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Golyam Dervent, Grenzgebiet zur Türkei, Bulgarien

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Der Rand von Europa ist eine traurige Angelegenheit. Ein paar brüchige Klinkerhäuser mit verrutschten Dachziegeln, die grau verputzte Fassade eines Rathauses und gegenüber ein Kiosk, in dem es alles und nichts gibt: Einwegrasierer, Plastiksandalen und Lollis. Keine hundert Menschen leben in Golyam Dervent. Von hier ist es noch gut ein Kilometer bis zur Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei.

Hier verläuft die Außengrenze der Europäischen Union. Das Gebiet ist nur schwer zu kontrollieren. Es gibt viele kleine Wege, die es Schleppern auf türkischer Seite einfach machen, mit ihren Pkws bis nah an die Grenze heranzufahren. Auch im Winter, wenn der Regen den Boden aufweicht. Wer diese Grenze überschreitet, hat eine der wichtigsten Etappen seiner Flucht genommen. Die grüne Landgrenze ist so in den vergangenen Jahren für syrische, afghanische und irakische Asylbewerber zu einer der meistgenutzten Fluchtrouten nach Europa geworden.

Sie haben uns am Morgen vor dem Hauptquartier des „Joint Forces Command“ am General-Totleben-Boulevard in Sofia mit einem natogrünen Bus abgeholt. Ein gutes Dutzend Journalisten ist auf der vom Verteidigungsministerium organisierten Pressefahrt dabei. Verteidigungsminister Angel Naydenov muss in wenigen Wochen seine Amtsgeschäfte übergeben. Länger als ein Jahr hat Bulgariens Bevölkerung nach einer umstrittenen Besetzung von Staatsposten gegen die Minderheitsregierung protestiert. Nun steht der Rücktritt des Kabinetts bevor. Aber zuvor will der Minister noch ein bisher gut gehütetes Geheimnis lüften.

Schon im Herbst 2013 war mit dem Bau eines Zaunes an der Grenze begonnen worden. Über den Baufortschritt drang nur wenig an die Öffentlichkeit. Korruptionsskandale bremsten die Arbeiten, eine Debatte über explodierende Kosten bestimmte die Schlagzeilen, später war die Rede von jeder Menge Pannen, von Material dürftiger Qualität und davon, dass dieser Zaun vielleicht sogar niemals fertiggestellt werden könnte. Jetzt will Naydenov zeigen, dass der Zaun viel mehr als nur ein Gerücht ist.

Es hat viel geregnet in den vergangenen Tagen. In Golyam Dervent verteilen die Soldaten Kunststoffüberschuhe, damit sich niemand bei dem Grenzbesuch schmutzig macht. Wir müssen daran denken, was uns Flüchtlinge im Vorfeld dieser Recherche berichtet haben. Wie sie nicht weit von hier mitten in der Nacht durch den Schlamm stapften, ihre Schuhe dabei verloren und schließlich von Polizisten gestoppt und gedemütigt wurden.

Sie haben ein Zelt für die Pressekonferenz aufgestellt. Ein Helikopter schwirrt über unsere Köpfe hinweg und fliegt eine Schleife über den Zaun. Der Verteidigungsminister wird später sagen, wie imposant er diesen Blick von oben fand und dass er jetzt nicht mehr daran zweifle, dass dieser Zaun die „illegale Einwanderung“ stoppen werde.

Es ist eine absurde Inszenierung. Drinnen im Militärzelt hält der Verteidigungsminister eine Rede voller Pathos. Er spricht davon, wie schwierig die Arbeiten auf diesem Terrain waren, er berichtet von Regen und Schlamm, schildert, wie 15 Tage lang die Arbeit ruhen musste, weil der Niederschlag so stark war, dass die Lastwagen nicht mehr vorankamen. 7.674.000 Lew, das sind knapp 4 Millionen Euro, hat der Zaun gekostet. Damit ist er 50 Prozent teurer geworden als geplant. Das ist viel für ein Land, das als eines der ärmsten der EU gilt. Der Minister versucht, sich mit einem Blick ins Nachbarland zu rechtfertigen. Der Zaun, der 2012 in Griechenland gebaut wurde, sei weniger als halb so lang, habe aber umgerechnet sogar 9 Millionen Lew gekostet. Die bulgarischen Journalisten stellen jetzt Fragen. Aber es geht nicht darum, ob es sinnvoll und erfolgversprechend ist, Menschen auf der Flucht mit Zäunen zu stoppen, es geht nicht um die moralische Dimension der Abwehr von Flüchtlingen, es geht um gestiegene Kosten und die verzögerte Fertigstellung. Dann bittet der Minister die Gäste nach draußen und schreitet ein Stück des Zaunes ab. Er lässt sich dabei fotografieren und interviewen. Er wirkt mächtig stolz.

