rasch hinunter.

‚Heißt du irgendwie?‘, fragte sie und strahlte aus ihren blauen Augen.

‚Ich heiße Robert‘, antwortete er rasch und streckte ihr seine Hand entgegen. ‚Ich gehe in die Untertertia und mache Hochsprung. Und du?‘

‚Ich nicht.‘

‚Ich meine, wie du heißt.‘

‚Rosemarie‘, betonte sie stolz.

‚Oh, Rosie!‘

‚Nein, Rosemarie. Das ist ein deutscher Name, den verunstaltet man nicht wie bei den Amerikanern.‘

‚Ist halt ’n bisschen lang.‘

‚Mein Papa sagt immer: So viel Zeit muss sein.‘

Jetzt musste sich Robert, auch wenn er immer noch überrascht war, etwas möglichst Originelles einfallen lassen. Nach der Schule zu fragen, schien ihm ungeeignet. Auch der Beruf des Vaters war höchstens für später mal ein Thema. ‚Keine tolle Gegend hier‘, sagte er.

Sie schaute ihn verwundert an: ‚Lebst du vielleicht in ‘ner Villa am Wannsee?‘

‚Mann, so hab ich’s ja nicht gemeint.‘

Irgendwie, dachte Robert, hatte er Pech mit seinen Gesprächsansätzen. Es musste an der Aufregung liegen, denn an sich hielt er sich nicht für einen dummen Menschen und konnte in der Schule sogar kleinere Referate auswendig vortragen. Aber jetzt spürte er tatsächlich, dass seine Handflächen feucht wurden und sein Puls sich beschleunigte. Er beschloss jetzt doch, mit seiner Konversation auf sicherem Terrain zu verharren.

‚Was macht denn dein Vater?‘ fragte er.

‚Also, was ich mache: Ich gehe aufs Gymnasium, in die Quinta. Und mein Papa‘, fügte sie mit gewissem Stolz hinzu, ‚der ist U-Bahn-Fahrer.‘

‚Oh, das ist ja knorke! Da kannst du ja immer umsonst mitfahren.‘

‚Ich fahre nicht schwarz. Und mein Papa ist außerdem noch Hauswart und wird sogar bald Blockwart.‘

‚O je, solche haben wir auch‘, warf Robert ein und korrigierte sich erschrocken: ‚Die sind natürlich unheimlich wichtig für den Staat in der heutigen Zeit.‘

Es entstand wieder eine halbe Minute Pause, die Robert wie eine halbe Stunde vorkam, indes Rosemarie ihn fragend betrachtete, ein bisschen kess, herausfordernd sogar. ‚Wollen wir nach Mitte fahren?‘, fiel ihm zum Glück ein.

Rosemarie war einverstanden. Robert löste zwei U-Bahn-Fahrkarten für Kinder. Es war ihm selbstverständlich, seine Flamme einzuladen. Er hatte für alle Fälle sein gesamtes Taschengeld für diesen Monat eingesteckt und etwas Erspartes dazu. Er hatte reden hören, Mädchen ließen sich stets und ständig zu allem und jedem einladen. Die Frage, wie lange er diese Belastung durchhielte, ohne pleite zu gehen, kam ihm nur kurz in den Sinn. Im Augenblick hätte er sein letztes Hemd eingetauscht, um Rosemarie etwas Gutes zu tun und ihr zu gefallen.

Robert war glücklich.“

Tim schaute von seinem Manuskript auf. Lisa hatte die Augen geschlossen und lächelte. Wie sagte man dazu? Vielleicht: versonnen? Tim wollte rasch weiterlesen, aber Lisa, als hätte sie nur die Pause abgewartet, hatte eine Frage.

„Robert war verknallt. Glaubst du, auch Rosie war zu Anfang gleich verknallt?“

„Ich glaube nicht“, antwortete er.

„Doch, war sie. Grandma Rosie hat es behauptet. Ich sage dir, wenn eine Zwölfjährige sich verknallt, dann meistens in einen Filmstar oder wenigstens einen Studenten, aber nicht in so einen kleinen Jungen. Aber Grandma hat ihn gleich gemocht. Hat sie mir gesagt.“

„Soll ich weiterlesen?“

Lisa nickte, nippte am Weinglas und schloss wieder die Augen.

„Robert machte blitzschnell einen Plan. Zuerst dachte er daran, einen Spaziergang durch den Tiergarten vorzuschlagen, wo man schön allein war. Aber dort hätte er buchstäblich ohne Pause reden und reden und reden müssen, denn die Bäume gaben nicht viel her als Anregung. Also aussteigen am Alexanderplatz und zum Schloss bummeln und über die Linden bis zum Brandenburger Tor. Da war bestimmt die Hölle los, jetzt, während der grandiosen Tage der Olympischen Spiele.

Robert versuchte Konversation: ‚Lass uns zum Alex fahren. Kennst du übrigens den tollen Roman ‚Alexanderplatz?‘

‚Mein Papa sagt‘, erwiderte Rosemarie, ‚das ist nichts wie linker Schmuddelkram.‘

‚Nichts als‘, verbesserte er.

