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Einführung von Peter Zimmerling Entstehung und Hintergrund

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Das „Gemeinsame Leben“ ist Dietrich Bonhoeffers Buch mit den weitaus meisten Auflagen.1 1939 erstmals veröffentlicht, erlebte es bereits im gleichen Jahr zwei weitere Auflagen. 1940 erschien eine 4. Auflage, die nächste dann allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch ist inzwischen in alle wichtigen Weltsprachen übersetzt worden. Bonhoeffer hat die ungefähr hundert Seiten an einem Stück niedergeschrieben, und zwar im September und Oktober 1938, ein Jahr, nachdem die Gestapo das Predigerseminar der Bekennenden Kirche und das aus ihm hervorgegangene Bruderhaus in Finkenwalde (heute: Zdroje) bei Stettin versiegelt hatte.2 Die Arbeit konnte jedoch im Untergrund als sogenannte Sammelvikariate getarnt weitergehen. Bonhoeffers Tätigkeit als Predigerseminardirektor und Leiter des Bruderhauses bildet den Wurzelboden für das „Gemeinsame Leben“. Darum ist es zum Verständnis des Buches unerlässlich, sich das Leben im Predigerseminar und im Bruderhaus vor Augen zu stellen.

Das Finkenwalder Predigerseminar unterschied sich gravierend von heutigen Einrichtungen dieser Art, die es in allen evangelischen Landeskirchen gibt. Die ungefähr 30 Personen des Seminars und die etwa 10 Pfarrer des seit dem zweiten Vikarskurs angegliederten Bruderhauses lebten entsprechend der Bergpredigt von der Fürsorge Gottes: Sie waren angewiesen auf Nahrungsmittel- und andere Sachspenden, die von Gemeinden und Einzelpersonen kamen, die meist zur Bekennenden Kirche gehörten.3 Dabei ging Bonhoeffer selbst mit gutem Beispiel voran. So lebten die Mitglieder des Bruderhauses zeitweise mehr oder weniger ausschließlich von seinem Pfarrgehalt.4 Der ehemalige Seminarist Wolf-Dieter Zimmermann schreibt: „Wer in einer derartigen Unsicherheit leben muss, lernt Gottes Bewahrung und menschliche Hilfe in besonderer Weise kennen. Darüber hinaus bekommt aber auch die biblische Botschaft in solch einer Lage eine ungewöhnliche Kraft. Je weniger Sicherungen der Mensch für sein eigenes Leben hat, desto stärker achtet er auf das, was ihm von der Bibel vermittelt wird. Denn: ‚Gott will ein Helfer sein.‘ Wenn jede Selbst-Sicherung ausfällt, erweist sich erst Gottes Stärke.“5

Neben der finanziellen Unsicherheit war die relative Abgeschiedenheit ein weiteres Merkmal von Finkenwalde, das in ländlicher Umgebung lag; etwa 20 Minuten dauerte die Fahrt mit dem Auto vom Stettiner Stadtzentrum dorthin. Die Fahrt ging durch das Oderbruch zwischen fließenden und stehenden Flussarmen hindurch: Eine reizvolle Flusslandschaft, die die Seminaristen ausgiebig zum Wassersport nutzten.6 Die seit 1938 eingerichteten Sammelvikariate hatten ihren Sitz in den Superintendenturen von Köslin (Koszalin), 160 km nordöstlich von Stettin, und Schlawe (Slawno), nochmals 40 km weiter östlich, außerdem im nahe gelegenen Dörfchen Groß-Schlönwitz (Slonowice) bzw. später auf dem wenige Kilometer entfernten Sigurdshof. Die ländliche Lage von Finkenwalde und später die Abgeschiedenheit der Sammelvikariate war eine wichtige Voraussetzung des spirituellen Lebensstils der Vikarsgemeinschaften. Die Distanz gegenüber fremden geistigen Einflüssen war hilfreich für die Konzentration auf die Beschäftigung mit Bibel und Gebet. Am 29.1.1940 schrieb der Großstädter Bonhoeffer vom Sigurdshof: „Ich finde ja überhaupt mehr und mehr, dass doch die Existenz auf dem Land, besonders in solchen Zeiten, viel menschenwürdiger ist als in der Stadt. Alle Massenwirkungen fallen eben hier fort. Der Gegensatz zwischen Berlin und diesem abgelegenen Hof ist nun wohl besonders groß.“7