Hier bei Golyam Dervent zeigt Europa so deutlich wie kaum an einem Ort, dass es unter sich bleiben möchte. Bulgariens Zaun ist 2,50 Meter hoch. Er besteht aus zwei parallel errichteten Barrieren. Dazwischen liegt ein schmaler Streifen, der mit sechs Rollen Nato-Draht gesichert ist. Nato-Draht ist ein besonders schmerzhaftes Hindernis. In einem Stacheldraht kann man sich verfangen, ein Nato-Draht aber schneidet tiefe Wunden in die Haut. Auch den oberen Teil des Zauns haben sie mit Nato-Draht umwickelt. Damit ist er rund drei Meter hoch.

Bulgariens Grenze wird von Tag zu Tag unüberwindbarer. Knapp 30 Kilometer des Zauns sind fertiggestellt. Bereits im August 2014 hat das Ministerium angekündigt, dass der Zaun noch einmal um 130 Kilometer verlängert werden könnte.10 Dann wären knapp zwei Drittel der Landgrenze zur Türkei vollständig abgeriegelt.

Zäune schotten ab und grenzen aus, aber das allein macht sie noch nicht zum Problem. Bulgariens Aufgabe ist es eben auch, die Außengrenzen Europas zu schützen. Ein Zaun kann also eine notwendige Maßnahme sein, um Kriminelle und Terroristen an einer unbeobachteten Einreise zu hindern. Nicht erst seit den Anschlägen von Paris im November 2015 ist in Europa der Wunsch nach mehr Sicherheit groß. In Ungarn, Slowenien und selbst im österreichischen Spielfeld sind neue Zäune entstanden. Was aber, wenn diese Zäune nicht nur gegen Terroristen, sondern vor allem gegen Flüchtlinge gerichtet sind? Was, wenn damit der Flüchtlingsstrom gestoppt werden soll?

Menschen, die auf der Flucht sind, muss zumindest die Möglichkeit gewährt werden, einen Asylantrag zu stellen – unabhängig davon, ob diesem später stattgegeben wird. Zäune aber konterkarieren diesen Ansatz. Vor allem dann, wenn die Einreise auf anderem Weg nicht gestattet wird. Tatsächlich haben Flüchtlinge aus Syrien kaum Möglichkeiten, ohne Visum nach Europa einzureisen. Mit Ausnahme geringer humanitärer Aufnahmekontingente11 gibt es nur wenige legale Wege. Botschaften vergeben selten Visa, ein klassischer Asylantrag kann selbst in deutschen und österreichischen Botschaften nicht gestellt werden.12 Die EU-Richtlinie 2001/​51/​EG führt zudem dazu, dass Reisende ohne Visum meist kein Flugzeug nach Europa besteigen dürfen. Damit soll eine illegale Einreise verhindert werden. Für Asylbewerber gilt zwar eine Ausnahme, doch diese müsste das Bodenpersonal prüfen. Da Fluggesellschaften eine Strafe bezahlen und für die Kosten aufkommen müssen, wenn Passagiere ohne Papiere im Ankunftsland abgewiesen werden, lassen Airlines sicherheitshalber meist gar keine Passagiere ohne Visum an Bord.13

Eine Zurückweisung droht Flüchtlingen auch an den offiziellen Grenzübergängen etwa zwischen der Türkei und den EU-Ländern Griechenland oder Bulgarien. Die Behörden in Athen und Sofia verweisen zwar auf die offiziellen Grenzstationen, allerdings berichten Flüchtlinge und Menschenrechtsorganisationen, dass türkische Beamte viele ohne Visum häufig gar nicht erst ausreisen lassen.

Flüchtlingen bleibt also mit wenigen Ausnahmen nur die Möglichkeit einer irregulären Einreise. Das ist die Scheinheiligkeit der europäischen Flüchtlingspolitik: Die EU ist sich beim Recht auf einen Asylantrag einig, viele Staaten tun allerdings alles dafür, dass möglichst wenige Menschen es auch in Anspruch nehmen können. So hat Europa lange Zeit indirekt die Zahl der Flüchtlinge eingeschränkt, ohne dass es dafür eines politischen Konsenses für eine Begrenzung, ein Kontingent oder Gesetzesänderungen gibt. Wer sich heute über unkontrollierte Flüchtlingsströme wundert, muss auch das bedenken.

Wir möchten mit der bulgarischen Grenzschutzpolizei über den Zaun sprechen, und wir wollen wissen, was sie zu den Anschuldigungen von Menschenrechtsorganisationen sagt, dass Menschen an der grünen Grenze immer wieder abgefangen und zurückgeschickt werden, ohne dass sie einen Asylantrag stellen dürfen.

Der Zaun

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