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LIESELOTTE

Die Nachkriegszeit – 1949 – 1953

Am 12. April 1949 kam unser drittes Mädel um 8.25 Uhr auf die Welt. Wir gaben ihr den Namen Rotraut. Damit war der Wunsch der beiden Großen erfüllt, denn sie wollten ein „Kind“ haben und keinen Jungen. Hans hatte sich zwar wieder einen Jungen gewünscht, aber es sollte wohl nicht sein. Rotraut entwickelte sich prächtig. Sie war das bisher ruhigste Kind von allen – aber es war ja auch kein Krieg mehr.

Kurze Zeit später wurde unsere Sigrun, am 26. April 1949, eingeschult. Hans kaufte sich bald darauf ein Motorrad, da die weiten Strecken nicht anders zu bewältigen waren. Er kam weit herum, sah vieles und hatte entsprechende Ideen. Inzwischen hatte er in etlichen Geschäften im gesamten Landkreis sogenannte „Beratungsstunden“ eingerichtet, die nicht nur für die Geschäftsinhaber, sondern auch für ihn lukrativ waren. Wir hatten uns das Ziel gesetzt, sobald wie möglich ein eigenes Haus zu bauen. Das erforderte Fleiß, Disziplin und Sparsamkeit.

Im Laufe der Zeit hörte er immer wieder, dass ein Bedarf darin bestand, Puppen zu reparieren. So überlegten wir uns, da ich handwerklich recht geschickt war und bereits häufiger die Puppen meiner Töchter repariert hatte, dass ich das nebenher zu Hause sicher bewerkstelligen könnte. Da er in seinem Beruf bis nach Lüneburg, Hamburg und Bremen kam und bei seinen Kunden entsprechende Werbung für meine „Puppenklinik“ machte, war ich binnen kurzem bis weit über die Grenzen des Landkreises hinaus als die „Puppendoktorin“ bekannt. Bald hatte ich derart viel zu tun, dass die viele Arbeit mitunter kaum zu bewältigen war, vor allem in der Vorweihnachtszeit, da viele Eltern die alten Puppen aufarbeiten ließen. Am 5. Februar 1950 musste ich deshalb beim Landratsamt in Winsen an der Luhe die Erteilung der Gewerbegenehmigung zum Betrieb einer Puppenreparaturwerkstatt beantragen, da man die rege Betriebsamkeit nicht mehr nur als Hobby auslegen konnte.

Nicht viel später feierten wir Rotrauts ersten Geburtstag und schließlich, am 18. April 1950, kam auch Heidi in die Schule. Unser Leben normalisierte sich weitestgehend. Die größte Aufregung, die wir in dem Jahr hatten, gab es im Juli: Rotraut hatte recht früh das Laufen gelernt. Im Juli war sie bereits sicher auf den Beinen. Sie spielte gerne draußen an der Sonne, während ich im Garten arbeitete. Doch plötzlich war sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt! Ich rief und hielt überall nach ihr Ausschau – sie war nirgends zu sehen. Auch der alte Opa aus Bessarabien, der stets auf der Bank vor der Gesindestube in der Sonne saß und in der Bibel las, hatte nichts bemerkt. Inzwischen kamen einige Mägde aus der Küche hinzu und begannen ebenso aufgeregt, nach Rotraut zu rufen. Nichts – kein Laut, keine Antwort. Wir rannten zuerst zur Jauchegrube, weil die Gefahr, sie könnte hineingefallen sein, recht groß war. Aber keine Spur wies darauf hin. Gewiss war bereits eine halbe Stunde vergangen.

Auch Heinrich, der Knecht, der seinen Unterarm im Krieg verloren hatte und nun, statt einer Hand, eine Prothese mit einem Eisenhaken trug, suchte mit. Alle Kinder, auch die aus dem Dorf, hatten stets Angst vor ihm, konnten es jedoch nicht lassen, ihn zu ärgern und Possen über ihn zu reißen, obgleich er ein treuer Arbeiter und ein sehr zurückhaltender Mensch war. Er kam über den Hof gelaufen, ging an den Ställen entlang und klopfte mit seiner Hakenhand an jede Stalltür, wobei er Rotrauts Namen rief. Die Türen waren stets geschlossen und Rotraut hätte sie auch nicht öffnen können, um hineinzugehen, aber plötzlich begannen die Hühner so laut und aufgeregt zu gackern, dass etwas geschehen sein musste. Während wir daraufhin schnell über den Hof zum Stall liefen, kroch Klein-Rotraut, vergnügt, fröhlich lachend, mit Eigelb beschmiert und nicht wissend, warum sich so viele Zuschauer versammelt hatten, aus dem Hühnerloch. Vor Erleichterung mussten auch wir alle herzlich lachen.