Dennoch waren Finkenwalde und die Sammelvikariate kein Idyll. Die kirchenpolitische Situation8 bildet die dunkle Folie, auf deren Hintergrund die Arbeit erst die richtige Kontur gewinnt. Die Herausgeber der Bonhoeffer-Gesamtausgabe haben zu Recht den Titel „Illegale Theologenausbildung“ für Bonhoeffers damalige Tätigkeit gewählt. Die jungen Vikare, die sich für Finkenwalde und die Sammelvikariate als Predigerseminar entschieden, und die Mitglieder des Bruderhauses wollten für die Erneuerung der Kirche aus dem Geist der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem kämpfen. Dafür waren sie bereit, ihren ganzen Einsatz zu geben. Aufgrund der Illegalität der Predigerseminare der Bekennenden Kirche mussten die Vikare damit rechnen, nach dieser Zeit weder ein festes Gehalt noch eine feste Anstellung noch ein Pfarrhaus zu bekommen. Trotzdem sind insgesamt 184 Vikare durch Finkenwalde und die Sammelvikariate gegangen.

Bonhoeffer ging davon aus, dass das verbindliche gemeinsame Leben eine wesentliche Voraussetzung für das Einüben von Spiritualität darstellte. Die Seminaristen verpflichteten sich vor dem Eintritt ins Seminar, sich ganz in die Gemeinschaft zu integrieren und dafür teilweise auf ihr Privatleben zu verzichten. Das gemeinsame Leben wurde durch eine Tagesordnung strukturiert, die von allen Mitgliedern der Seminargemeinschaft einzuhalten war. Daraus sollte eine seelsorgerliche Gemeinschaft, eine Bruderschaft erwachsen. Bonhoeffers Entwurf einer Anweisung für die Kandidaten zur Vorbereitung auf das Pfarramt der Bekennenden Kirche wurde später mit geringfügigen Veränderungen von der Vorläufigen Kirchenleitung so beschlossen:

„Der Kandidat wird im Predigerseminar in einen durch Morgen- und Abendandacht, durch feste Meditationszeit streng geordneten Tageslauf hineingestellt. Er soll die Hilfe solcher Ordnung für die rechte Ausrichtung seiner Arbeit und für sein persönliches Leben erfahren. Der Kandidat soll in dieser Zeit ganz, auch an den Sonntagen, der Seminarbruderschaft gehören und nicht privaten Interessen nachgehen. Er soll in täglicher Gemeinschaft des Gebetes, des Gottesdienstes und der Arbeit lernen, gute Bruderschaft zu halten und zu jedem, auch dem geringsten, Dienst an den Brüdern bereit zu sein. Er soll so im Seminar mit Brüdern oder Lehrern zu der seelsorgerlichen Gemeinschaft kommen, die er braucht und sucht. Er soll wissen dürfen, dass Lehrer und Brüder ihm in dieser Hinsicht jederzeit zur Verfügung stehen. […] Die Seminarzeit soll bei aller Arbeit eine Zeit der stillen Sammlung im Blick auf das Amt sein, das der Kandidat in der Ordination zu übernehmen bereit sein soll.“9

Zu den spirituellen Basics in Finkenwalde gehörten die tägliche persönliche Bibellese, die Meditation anhand der Meditationstexte, Gebet und Fürbitte, Morgen- und Abendandachten, Inanspruchnahme und Gewährung von Seelsorge, die Möglichkeit zur persönlichen Beichte, der regelmäßige Empfang des Abendmahls, theologisch-wissenschaftliche Arbeit (vor allem auf dem Gebiet der Praktischen Theologie), verbindliches gemeinsames Leben und Bruderschaft. Mit vielen dieser Basics betrat Bonhoeffer gegenüber der traditionellen Vikarsausbildung Neuland. Die Einübung in geistliche Lebensvollzüge, in ein spirituelles Leben, wurde zu einem vorrangigen Ziel.

