Читать книгу Mein Wunscherbe. Teil 1: Zwischen zwei Welten - Dietlinde Hachmann - Страница 7
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Schottland – 1938
Meine Mutter hatte mich nicht gerne gehen lassen. Aber ein „behütetes Heim“, wie sie es immer erstrebt hatte, gab es schon lange nicht mehr, nachdem mein Vater 1931, als ich erst zwölf Jahre alt war, im Alter von nur 57 Jahren gestorben war. Es ging uns wirtschaftlich nicht schlecht, denn meine Eltern hatten sich ein, ja, fast möchte man sagen, ein herrschaftliches Haus gebaut, jedenfalls für damalige Zeiten.
4. Gartenansicht Schönebeck
Durch die gute Stellung meines Vaters als Oberpostsekretär, hatte sie mit ihren drei Kindern ein gutes Auskommen. Meine jüngere Schwester Gisela suchte bereits nach eigenen Wegen und ich wollte es ihr gleich tun. Mir wurde mit meinen neunzehn Lebensjahren das Haus, die Umgebung, die Stadt, ja, selbst Deutschland zu klein. Alles erdrückte mich und schien mich am Atmen zu hindern. Ich wollte hinaus und die Welt kennenlernen.
Mit viel Geduld und endlosen Überredungskünsten brachte ich meine Mutter schließlich zu ihrem Einverständnis, mich gehen zu lassen. Sie selber kam auf die Idee, dass ich nach Schottland zu ihrer deutschen Freundin Olga Louise, die dort einen Schotten geheiratet hatte, fahren könnte. Sie wusste mich dort gut aufgehoben und untergebracht. Mir war alles recht, Hauptsache, ich konnte Freiheit spüren! Nicht, dass ich unfrei gewesen wäre, aber meine Mutter liebte uns sehr.
Schließlich drängte ich darauf, dass sie sich schnell mit ihrer Freundin, die ich persönlich noch nicht kennen gelernt hatte und sie nur aus den, in unregelmäßigen Abständen kommenden Briefen kannte, in Verbindung setzen sollte, weil ich das Gefühl hatte, in unserem Zuhause tatsächlich bald keine Luft mehr zu bekommen.
Ihren Wohnsitz in Mussleburgh, der kaum fünfzehn Gehminuten vom Zentrum Edinburghs entfernt lag und von dem sie uns Fotografien geschickt hatte, als sie und ihr Mann es 1929 erwarben, hätte ich eher als Burg, denn als Wohnhaus bezeichnet. Es schien aus gewaltigen Steinquadern erbaut zu sein und wirkte auf mich riesig, dunkel, kalt und eigentlich sogar beängstigend. Uralte, massige Bäume wuchsen in der parkähnlichen Anlage.
Da die Aufnahmen anscheinend im Herbst gemacht waren, ermutigte ich mich mit dem Gedanken, dass es im Frühjahr vielleicht nicht mehr so finster aussehen würde, sondern ganz im Gegenteil: Ich erkannte viele, enorm großwüchsige Rhododendronbüsche, die sicherlich ganz wunderbar blühen, ihren Duft verströmen und das Anwesen romantischer wirken lassen würden.
Außerdem machte ich mir Mut, indem ich mir einredete, dass schließlich die gute Freundin meiner Mutter dort lebte. Ihren Briefen nach zu urteilen, hatte sie einen sehr netten Mann, Dr. Andrew Gold, einen Mediziner, der dort in seinem „Inveresk-House“ nicht nur eine Praxis unterhielt, sondern vor allem eine Art Hotel betrieb, das er „Nature-Cure-Home“ nannte. Dort konnten gut betuchte Damen und Herren der englischen und schottischen Gesellschaft einige Wochen verbringen, um während dieser Zeit und unter ärztlicher Aufsicht, ihre überflüssigen Pfunde abzuspecken.
5. Inveresk House mit Garten
Es gäbe genug Platz für alle und sie würde sich sehr freuen, hatte Olga Louise, kurz Tante Olly, geschrieben, denn sie könnten jede fleißige Hand gebrauchen. Für mich wäre es geradezu ideal, denn ich könnte mir die Arbeit bei ihnen so einteilen, wie ich es brauchte, um nebenher, wie ich es wollte, englische Literatur zu studieren. Und nun hatte meine Mutter, die nach dem Tod unseres Vaters immer besonders ängstlich um uns Kinder besorgt war, endlich zugestimmt.
Ich konnte mein Glück kaum fassen, obwohl ich mich auch immer wieder mit Zweifeln plagte, ob ich mich tatsächlich allein in der fremden Welt zurechtfinden würde. Immerhin war ich noch nie allein und über einen längeren Zeitraum von unserem behüteten Zuhause fort gewesen. Mitunter empfand ich großes Mitleid mit meiner Mutter, die mein Fortgehen als weiteren Verlust empfinden würde. Deshalb wollte ich mich auch mit den Vorbereitungen für die Zeit in Schottland nicht sehr lange aufhalten, um möglichst rasch abzureisen, bevor sie es sich vielleicht doch noch einmal überlegte.