Als sich bei uns das vierte Kind anmeldete, waren wir sehr niedergeschlagen und gar nicht erfreut darüber. Wir machten uns gegenseitig Vorwürfe, jeder meinte, der andere hätte doch „besser aufpassen“ können. Ich fühlte mich ziemlich hilflos und allein, denn die Sprachgewaltigkeit meines Mannes, die ich früher so gemocht hatte, machte mich klein und stumm. Bei drei Kindern war es schon schwer, die ganze Arbeit unter einen Hut zu bringen. Wie würde es da erst bei Vieren sein? Gerade noch hatte ich mich über meine Selbständigkeit und die gute Entwicklung meiner „Puppenklinik“ gefreut, da erhalte ich eine solche Hiobsbotschaft. Ich befürchtete ernsthaft, ein weiteres Kind könnte alle unsere Zukunftspläne zunichte machen. Sogar mein Arzt machte mir heftige Vorwürfe, denn er hatte mich vor einer weiteren Schwangerschaft aus gesundheitlichen Gründen gewarnt. Nun hing wieder einmal das Schwert des Damokles über uns und ließ sich nicht vertreiben; unser Glück hielt sich in recht schwachen Grenzen. Durch diese Schwangerschaft begann unsere Ehe erheblich zu leiden.

Das Jahr 1951 überraschte uns mit einem so herrlichen Frühjahr, dass wir trotz alledem voller Glücksgefühle waren. Sigrun war in der Schule die Klassenbeste, auch Heidi ging gern zur Schule, da sie ihr viel Freude machte – wären nur nicht die lästigen Hausaufgaben gewesen. Sie entwickelte sich immer mehr zu einem „Naturkind“. Wäre sie ein Junge gewesen, Hans hätte seine helle Freude an ihr gehabt, wenn sie es nicht ständig geschafft hätte, ihre Spielsachen kaputt zu machen. Natürlich spielte sie viel mit ihren beiden Schwestern, aber noch lieber spielte sie mit Fredy, der auch mit seinen Eltern auf dem Hof von Bertha lebte. Die beiden waren fast unzertrennlich. Allerdings hatten sie auch viel Unsinn im Kopf, worüber nicht immer alle glücklich waren, während Sigrun mehr eine „Traumsuse“ war, sehr viel ruhiger und zurückhaltender als ihre burschikose Schwester.

Am Sonntag, den 10. Juni 1951 kam schließlich um 16.05 Uhr unser viertes Mädel, Dietlinde, bei Blitz und Donner, und nicht komplikationslos, auf die Welt. Da von vornherein Schwierigkeiten bei der Geburt zu erwarten waren, wurde ich in eine Klinik nach Lüneburg gebracht. Hans musste weiter seinen Geschäften nachgehen, deshalb wurde Sigrun zu meiner Verwandtschaft nach Scharmbeck gebracht, während Heidi nach Holtorfsloh zu Tante Lisa durfte. Dort war sie schon manches Mal zu Besuch gewesen und jedes Mal hatte es ihr dort gut gefallen. Dieses Mal litt sie allerdings sehr unter Heimweh. Am 28. Juni bekam sie noch dazu die Masern und musste nach Winsen ins Krankenhaus gebracht werden. Rotraut verbrachte die Zeit während meines Klinikaufenthaltes bei dem Lehrer von Sigrun und Heidi, mit dem wir uns inzwischen angefreundet hatten, aber auch ihr fiel es nicht leicht, sich dort einzugewöhnen. Erst am 15. Juli waren wir alle wieder beieinander.

Hans hatte wenig Zeit. Es war Sommer, die beste Zeit, um per Motorrad seine Kunden zu besuchen. Er fuhr morgens bereits fort und kam oft erst in den späten Abendstunden zurück. Sein Geschäft lief bestens und wir konnten uns eigentlich nicht beklagen. Wir galten allerdings weiterhin im Ort als Flüchtlinge, die – außer vier Kindern – nicht viel zu bieten hatten; ein Makel, der uns wehtat. Da wir jedoch verwandtschaftliche Beziehungen zu Bertha aufweisen konnten, ging es uns weit besser, als manch anderen Flüchtlingen, die bei den Einheimischen nicht sehr angesehen waren.