Sie sah ihn verwundert an: ‚Mein Papa wird’s wohl wissen.‘

Er beschloss, keine Bemerkungen mehr zu machen, die auch nur in entferntester Weise politisch ausgelegt werden konnten. Er hatte von seinen Eltern gelernt, dass man in der Schule und im richtigen Leben entweder mit dem Strom schwimmen oder den Schnabel halten musste. Nun ereilte ihn die neue Erkenntnis, dass diese Regel auch für ein Rendezvous galt. Auf der Höhe des Stadtschlosses versuchte Robert, Rosemaries Hand zu nehmen. Sie zog sie rasch zurück. Aber hundert Meter weiter, auf der Schlossbrücke über die Spree, spürte er zu seiner Verwunderung, dass Rosemarie ihrerseits nach seiner Hand griff. Er nahm sie fest und spürte, wie ein wohliger Schauer durch seinen Körper ging. Er schaute sie an, sie lächelte, er lächelte. Sie blieben am Brückengeländer stehen und schauten in den Fluss, auf dem sich gerade ein Lastkahn unter die Brücke schob. Robert spuckte im hohen Bogen, Rosemarie tat es ihm nach. Sie lachten. Robert war noch glücklicher. Er war jetzt sogar richtig glücklich. ‚Weißt du was?‘, fragte er: ‚Ich möchte dich doch Rosie nennen. Nicht um Zeit zu sparen. Ich finde es einfach schöner. Irgendwie flotter.‘

Rosie willigte nach kurzem Zögern ein.

Sie ließen sich die Linden hinab treiben, hindurch unter ungezählten im lauen Wind flatternden schwarz-weiß-roten Fahnen mit dem Hakenkreuz. Ließen sich einfangen von der festlichen Stimmung, die die Reichshauptstadt ergriffen hatte: Wir! Wir Deutsche! Rosie erzählte, ihr Vater habe schon vor Beginn der Spiele prophezeit, die Deutschen würden die meisten Medaillen gewinnen, weil die anderen ihnen einfach nicht das Wasser reichen konnten. Robert nickte eifrig, denn in diesem Punkt konnte man ja nicht ernsthaft widersprechen. Bloß dieser schwarze Jesse Owens, giftete Rosie, hatte mit seinen Goldmedaillen dem Führer die Laune verdorben.

Robert bemühte sich, Rosie ohne Unterlass mit Geschichten zu unterhalten, die überwiegend aus den abendlichen Tischgesprächen mit seinen Eltern stammten. Er musste dabei aufpassen, um nicht in Fettnäpfchen zu treten. Immerhin war Rosie die Tochter eines demnächstigen Blockwarts!

Er traute sich zu fragen – nur um sicherzugehen –, ob ihre Eltern in der Partei seien.

‚’türlich‘, erwiderte sie. ‚Deine etwa nicht?‘

‚Nee, noch nicht. Wollen aber.‘

Die Olympischen Spiele brachten Robert darauf, zu erzählen, dass er in seinem Leichtathletikverein in Charlottenburg Hochsprung trainierte. Er gab seine Besthöhe nicht an, sie eignete sich auch nicht zum Renommieren. Sein Trainer hatte unlängst sogar gelästert, Robert solle auf Hürdenlauf umsatteln, weil es dort nicht so auf Höhe ankam.

Sie wanderten zurück zum Alex und stiegen in die U-Bahn nach Pankow. Vor dem Haus, dessen Fassade Robert durch die lange Warterei inzwischen vertraut war, reichten sie sich die Hände.

‚Soll ich morgen um dieselbe Zeit kommen?‘, fragte er.

Sie nickte.

‚Soll ich besser gleich ’ne Stunde später kommen oder kannst du vielleicht mal pünktlich sein?‘

Sie nickte.

Robert umarmte sie rasch und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Sie gab ihm eine Ohrfeige.

‚Du Ferkel!‘, rief sie.

‚Wieso denn?‘, fragte er konsterniert.

‚Du wolltest mich knutschen.‘

Robert war immer noch perplex: ‚Aber wir lieben uns doch.‘

‚Ein deutsches Mädchen knutscht man nicht einfach auf der Straße.‘

‚Wo sollen wir denn sonst vielleicht zum Knutschen hingehen?‘, fragte er ratlos. Sie stob davon und knallte die Haustür zu.“

Lisa hatte sich mühsam das Lachen verkniffen, jetzt prustete sie los: „Yeah! This is Grandma Rosie! Sie hat es mir erzählt. Genauso war es. Hey, du bist ein guter Schriftsteller.“

„Danke. Aber warum“, fragte Tim, „hat sie ihm eine gescheuert? Gescheuert, verstehst du? Eine geknallt.“

„Du meinst eine hinter die Löffel?“

„Genau. Ich denke, sie mochte ihn!“

„Natürlich. Deswegen!“

„Sorry, aber das verstehe ich nicht.“

Lisa stieß erst mal mit Tim an und nahm diesmal einen etwas tieferen Schluck aus ihrem Glas.