Sie bestand allerdings auf einer adäquaten Ausstattung. Das brauchte seine Zeit und ich wurde immer ungeduldiger. Aus diesem Grund veranlasste ich Tante Olly, meiner Mutter einen Brief zu schreiben, in dem sie bat, mich so bald als möglich kommen zu lassen, da meine Anwesenheit unbedingt erforderlich wäre. Das hatte tatsächlich eine entsprechende Wirkung. Darum saß ich, kaum einen Monat später, am 4. Februar des Jahres 1938 im Wohnzimmer, dem sogenannten „Drawing-Room“ von Tante Olly im „Inveresk-House.“
Natürlich dachte ich, wir müssten uns zunächst viel erzählen, um uns kennen zu lernen. Allerdings sollte sich die Notlüge meiner Mutter gegenüber schnell als Tatsache herausstellen. Tante Olly war zu einer echten Schottin geworden, denn sie geizte nicht nur mit Worten. Sie hatte kaum Zeit, mir Onkel Andrew, ihren Ehemann und ihre Kinder vorzustellen, oder mir die vielen Räume, die Gewohnheiten der Familie, die Aufgaben, ganz zu schweigen von der Gegend, in der sie lebten, zu zeigen. Ich sollte als Au-Pair-Mädchen für ihre beiden jüngsten Kinder, Erika und Douglas, eingesetzt werden und bei Bedarf auch für die Unterhaltung der Gäste sorgen.
Nie wieder habe ich eine Frau kennengelernt, die ein derartiges Geschick hatte, Menschen zu leiten, zu führen und ihnen beizubringen, wie man sparsam wirtschaftet. Es gab keinen Tag, an dem Speisen, die zuviel gekocht, aber einwandfrei waren, nicht noch eine Verwendung fanden. Ich bewunderte das zutiefst und lernte in Hinsicht auf Sparsamkeit dermaßen viel, dass man mich in meinem späteren Leben noch oft genug als „schwäbische Schottin“ bzw. „schottische Schwäbin“ bezeichnet hat, weil ich nie mehr in der Lage war, diesen Gedanken an Sparsamkeit wieder abzulegen.
Meine Eingewöhnung im „Inveresk-House“ dauerte nicht lange. Es geschah fast von allein. Entdeckte mich Tante Olly bei unnützem Tun, erhielt ich eine sofortige Ermahnung mit anschließender Erklärung, wie es anders besser, sinnvoller und – natürlich – sparsamer wäre. Meist war die Erklärung so einleuchtend, dass ich ihr für die Schelte sogar dankbar war. Da sie aber stets in einem recht herrischen Befehlston sprach, ging ich ihr jedoch auch ebenso gern aus dem Wege. Mit Onkel Andrew kam ich leider nur sehr wenig in Kontakt. Er war ein ruhiger, liebenswerter Mann, der sich ganz und gar auf seine Frau verließ und der seine Zeit fast ausschließlich mit und für seinen Beruf als Arzt verbrachte.
Die Freizeit der Herrschaften zu gestalten, die im „Nature-Cure-Home“ zu Gast waren und mit denen ich von Beginn an sofort gut zurecht kam, war nicht schwer, von einigen immer unzufriedenen Gästen abgesehen. Eine meiner ersten Aufgaben war es, Lady Carlington deutsche Dichtungen oder deutsche Geschichten vorzulesen. Sie verstand zwar nicht viel, denn ihr Deutsch war nur mäßig, aber sie mochte den Klang meiner Stimme und versuchte, anhand derselben sowie meiner Mimik und Gestik herauszuhören, um was es sich gehandelt haben könnte. Da wir uns hinterher jedes Mal über den Inhalt unterhielten, war sie zumeist stolz auf ihren Erfindungsreichtum und ihre Erkenntnisse. Schon nach kurzer Zeit gesellten sich einige der anderen Damen und Herren hinzu und so durfte täglich ein anderer versuchen, herauszufinden, um welchen Inhalt einer Geschichte es sich gehandelt haben könnte. Mit Lord Kennedy spielte ich fast täglich eine Partie Schach, mit einigen anderen Damen Bridge und so vergingen die Tage eher mit Müßiggang als mit tatsächlicher Arbeit, denn die Kinder waren derart lieb und angenehm, dass auch die Beschäftigung mit ihnen für mich eher eine Freizeitbeschäftigung war.
So vergingen die ersten Wochen im Nu und es bereitete mir viel Freude, mit den, zum größten Teil sehr gebildeten Menschen, Konversation zu betreiben, wobei ich stetig meine Englischkenntnisse erweiterte. Das gesamte Ambiente war geradezu prädestiniert, um sich in weit zurückliegende Zeiten zu versetzen.
Das, was ich in Deutschland noch etwas ängstlich als dunkle Burg bezeichnete, war ein imposanter, im 16. Jahrhundert errichteter Bau auf ungefähr eintausend Morgen Land, mit vielen interessanten Vorbesitzern und berühmten ehemaligen Gästen wie Oliver Cromwell, die Duchess of Atholl, der Earl of Wemyss, der Lord Adam Gordon und viele mehr. Der Duke und die Duchess von York pflegten (ca. 1745) dort zu speisen, wenn der Duke, als Beauftragter von König Charles II., in Holyrood Gericht hielt.
Das gesamte Anwesen war umschlossen von einer ungefähr drei Meter hohen Mauer aus Felssteinen, die nur durch eine große Pforte unterbrochen war: Durch diese gelangte man, vorbei am Gärtnerhaus, auf Kies-knirschendem Weg durch den Park zum Haupteingang. Oberhalb der Tür war in großem Rundbogen „In Hoc Domo Nemo Nisi Veritas et Pacis Studiosus Intrabit“ eingeschnitzt. „Niemand soll dieses Haus betreten, der keine friedvollen und wahrheitsliebenden Absichten hat“, heißt es. Dieser Spruch hat mich immer sehr beeindruckt. Alles in allem hatte ich ein ehrfürchtiges Gefühl in Anbetracht der Geschichte dieses Hauses; und wenn man – wie ich – zum Träumen neigt, dann hing man oft seinen Gedanken nach, die sich vor hunderten von Jahren hier abgespielt haben mochten.