Auch nach der Geburt unserer Jüngsten hatte sich unser Eheleben nicht erholt. Die viele Arbeit, die mir sonst immer Spaß gemacht hatte, wurde zu einer großen Belastung. Ich fühlte mich plötzlich zur Kindererziehung, zum Kochen, Putzen und Wäschewaschen degradiert, obwohl ich ja nun schon seit Jahren nichts anderes getan hatte. Es war, als hätte jemand bei mir eine Pumpe angesetzt, um mir jegliche Energie abzusaugen. Zwar versuchte ich, dagegen zu arbeiten, aber es gelang nicht recht.

Im Herbst 1951 brachte Hans so viele kaputte Puppen mit, dass ich mich mit Freude in die Arbeit stürzte, darüber aber den Haushalt vernachlässigte. Es machte mich etwas zufriedener, wenn ich die Puppen, die zum Teil ziemlich zerstört waren, wieder so herrichten konnte, dass sie fast wie neu aussahen. Allerdings waren die Kapazitäten unserer kleinen Wohnung bei weitem erschöpft, es gab keinen Platz, um in Ruhe arbeiten zu können. Wir benötigten den Tisch ja nicht nur zum Essen, zum Arbeiten, für die Hausaufgaben, sondern ich musste daran auch die Puppen reparieren. Der Wunsch nach einem eigenen Haus war zwar ständig präsent und wurde fast täglich durch das Feuer der vielen Bauwilligen geschürt, die bei Hans ihre Abschlüsse tätigten, jedoch war dieser Traum noch in weiter, weiter Ferne, so dass wir nach einer anderen Lösung suchen mussten, denn auch bei Bertha war der Platz für eine nochmalige Erweiterung unserer Wohnung erschöpft.

Nach Sigruns zehntem Geburtstag, im März 1953, zu dem sie sich neue, rote Schuhe gewünscht hatte, die ihr wichtiger waren, als alles andere auf der Welt und die sie auch bekam, ergab sich endlich eine solche Möglichkeit.

Wir konnten im selben Ort ein kleines Holzhaus, umgeben von einem großen Garten, am Rande eines Waldes beziehen, das man uns als Flüchtlingsfamilie zugewiesen hatte. Das Haus bestand aus einem kleinen Flur, durch den man in die Küche gelangte. Dahinter lag auf der einen Seite ein kleines Schlafzimmer für die Kinder und auf der anderen Seite ein Raum, dessen eine Hälfte wir als Wohnzimmer nutzten und dessen andere Hälfte uns, also meinem Mann und mir, hinter einem Vorhang, als Schlafzimmer diente. Alles war sehr eng und klein, kam aber einerseits unserem Traum vom Eigenheim schon ein wenig näher und andererseits war der Garten herrlich und lag direkt am Haus.

In der einen Ecke wuchs eine wunderschöne, große Birke. Ich nahm mir vor, so bald wie möglich Möbel unter diesen Baum zu stellen, damit wir bei warmem Wetter dort sitzen, essen und auch arbeiten konnten. Hinter dem Haus befand sich ein angebauter Raum, in dem ich mir eine richtige Puppenklinik einrichten konnte. Von außen gelangte man sogar in einen Keller, der uns später als Vorratsraum dienen sollte.

Unsere Freude über dieses Haus war mit dem Glück über das Geschenk der roten Schuhe, die Sigrun von nun an mit großem Stolz trug, durchaus vergleichbar. Sigrun und Heidi waren besonders darüber froh, dass sie fortan nicht mehr geweckt wurden, um sich mit gepackten Koffern bei Bertha in der großen Halle zu versammeln, wenn sich nachts ein Gewitter ankündigte. Das war eine strikte Anordnung, die alle Bewohner des großen Bauernhauses einhalten mussten, denn das Dach war mit Stroh gedeckt. Nicht selten hatte es woanders schwere Unglücke gegeben, wenn ein Blitz einschlug, das Dach in Brand steckte und die Bewohner nicht darauf vorbereitet waren, schnellstmöglich das Haus zu verlassen. Da Gewitter keine Seltenheit waren, murrten die Kinder jedes Mal. Bei dem neuen Haus würde es kein nächtliches Wecken mehr geben. Deshalb freuten auch sie sich sehr über den Wechsel.