„Habt ihr in Germany eigentlich auch amerikanischen Wein?“, fragte sie, „aus Napa Valley oder so?“

„Ja, aber hier sind wir in Deutschland. Warum hat sie ihm eine gescheuert?“

„Oh, it’s very easy. Sie war auch verliebt. Da macht man so was. Go on, please!“

Tim schüttelte immer noch zweifelnd den Kopf, aber er fuhr fort in seinem Manuskript.

„In der U-Bahn rieb sich Robert unablässig die Wange, obwohl Rosies Backenstreich keineswegs schmerzhaft gewesen war. Er stand auf seinem gewohnten Platz vorn links und starrte abwesend in die dunkle Röhre. Eigentlich, dachte er, war es keine sehr heftige Ohrfeige gewesen. Als er in Charlottenburg angekommen war und in Neu-Westend ausstieg, hatte sich sein Eindruck verfestigt, Rosie habe ihn nur zärtlich streicheln wollen. Neckisch sozusagen. Mit neuem Mut schritt er heimwärts. Die letzten Meter zu seinem Elternhaus freilich lief er immer schneller, hastete am Ende gar, als hätte er geglaubt, seinen aus dem Olympiastadion heimkehrenden Eltern gerade noch zuvorkommen zu können. Die Wohnung war leer.

Robert schaltete das Radio ein und suchte die Direktübertragung aus dem Olympiastadion. Rasch hatte er die aufgeregte Stimme des Berichterstatters eingefangen, aber er ertappte sich bald dabei, dass er mit seinen Gedanken weit weg war. In Pankow. Irgendwann schlief er auf dem Sofa ein.

‚Na, du kranker Hase?‘, hörte er sagen und fühlte eine warme Hand auf seiner Stirn. ‚Hast aber kein Fieber, was?‘

Robert war rasch auf den Füßen, aber seine Mutter drückte ihn zurück auf das Sofa: ‚Schone dich mal, mein Junge. Möchtest du eine warme Buttermilch mit Honig?‘

Schon diese Vorstellung bereitete ihm Übelkeit, und er schüttelte heftig den Kopf: ‚Es geht schon wieder.‘

Der Vater trat hinzu: ‚Es war wieder ein großer Tag für die Deutschen.‘

Robert nickte.

‚Man kann ja sagen, was man will‘, fuhr der Vater fort, ‚aber so was können sie.‘

‚Ich denke‘, sagte die Mutter, ‚man kann bei uns eben nicht sagen, was man will.‘

Jetzt reden sie schon wieder über Politik, dachte Robert.

Er fühlte sich überhaupt nicht krank. Im Gegenteil, er schwebte wie auf einer Wolke. Rosie hatte ihm aus Liebe einen Backenstreich versetzt und obendrein versprochen, morgen pünktlich zu sein. Alles war wunderbar. Nur das schlechte Gewissen plagte ihn.

Bevor das Abendbrot auf den Tisch kam, schlich er zum Sprechzimmer des Vaters und klopfte leise. Der Vater bat ihn herein. Er saß, wie gewöhnlich um diese Tageszeit, an seinem breiten eichenen Schreibtisch und arbeitete an den Unterlagen seiner Patienten.

Nach einer Weile schaute er auf: ‚Na, geht es wieder?‘

Robert nickte.

Dann nahm er sich bei den Ohren und fragte frei heraus: ‚Sag mal Papa, hattest du schon mal eine Freundin?‘

‚In der letzten Zeit nicht.‘

‚Ich meine früher, als du ein Junge warst.‘

‚Ja. Oft.‘

‚Und wenn du da ein Rendezvous hattest, hast du das deinen Eltern gesagt?‘

‚Nein, natürlich nicht. Die waren ja viel zu alt, um das zu verstehen.‘

‚Aha.‘ Robert wusste im Moment nicht weiter.

‚Wenn ich mit meinen Eltern ins Olympiastadion gemusst hätte‘, schmunzelte der Vater, ‚und hätte gleichzeitig eine Verabredung mit einem Mädchen gehabt, dann hätte ich gesagt, ich fühlte mich krank.‘

Robert spürte, wie seine Ohren rot anliefen.

‚Meinst du, so was kann man machen?‘

‚Nein, natürlich nicht‘, antwortete der Vater. ‚Wie heißt sie denn?‘

‚Wer denn? Ach so, du meinst, wie Rosie heißt.‘

‚Ja, das wollte ich wissen.‘

Robert fiel ein Stein vom Herzen, ein Wackerstein, ein großer Felsblock. Beim Abendbrot hörte er sich mäßig interessiert die Berichte aus dem Olympiastadion an und dachte an morgen vierzehn Uhr.“

Tim schlug sein Manuskript zu, und Lisa klatschte Beifall. Dann begann er den Tisch zu decken fürs Abendessen. Er hatte sich etwas typisch Deutsches ausgedacht: Frutti di mare, Spaghetti aglio olio peperoncini, Tiramisu. Natürlich Chianti und Grappa. Was der kleine italienische Laden um die Ecke aufzubieten hatte und was keine große Kunstfertigkeit verlangte.

Lisa war ehrlich beeindruckt: „Ich hatte fest damit gerechnet, dass du es nicht schaffst.“

Die richtige Frau

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