Nach einer kurzen Eingewöhnung immatrikulierte ich mich für englische Literatur an der Universität in Edinburgh, wo ich sehr schnell die Bekanntschaft anderer Studentinnen machte, die mir rieten, Mitglied des British Council Clubs zu werden. Von außen wirkte dieser Club wie ein ganz normales Haus. Nur ein kleines Schild an der Vorderseite deutete auf seine tatsächliche Verwendung hin. Es diente als Treffpunkt der Studenten. Wir konnten dort Radio hören, Zeitungen aus aller Welt lesen, diskutieren, uns amüsieren und natürlich auch in Ruhe den – in England, bzw. Schottland – obligatorischen Tee trinken. Ein Ort des „SichKennenlernens“.
6. Cosmopolitan Clubkarte
Bereits einige Wochen später kam es mir so vor, als hätte ich niemals woanders gelebt. Alles war so selbstverständlich. Ich war derart warm und lieb überall aufgenommen worden, dass sich meine Mutter bald beschwerte, weil mir kaum Zeit blieb, um ihr von allem Erlebten zu berichten.
Eines Nachmittags, nachdem ich mich mit einer neuen Bekannten im Club getroffen hatte und wir angeregt über ein Gedicht des indischen Poeten Rabindranath Tagore philosophierten, stand er da.
7. Studenten Edinburgh 1938
Das Wort blieb mir im Halse stecken, meine Augen waren auf ihn, auf seine Augen gerichtet und ich nahm nichts mehr wahr, was um mich herum geschah. Kein Laut, kein Geräusch, kein Gespräch, kein Gesicht, nichts. Ihm musste es genau so ergangen sein, denn er stand ruhig, bewegte sich nicht, sprach nicht mehr mit seinen Bekannten, er schaute nur auf mich, in meine Augen. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange das Ganze gedauert hatte, mir kam es vor, als seien Stunden vergangen, aber schließlich spürte ich doch, dass mir meine Bekannte die Hand tätschelte und ich aus weiter Entfernung hörte, wie sie meinen Namen rief: „Lieselotte, hallo, wo bist du, geht es dir gut? Was ist los? Antworte mal!“
Ich schüttelte meinen Kopf, so, als müsste ich einen wunderschönen Traum abschütteln. Als ich jedoch wieder in die Richtung schaute, stand er noch immer da. Nichts hatte ich abgeschüttelt. Was war das bloß? Noch nie vorher war mir so etwas geschehen. In Sekundenschnelle rasten mir die Gedanken durch den Kopf: Mein Gott. Ich hatte doch bereits viele Inder hier gesehen.
Anfänglich hatte ich mich gewundert, dass es so viele davon gab, die alle hier studierten, bis man mir erklärte, dass die indischen Eliteschüler aus reichen Elternhäusern, meist waren es Brahmanenfamilien, es vorzogen, ihre Söhne in Schottland studieren zu lassen, da die Universitäten einen ausgezeichneten Ruf genossen.
Was hatte er aber an sich, dass ich nicht wegschauen konnte? War es die dunkle Brille, die ihn so streng, so unnahbar wirken ließ? Nein, die Strenge war es nicht, er wirkte anders, aber wie, wie? Er wirkte, als stünde er ruhig, gelassen, vielleicht ein wenig arrogant, über uns allen. Faszinierend. Noch immer war sein Blick nicht von mir gewichen. Allerdings war das Tätscheln auf meiner Hand stärker geworden: „Lieselotte, was ist mit dir? Sag’ doch etwas. Hallo?“
Ich drehte den Kopf zu meiner Bekannten um und begann ein wenig stotternd zu erklären, dass mir gerade etwas ganz Wichtiges eingefallen wäre, das ich jedoch vergessen hätte und nun müsste ich mich rasch verabschieden, um das Versäumte zu holen. Noch bevor sie antworten konnte, war ich aufgestanden, schnappte meine Bücher, die Jacke und drängelte mich an „ihm“ vorbei, wobei ich mich entschuldigen musste, weil ich mit meinen Büchern an seinen Arm gestoßen war. Selbst meine Entschuldigung brachte ich nicht normal heraus. Es klang, als hätte ich eine schreckliche Erkältung, denn meine Stimme war rau und heiser. Wahrscheinlich nickte er mir deshalb, die Verzeihung annehmend, etwas mitleidig zu und dennoch blickten seine Augen fragend, oder nein, sie blickten überrascht, oder traurig? Ich wusste plötzlich gar nichts mehr. Wahrscheinlich war er ein Yogi, der mich in irgendeiner Weise zu verzaubern verstand. „So ein Unsinn“, fuhr es mir sofort durch den Kopf, aber es gelang mir nicht, meine Gedanken zu ordnen. Es war etwas geschehen und das hatte mit ihm zu tun. Aber was war das?
Was hatte er gemacht, dass ich – wie irr – durch den Tea-Room in Richtung Ausgang ging, aber die Haustür nicht fand? Ich machte vor der Treppe, die ins obere Stockwerk führte, halt und hielt mich kurz am Treppengeländer fest, um wieder zu mir zu kommen, mich zu orientieren. Anscheinend hatte ich Fieber. Mein Kopf dröhnte, meine Augen brannten wie Feuer. Ich legte meinen Kopf auf den Arm und schloss für einen Moment die Augen. Tatsächlich quollen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Das war das Zeichen: Ich musste sofort zu Onkel Andrew und ihn um eine Medizin bitten, damit ich am nächsten Tag wieder fit sein würde. Daraufhin drehte ich mich um und blieb schon wieder wie angewurzelt stehen: Er stand da und sah mich an. Im selben Augenblick wusste ich, was mit mir geschehen war.