Nach dem Weggang von Finkenwalde wurde angestrebt, dass die ehemaligen Vikare auch während des Gemeindedienstes an der im Predigerseminar eingeübten Spiritualität und der dort entstandenen brüderlichen Gemeinschaft festhielten. Dem dienten die gemeinsamen Meditationstexte, die gegenseitige Fürbitte, die Finkenwalder Rundbriefe,10 die persönlichen Briefe nach und von Finkenwalde, die Teilnahme an den Freizeiten, die von Finkenwalde aus für die Brüder im Amt angeboten wurden, die gegenseitigen Besuche, die Durchführung von Volksmissionen mit Finkenwalder Vikaren, die Bereitschaft, den Weg der Bekennenden Kirche weiter mitzugehen, die Bitte um Übersendung von eigenen Predigten mit dem Angebot der Durchsicht durch Dietrich Bonhoeffer. Er selbst war der Inspirator des Ganzen.

Unmittelbar im Anschluss an den ersten Vikarskurs in Finkenwalde beantragte Bonhoeffer bei der Leitung der Bekennenden Kirche die Einrichtung eines sogenannten Bruderhauses.11 Damit ging er noch einen Schritt über die von vornherein auf ein halbes Jahr befristete Lebensgemeinschaft des Predigerseminars hinaus: „Die Brüder verpflichten sich auf längere Zeit zur Arbeit im Bruderhaus, sind jedoch jederzeit frei zum Austritt“, heißt es im Gründungsantrag.12 Das bloß kurzzeitige gemeinsame Leben des Predigerseminars sollte in eine längerfristige Lebensgemeinschaft überführt werden. Die Theologengemeinschaft des Bruderhauses sollte der Veranschaulichung und Einübung für das von Bonhoeffer während der Vikarskurse in Vorlesungen, Seminaren und Übungen Gelehrte dienen. Dem Antrag wurde entsprochen, sodass Bonhoeffer sich im Herbst 1935 mit sechs Kandidaten aus dem ersten Vikarskurs zur wahrscheinlich ersten evangelischen Kommunität mit gemeinsamem Leben im 20. Jahrhundert zusammenschließen konnte.13 Die Mitglieder des Bruderhauses verpflichteten sich zu einem zölibatären Leben auf Zeit, zu gemeinsamer Kasse und zu gemeinsamem Dienst im Rahmen der Bekennenden Kirche und speziell des Finkenwalder Predigerseminars, wobei Bonhoeffer als Leiter des Bruderhauses sie in ihre Arbeit einwies.14 Er hat damit monastisch geprägter Frömmigkeit im Protestantismus wieder Heimatrecht verschafft.15

Bonhoeffer konzipierte das Bruderhaus von Anfang an als spirituelles Zentrum für die gesamte Kirche. Es entstand auf Beschluss der Gesamtkirche, d. h. der Bekennenden Kirche. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das Angebot von Einkehrzeiten für Pfarrer und Laien. Im Katholizismus stand der Kirche seit jeher in den Orden eine entsprechende dienstbereite Gruppe zur Verfügung. Mit dem Bruderhaus wollte Bonhoeffer eine vergleichbare Dienstgemeinschaft im Raum der evangelischen Kirche schaffen. Am 14.1.1935 hatte er in einem Brief an seinen Bruder Karl-Friedrich geschrieben: „Die Restauration [Erneuerung] der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln.“16

Gemeinsames Leben

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