Schon bei den Vorbereitungen zum Umzug kehrte mein Frohsinn zurück. Ich hatte plötzlich wieder das Gefühl, unendliche Energiequellen zu besitzen. Deshalb ging ich mit Feuereifer an die Arbeit. Zunächst bekam das Haus von außen und innen Farbe, dann richteten wir es mit unseren Habseligkeiten gemütlich ein, schließlich kam die Werkstatt an die Reihe und danach, inzwischen war es Mai geworden, begann ich damit, einen Teil des Gartens zu kultivieren, um Gemüse anzupflanzen. Den zweiten Geburtstag von Dietlinde, unserer Jüngsten, feierten wir bereits im neuen Heim. Es brachen paradiesische Zeiten an, wobei mir nicht bewusst war, dass Hans und ich fast keine gemeinsame Zeit mehr miteinander hatten. Es war keine Zeit für Gespräche da, außer es handelte sich um geschäftliche Entscheidungen.

Dem Haus gegenüber begann der Wald. Ein wunderschöner lichter Mischwald, in dem die Kinder gefahrlos streunen konnten. Im Frühjahr war der Boden dieses Waldes übersät mit Buschwindröschen. Sie bauten zwischen den Bäumen im Gebüsch Verstecke und Höhlen und konnten viele, viele Stunden dort verbringen, ohne sich zu langweilen. Auf ihren Wanderungen durch den Wald und natürlich beim Spielen dort, verzehrten sie, je nach Jahreszeit, vielerlei Waldfrüchte, wobei nach wie vor Bickbeeren, Brombeeren und Himbeeren zu den Favoriten gehörten. Wenn der Bauch voll genug war, pflückten sie kiloweise die Beeren, aber auch Hagebutten und Fliederbeeren, die ich dann zu Marmeladen und Säften, die unseren Jahresvorrat meist überstiegen, verarbeiten konnte.

Hans hatte beruflich viel Erfolg, nicht zuletzt deshalb, weil er sehr viel arbeitete, denn das eigene Haus war Wunsch Nr. 1 auf unserer Liste. Allerdings war bald klar, dass er, fast ausschließlich mit dem Motorrad unterwegs, mit einem Auto bessere und mehr Geschäfte machen könnte. Deshalb wurde ein entsprechendes Fahrzeug angeschafft. Trotzdem wurde jeder Pfennig mehrmals umgedreht und wir versuchten überall zu sparen. Hier war mir die Lehre von Tante Olly, mit ihrer schottischen Genügsamkeit, eine gute Hilfe. Sehr viel sparte ich durch meinen Garten, in dem ich versuchte, alles Notwendige anzupflanzen und auf diese Weise zum Selbstversorger unserer Familie zu werden. Gekauft wurde nur, was nicht selbst hergestellt werden konnte. Die Bekleidung unserer Kinder war ausschließlich von mir genäht und gestrickt. Die Kleinen mussten die Kleidungsstücke auftragen, aus denen die Größeren herausgewachsen waren. Pullover, Strickjacken usw., die sich nicht mehr zu reparieren lohnten, wurden wieder aufgetrennt und nochmals zu neuen Stücken verarbeitet. Ich war erfindungsreich geworden.

Eines Tages, ich hatte viel im Garten gearbeitet und fühlte mich etwas müde, setzte ich mich auf die Bank unter der großen Birke in unserem herbstlichen Garten. Zunächst beobachtete ich amüsiert meine beiden jüngsten Töchter, wie sie friedlich miteinander auf dem Rasen spielten. Dann verflüchtigten sich meine Gedanken. Sie schwebten über den Gartenzaun, hinweg über unseren kleinen Ort, kreisten kurz wehmütig über Schönebeck, der Elbe, weiter über Schottland, um sich dann irgendwo in irgendeinem Meer zu verlieren. Doch plötzlich schreckte ich auf. Kerzengerade saß ich da, sah meine beiden Kleinen klar und deutlich vor mir, hörte, wie sie plapperten. Ich hatte eine Idee – eine Eingebung, einen Geistesblitz, eine Erleuchtung, die mich mitten ins Herz oder ins Energiezentrum, oder wohin auch immer, traf. Ausschlaggebend war der blühende Mohn in meinem Garten gewesen. Deboo hatte mir oft von riesigen Mohnblumenfeldern erzählt, die ich mir so gut vorzustellen vermochte, dass ich die Blumen fast spürte, als säße ich mitten drin in den Feldern. Als ich nun meine kleine Pflanzen betrachtete, reichte das aus, um plötzlich nicht nur an Deboo zu denken, sondern ihn schmerzlich zu vermissen.

Auf jeden Fall war ich auf der Stelle hellwach und begann sofort, meinen Einfall in die Tat umzusetzen.

Mein Wunscherbe. Teil 1: Zwischen zwei Welten

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