Ich hatte mich verliebt. Das war mir noch nie passiert. Das hatte ich noch nie erlebt. Bislang hatte ich kein Interesse am anderen Geschlecht gehabt, fast, als gäbe es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Alle Männer waren Brüder, Väter oder Onkel. Aber es gab keinen Zweifel. Diese Tatsache war so sicher, als hätten wir unser bisheriges Leben nur damit zugebracht, uns gegenseitig zu finden. Ich war mir unglaublich sicher. In seinen Augen war deutlich zu lesen: Du bist es. Wahrscheinlich stand dasselbe in meinen Augen. Unmittelbar nachdem mir das klar wurde, nickte ich mit dem Kopf, um mir selber zu bestätigen, dass ich ihn, ohne ihn gesucht zu haben, gefunden hatte. Auch er nickte und wir wussten beide, warum. Wir brauchten es nicht auszusprechen. Es hatte kein Suchen gegeben. Er war da, ich war da. Das war genug, es war hundertprozentig.
Als er sich schließlich vorstellte, verstand ich seinen Namen nicht, obwohl er ein wunderbares Englisch sprach. Ich fragte dreimal nach, aber ich meinte, er würde stottern, sobald er seinen Vornamen aussprach. Ich verstand ihn nicht. Als er mir dann jedoch sagte, seine Freunde und Eltern würden ihn „Deboo“ nennen, war schon klar, dass auch ich ihn nicht anders rufen würde. Sein Nachname war dagegen recht einfach auszusprechen: Chatterjee.
Auch er hatte mit meinem Vornamen Schwierigkeiten. „Lieselotte“ war zu kompliziert, zu ungewohnt für ihn, deshalb kürzte er ihn kurzerhand auf „Liese“ ab, wobei es zeitlebens bleiben sollte.
Die folgenden Monate verbrachten wir in einer nie erlebten Faszination voll Harmonie und Gleichklang. Natürlich ging jeder seinem Studium nach und ich erledigte auch weiterhin meine Arbeiten im „Inveresk-House“. Jede freie Minute aber widmeten wir uns. Inzwischen hatten sich längst feste Freundschaften untereinander ergeben, eine Clique, die sich meist für diverse Veranstaltungen zusammenfand. Wir gingen ins Kino und diskutierten anschließend stundenlang über den Inhalt, das Für und Wider, das Gute und das Schlechte. Der Gesprächsstoff nahm nie ein Ende und jedes Mal rissen wir uns geradezu auseinander, weil am nächsten Morgen – ohne Erbarmen – der Wecker klingelte und die Nacht zu Ende ging und stets zu kurz war.
Deboo und ich schienen in fast allen Meinungen gleich, die Ansichten waren gleich, die Vorlieben waren die gleichen. Hatte ich eine Idee, was ich gerne am Wochenende unternehmen wollte, so konnte ich sicher sein, dass er mit demselben Vorschlag an mich herantrat. Wie oft mussten wir über derlei Einklang lachen. Einzig in körperlicher Nähe wichen wir ein wenig auseinander. Ich fühlte mich stark zu ihm hingezogen und hätte mich gerne beim Spaziergang in seinen Arm gehängt, oder wäre Hand in Hand mit ihm gegangen oder hätte mitunter alles dafür gegeben, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen. Der Anstand und natürlich meine eigene Scheu hielten mich jedoch davon zurück. Aber ich fand immer wieder eine Gelegenheit, ihn kurz zu berühren. So kurz, dass auch er nicht merkte, oder bemerken wollte, dass es Absicht war. Jedes Mal fühlte ich mich, als hätte ich einen Stromstoß versetzt bekommen, meine Haut begann zu kribbeln, es fror mich und gleichzeitig meinte ich zu verbrennen. Deboo schien das alles ebenso zu genießen wie ich, aber es gab keinen Kuss, kein Händchenhalten und dennoch war es eine solche Übereinstimmung und Harmonie, die kein Zweifel daran ließ, dass wir zusammengehörten.
Tante Olly hatte längst bemerkt, dass sich „etwas anbahnte“, aber sie sprach mich nicht darauf an, da ich weder meine Arbeiten im Hause, noch mit den Kindern und den Gästen vernachlässigte und auch meine Studien mit Freude betrieb. Nur einmal stand ich vor dem Problem, mich für den Ungehorsam ihr gegenüber zu entscheiden. Deboo wollte eine kleine Party veranstalten. Er hatte vor, selbst indische Speisen zuzubereiten und lud deshalb einige Freunde und auch mich ein. An diesem Abend wollte allerdings auch Lord Kennedy unbedingt wieder mit mir Schach spielen. Ich war hin- und hergerissen, nicht vor Entzückung, sondern viel eher wegen einer Entscheidung.
Fast täglich wollte der alte Herr mit mir Schach spielen, deshalb meinte ich, es wäre wohl einerseits nicht so schlimm, wenn ich es einmal ausfallen ließe. Andererseits aber war ich mir ganz sicher, dass Tante Olly es auf keinen Fall erlaubt hätte, das Schachspiel abzusagen, nur weil ich mein Vergnügen haben wollte. Heimlich am Abend wegzuschleichen, war ganz und gar ausgeschlossen. Der Kiesweg vom Haupttor zur Eingangstür führte direkt unter dem Schlafzimmerfenster Tante Ollys entlang. Jeder Schritt auf diesem Weg knirschte derart laut, dass ich mein Kommen oder Gehen auch gleich per Fernruf hätte ankündigen können.
In dieser Notsituation erinnerte ich mich allerdings an eine Unterhaltung zweier Dienstboten, die ich zufällig angehört hatte. Demnach gab es nicht nur das große Haupttor mit dem Gärtnerhaus, sondern irgendwo am entgegengesetzten Ende des Grundstückes musste es einen weiteren Durchgang geben, der mir aber bis dahin nie aufgefallen war und ich mich auch bis dato nicht dafür interessiert hatte. Nun änderte sich das aber und ich ging am nächsten Tag mit den Kindern in diese Richtung zum Spielen. Überrascht war ich, dass das Tor keineswegs – wie ich vermutet hatte – irgendwo versteckt im Gebüsch zu finden gewesen wäre, sondern ganz frei zugänglich war. Ich entdeckte, dass sich ein gewaltig großer Schlüssel am Innenpfosten des Tores befand. Ich musste also nur darauf achten, dass dieser Schlüssel an seinem Ort hing, wenn ich das Grundstück unbeobachtet verlassen wollte. Hier gab es keinen Kies, sondern nur weiches, saftiges Gras, also würden mich meine Fusstritte nicht verraten. Auch war es weit genug von Tante Ollys Schlafzimmer entfernt, es dürfte also keine Schwierigkeiten geben.
Am nächsten Tag erkundete ich ferner, dass ich den Ausgang über den Wintergarten nehmen müsste, da dieser nur tagsüber geöffnet war und nicht als ständiger Eingang genutzt wurde. Auch hier hing der Schlüssel neben der Tür. Es schien alles ganz einfach zu sein. Der Charmeur und Gentleman, Lord Kennedy, würde mich vielleicht vermissen, aber schließlich würde er sich gewiss anderweitig zu beschäftigen wissen.
Der Tag rückte näher und noch immer überlegte ich, ob ich es wagen konnte und ich mich trauen würde, ohne Tante Ollys Einverständnis das Haus zu verlassen. Schließlich aber war es so weit. Ich war sehr nervös und fahrig, denn eigentlich gefielen mir derartige Eskapaden überhaupt nicht. Aber eine Einladung Deboos abzuschlagen, war ganz ausgeschlossen. Nach dem Fünf-Uhr-Tee, der für gewöhnlich im Wintergarten gereicht wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihn abzuschließen und den Schlüssel an mich zu nehmen. Ich wollte unbedingt sichergehen, dass keiner der Angestellten an diesem Abend ein ähnliches Vorhaben geplant hatte und ich aus dem Grunde nicht mehr in den Besitz des Schlüssels gelangen würde.
Nachdem das gut geklappt hatte, wurde ich etwas ruhiger und konnte nun den Rest meiner Arbeiten erledigen. Gegen zwanzig Uhr verließ ich, unbemerkt von allen, über den Wintergarten das Haus. Den Schlüssel versteckte ich draußen in einem Gebüsch, damit ich ihn nicht mit mir zu tragen brauchte. Ebenso verfuhr ich mit dem gewaltigen Schlüssel des kleinen Seitentores, da er bestimmt zwei Pfund auf die Waage brachte. Anschließend eilte ich, so schnell ich konnte, zur Party Deboos.
Sie warteten bereits auf mich, denn das Essen war fertig. Sogleich wurden viele Platten mit allerlei Köstlichkeiten aufgetragen. Gemüse, auf verschiedene Arten zubereitet, Reis, so herrlich, wie ich ihn noch nie gegessen hatte, verschiedene Fleischsorten, etliche verschiedene Saucen und noch manches mehr, das ich nicht kannte. Alles duftete derart würzig und appetitlich, dass mir das Wasser im Munde zusammenlief. Überall brannten Kerzen, und auch Räucherstäbchen waren entzündet, deren Duft sich mit dem der Speisen mischte und dem Raum eine warme, urgemütliche Atmosphäre verlieh.
Deboo empfahl mir, von allem ein wenig zu probieren und bei der einen oder anderen Speise aufzupassen, weil sie besonders scharf gewürzt war. Ich beobachtete die anderen Inder, wie sie geschickt mit den Fingern kleine Reiskugeln formten, um sie blitzschnell in den Mund zu schieben. Ich wollte es ihnen gleichtun, aber meine Versuche scheiterten. Selbst als Deboo es mir zeigte, gelang es nicht gut. Deshalb erhielt ich eine Gabel, was mir allerdings sehr unangenehm war. Als ich jedoch sah, dass Margret, eine Kommilitonin, ganz ungeniert ebenso mit der Gabel aß, war mein Appetit größer als die Schmach, nicht mit Fingern essen zu können, was sich ja eigentlich recht einfach anhört. Ich nahm mir vor, zu Hause das Essen mit Fingern zu üben.
Leise hörte ich Musik im Hintergrund, wie ich sie noch nie gehört hatte. Klagende, wehmütige Töne, verschmolzen mit einigen immer wiederkehrenden frohlockenden Melodien. Ich war wie verzaubert. Es machte mir Mühe, mich mit den anderen zwanglos zu unterhalten, denn es war für mich viel schöner, einfach nur diese Momente der Harmonie in mich aufzusaugen. Diesen Abend würde ich nie vergessen, das stand schon jetzt felsenfest.
Leider geht auch der schönste Tag einmal zu Ende, so auch dieser. Deboo ließ es sich allerdings nicht nehmen, mich nach Hause zu begleiten. So gingen wir bald schweigend nebeneinander her. Ich spürte, dass er mich immer wieder aus den Augenwinkeln beobachtete und wenn ich ihn ansah, lächelte er mich, wissend und geheimnisvoll, an. Wir brauchten nicht zu sprechen, jedes Wort hätte diese wundervolle Stimmung zerstört.
Schließlich standen wir vor dem Seitentor und ich zerrte den riesigen Schlüssel aus dem Versteck. Als Deboo das sah, begann er so herzhaft zu lachen, wie ich es von ihm noch nie gehört hatte. Ich glaube, er hatte noch nie einen derart gewaltigen Schlüssel gesehen und ich musste wohl ein sehr merkwürdiges Bild abgegeben haben. Unter Lachen steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete das Tor. Als ich mich umdrehte, erschrak ich leicht, denn er war plötzlich direkt vor mir. Wir standen uns ganz eng gegenüber und sahen uns ernst, aber sehnsüchtig nacheinander verlangend an. Schließlich streckte er vorsichtig die Hand aus und streichelte mein Haar, als wollte er ausprobieren, wie sich blondes Haar anfühlte. Dann blickte er verlegen zu Boden und murmelte einen Abschiedsgruß. Ich war wie gebannt, aber entgegnete seinen Gruß. Lang blickte ich der langsam in der Dunkelheit verschwindenden Gestalt nach. Aber am liebsten wäre ich ihm hinterher gelaufen.
Allerdings hängte ich den Schlüssel dann doch an seinen Platz und ging nachdenklich über das weiche Gras zum Versteck des Wintergartenschlüssels. Das Haus lag ruhig, nirgends brannte ein Licht. Hätte der Mond nicht ab und zu hinter den dunklen Nachtwolken hervorgeleuchtet, so wäre es nicht einfach gewesen, den Schlüssel zu finden und ihn fast geräuschlos ins Schloss zu stecken. Es ging aber völlig komplikationslos. Den Weg durch den Wintergarten kannte ich wie im Traum, ich benötigte kein Licht.
Ich war fast an der Tür, da hörte ich die Stimme Tante Ollys hinter mir: „Die Nacht ist nicht mehr lang, Lieselotte. Ich glaube nicht, dass du genügend Schlaf bekommen wirst.“
Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen! Am Abend hatte ich vor Angst gebibbert das Haus zu verlassen und entdeckt zu werden und nun, da alles ganz sicher schien und ich an Entdeckung überhaupt nicht mehr gedacht hatte, da geschah es.
„Tante Olly, ich äh …“
Ein dicker Kloß steckte mir im Hals und ich schluckte, aber mir fiel einfach nicht ein, was ich denn nun sagen sollte. Sie sprach aber ganz ruhig weiter: „Ich habe für dich die Verantwortung übernommen und deiner Mutter versprochen, gut auf dich aufzupassen. Bislang hatte ich auch keine Bedenken, denn du bist vernünftiger, als manch’ Andere. Meinst du, dass ich mir nun Sorgen machen sollte?“
Ich hatte mit einem Donnerwetter gerechnet, mit Vorwürfen und mit Anschuldigungen, wenn ich ertappt werden würde, aber nicht mit einer Tante Olly, die voller Verständnis und Vertrauen war. Deshalb entschuldigte ich mich bei ihr und versicherte, dass ich mich nie wieder heimlich davonschleichen wollte. Inzwischen hatte sie eine Kerze angezündet und im Schein des schwachen Lichtes sah ich, dass sie einen Morgenmantel anhatte und dicke Strümpfe, denn im Haus war es oft ziemlich fußkalt.
Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche besten schottischen Whiskys. Ich wunderte mich, dass es niemand abgeräumt hatte und wollte bereits danach greifen, aber sie sagte: „Lass’ nur, Kind. Ich glaube, wir sollten einmal gemütlich miteinander sprechen.“
Daraufhin schenkte sie in beide Gläser etwas Whisky ein und gab mir dann eines davon. Die Gläser klirrten beim Anstoßen leicht. Tante Olly lehrte das Glas in einem Zug. Das hatte ich vorher noch nie gesehen und war deshalb ziemlich überrascht. Dann roch ich zunächst vorsichtig in das Glas hinein, stellte fest, dass es gut roch, nahm auch einen winzigen Schluck, aber es entsprach nicht meinem Geschmack. Ich hustete schon bei diesem kleinen Schluck und meine Augen tränten. Das beachtete sie aber gar nicht, sondern forderte mich auf, das Glas leer zu trinken, um es gleich wieder zu füllen. Freundlich, aber bestimmt bat sie, mich zu setzen.
Als ich erwachte, war es spät am Morgen. Tante Olly hatte veranlasst, mich ausschlafen zu lassen. Das war eine wunderbare Idee und ich war ihr sehr dankbar. Trotzdem brummte mein Kopf wie ein Bienenschwarm und mir war elend zumute. Der Whisky. Deshalb zog ich mir die Decke wieder über den Kopf und wollte die Sonnenstrahlen ignorieren, die durch die schweren Vorhänge fielen, weil ich sie recht unordentlich zugezogen hatte. Ich hatte sie zugerissen, zugeschleudert, weil ich wütend war. Wütend, aber eigentlich auch traurig. Jetzt kam es mir wieder in den Sinn. Nachdem ich gestern Abend den Rest meines Whiskys ausgetrunken hatte, begann Tante Olly zu sprechen.
Irgendwie hatte sie in Erfahrung gebracht, dass Deboo und ich mehr als nur Freundschaft füreinander empfanden. Sie versuchte gar nicht, mir diese Freundschaft zu verbieten, mir eine Ausgangssperre aufzuerlegen oder gar in Erwägung zu ziehen, mich zurück nach Deutschland zu schicken. Nein, sie erklärte mir die Tradition der Brahmanen. Zumindest das, was sie in Bezug auf mich für wichtig hielt.
„Inder“, begann sie ihre Erklärung, „unterliegen einem Kastensystem. Das ist eine streng geordnete gesellschaftliche Hierarchie, die seit Jahrtausenden existiert. Du sagtest, dein Verehrer heißt mit Nachnamen Chatterjee? Ich kenne zwar nicht alle Bedeutungen, aber wenn die Namen mit ‚-jee‘ enden, ist das meist ein Zeichen dafür, das es sich um einen Brahmanen handelt. Brahmanen sind Mitglieder der obersten Kaste und genießen das höchste Ansehen. Sie sind streng an ihre Traditionen gebunden. Ihre Religion ist der Hinduismus.
Es ist nicht einfach zu erklären, Lieselotte, aber ich möchte, dass du verstehst, worauf du dich eventuell einlässt und was das zu bedeuten hätte. Ich kann dir nur einen kleinen Einblick geben, der dich das Wichtigste vielleicht verstehen lässt.
Die Hindus glauben an die Wiedergeburt in niederer oder höherer Form. Aus diesem Grund wird jedem Kind von Lebensbeginn an beigebracht, dass er seine religiösen und ethischen Pflichten in seiner Kaste unbedingt zu befolgen hat. Andernfalls könnte er unter Umständen den sozialen Schutz dieser Kaste verlieren, was für den Hindu, der an die Wiedergeburt glaubt, bedeutet, dass seine unsterbliche Seele im nächsten Leben in der Gestalt des Angehörigen einer niedrigeren Kaste, vielleicht sogar als Tier, wieder geboren wird. Ziel des Hinduismus ist jedoch, der Seele Ruhe zu geben, ins Nirwana zu gelangen, um vom Gesetz des Karma, den ständigen Wiedergeburten, frei zu werden.“
„Du weißt aber auch“, entgegnete ich, „dass ich nicht streng religiös erzogen worden bin. Bei uns herrschte in dieser Beziehung große Meinungsfreiheit und eine ebensolche Toleranz in Glaubensfragen. Was du mir gerade über den Hinduismus erzählt hast, ist im Grunde genommen nichts anderes als bei uns Christen: Auch wir versuchen, durch vorbildliches Leben im Hier und Jetzt und durch unseren Glauben an Gott, in den Himmel zu gelangen.“
„Das ist richtig“, erwiderte Tante Olly und holte dabei tief Luft. „Oberflächlich betrachtet sieht es zunächst so aus, als seien der Hinduismus und das Christentum sehr unterschiedlich. Ich sehe das aber etwas anders.“
Staunend hörte ich ihr zu, während sie mir ihre Ansicht dieser beiden Religionsformen erklärte. Ich hatte keine Ahnung, dass sie bei all ihrer Arbeit auch noch die Zeit fand, sich mit Weltreligionen zu beschäftigen. Bislang kannte ich nur Menschen mit evangelisch-lutherischer bzw. römisch-katholischer Konfession. Deshalb lauschte ich ihren Ansichten andächtig, bis ich ihr schließlich entgegnete: „Aber dann spielt es doch keine Rolle, ob er Hindu ist und ich Christin, wenn die Religionen sich ähneln. Jeder kann doch seiner eigenen Entsprechung folgen.“
„Das war es, was ich dir eigentlich mit all dem sagen wollte. Erinnerst du dich? Ich habe dir doch erklärt, dass den Hindus von frühester Kindheit an gelehrt wird, die gesellschaftliche Hierarchie ihrer Kaste, mit allen dazugehörigen Bräuchen, einzuhalten und zu befolgen. Sie sind sehr traditionell.
Zu diesen Bräuchen gehört es unter anderem auch, dass Eltern ihren Kindern geeignete Ehegatten aussuchen – und das bereits in ganz jungen Jahren. Die Kinder haben dabei kein Mitspracherecht. Es geht nur darum, durch eine hervorragende Verbindung der Kinder weiterhin für Ruhm und Ehre innerhalb der Familien zu sorgen. Die Kinder werden jung einander versprochen und heiraten später.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte ich erschaudernd. Ich ahnte aber bereits, dass auch Deboo einer indischen Frau versprochen worden war. Sie nickte mit dem Kopf, weil sie wusste, dass ich begriffen hatte. Fassungslos starrte ich vor mich hin, denn eigentlich hätte ich es wissen müssen, wenigstens hätte ich es merken müssen. Es war doch so naheliegend. Es war keine Scham, keine kavaliersmäßige Zurückhaltung. Es war ganz einfach: Er war versprochen und durfte, konnte, wollte oder sollte mich nicht berühren. Deshalb war er mehr oder weniger vor mir geflüchtet.
Als ich spürte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, rannte ich los, schleuderte in meinem Zimmer die Gardinen zu, entkleidete mich hastig und warf mich dann ins Bett, um nur noch zu weinen und in einen unruhigen Schlaf zu fallen, aus dem ich erwachte, als die Sonnenstrahlen versuchten, mich an der Nase zu kitzeln.
Monate waren vergangen. Zunächst hatte ich versucht, dass Deboo und ich uns nicht mehr sahen. Das war aber nur sehr schwer machbar. Überall begegneten wir uns. Nach wie vor gingen wir zu denselben Veranstaltungen. Es war allerdings unübersehbar, dass wir beide versuchten, nie miteinander allein zu sein. Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, ihm nur freundschaftlich zu begegnen. Aber wo war der Unterschied? Wir hatten vorher keinen körperlichen Kontakt und danach auch nicht und trotzdem zog es uns zueinander. Das war keine Einbildung. Es konnte auch nicht anders sein, obwohl wir nicht darüber sprachen, dass es ihm genauso erging. Alles, einfach alles, jedes Wort, jeder Blick, jede Geste deutete darauf hin, dass wir uns beide zwangen, uns nicht gegenseitig zu verschlingen. Aber jeder hielt sich zurück. Mitunter war es kaum noch erträglich.
Eines Tages, ich hatte den Tag mit Deboo und mehreren anderen Freunden und Bekannten im Botanischen Garten von Edinburgh verbracht, rief mich Tante Olly zu sich. Ihr Gesicht verriet, dass etwas geschehen sein musste. Nachdem wir Platz genommen hatten, nahm sie einen Brief zur Hand. Ich erkannte sogleich die Handschrift meiner Mutter und vermutete Schlimmes. Sie gab mir den Brief aber nicht, sondern sagte: „Lieselotte, deine Mutter hat geschrieben. Die Lage in Deutschland ist ernst und scheint sich immer mehr zuzuspitzen. Sie befürchtet, dass es Krieg gibt und möchte, dass du sofort nach Hause kommst.“
Als sie das Wort „Krieg“ aussprach, überkroch mich ein eiskalter Schauer. Das wäre furchtbar, wenn tatsächlich ein Krieg ausbrechen würde. Niemand wollte ihn. Und jetzt fürchtete meine Mutter, es könnte doch einen geben?
Ich war verwirrt. Einerseits hatte ich große Angst, nach Deutschland zurückzugehen. Die Enge, die ich vor meinem Weggang gespürt hatte und an die ich hier gar nicht mehr dachte, käme wieder, außerdem schnürte mir die Angst vor einem Krieg geradezu die Luft ab. Aber ich konnte doch auch meine lieben Daheimgebliebenen nicht alleine lassen. Andererseits hatte ich schon oft darüber nachgedacht, wie es wohl sein würde, wenn Deboo demnächst sein Studium beendet hätte und er zurück nach Indien ginge. Den Gedanken hatte ich jedes Mal schnell wieder von mir gewiesen, denn ich wollte jede Minute genießen, die wir zusammen waren. Nun aber musste ich sofort zurück und aus dem Grunde würde es einen schnellen, einen sehr schnellen und wohl auch einen sehr kurzen Abschied geben. Vielleicht war das besser, als einen langen und deshalb qualvollen Abschied. War das unser Ende?
Während sich Tante Olly um meine Rückpassage kümmerte, erledigte ich die notwendigen Formalitäten an der Universität. Anschließend machte ich mich auf den Weg zum British Council Club. Dort würde ich wahrscheinlich alle Freunde und Bekannten treffen, ganz gewiss auch Deboo. Wie erwartet, traf ich sie im Tea-Room beim Five o’clock tea an. Ich musste ein sehr betretenes Gesicht gemacht haben, denn ich wurde sofort nach dem Grund meiner Missstimmung gefragt.
Nachdem ich alles erzählt hatte, war es mucksmäuschenstill geworden. Man hatte das Gefühl, als wäre es erst jetzt jedem so richtig bewusst geworden, wie ernst es war. Natürlich hatten wir immer wieder über die Lage diskutiert. Die meisten von uns aber glaubten nicht an einen Krieg, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnten, dass es Menschen gibt, die Kriege wollen. Wir fühlten uns „da oben“ in Schottland so sicher und so fern von politischen Ereignissen in Deutschland, dass wir gar nicht richtig gemerkt hatten, wie sich die Situation tatsächlich zugespitzt hatte. Nun hing das Ganze plötzlich wie das Schwert des Damokles über uns und niemand wagte, sich zu rühren. Jeder hing seinen Gedanken nach. Wir wurden erst durch neu Hinzugekommene von unserer Lähmung befreit.
Diese Gelegenheit nutzte ich, um mich von jedem zu verabschieden. Es waren auch ein paar Deutsche darunter, die aber noch nicht von zu Hause aufgefordert worden waren, zurückzukommen. Niemand ahnte, dass es nur ein paar Wochen später keiner Aufforderung mehr von zu Hause bedurfte, denn sie wurden alle des Landes verwiesen. Der Abschied von ihnen war besonders merkwürdig, fast könnte man sagen, er war peinlich.
„Viel Glück“, wünschten wir uns und, „Alles Gute für die Zukunft“, und vieles mehr. Es war kein fröhlicher Abschied und als die Reihe schließlich an Deboo war, konnte ich meine Tränen nicht mehr halten. Ich weinte hemmungslos und dieses Mal nahm er mich in seine Arme und versuchte, mich zu trösten. Mich konnte aber niemand trösten – womit denn auch? Würden wir uns je wiedersehen? Ich fragte ihn nicht danach und er tat es auch nicht. Es war aussichtslos, alles war aussichtslos. Selbst wenn kein Krieg ausbrechen würde, wäre er inzwischen zurück in Indien und müsste heiraten, das war der Lauf seiner Zeit. Ich wollte es nicht wissen, er sollte mir nichts mehr sagen, keine Hoffnungen machen, wir hatten keine Zukunft. Hätten wir eine gesehen, so hätte er gewiss darüber gesprochen und ich auch, es gab aber keine. Unbeholfen streichelte er mir über den Rücken und sah mich hilflos an. Sprechen konnten wir nicht miteinander, denn die anderen hätten jedes Wort hören können. So aber konnten sie denken, er hätte Mitleid mit einem Mädchen, das Angst vor einem Krieg hatte und nicht mehr nach Hause zurück wollte. Für mich brach mit diesem Abschied die ganze Welt zusammen.
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GEGENWART
Ich starrte wie gebannt auf die Aufzeichnung meiner Mutter.
Sie tat mir so entsetzlich Leid, ich konnte mich sehr gut in ihre Lage von damals hineinversetzen und stellte mir vor, wie furchtbar traurig sie gewesen sein musste.
Onkel Deboo war also tatsächlich ihre erste Liebe, warum hatte er nicht um sie gekämpft? Hätte er sie nicht mit nach Indien nehmen können oder hätte er nicht in Europa bleiben können?
Viele Fragen aber keine Antworten. Ich musste weiterlesen, vielleicht gab es dort die Auflösung.
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