Читать книгу Tödliche Siesta - Dietrich H. Sturm - Страница 8
Drei Bücher
ОглавлениеAls Acevedo sich vorhin für die Bücher interessierte, schämte ich mich vor mir selbst, dass ich nicht auf die Idee gekommen war sie mir anzusehen. Das holen wir nun nach, aber ungesäumt. Ich ziehe die Bank beiseite, die irgendjemand vor Kochs Tür gestellt hat und hole die Bücher vom Brett, das voller Staub und Flusen ist. Die Gründlichste scheint mir Vicky auch nicht zu sein, wenn sie denn in letzter Zeit hier sauber gemacht haben sollte.
„Meine Jagd nach dem Glück“ heißt der erste Band, den ich in die Hand nehme. Der Buchrücken ist zerfressen, wahrscheinlich von Ameisen. Oder von Cucarachas, Küchenschaben, die sind nämlich ganz scharf auf Buchleim. Auf dem Umschlagdeckel aus einfacher Pappe ist das Signum des Leipziger Verlags R. Voigtländer abgebildet, eine Kogge mit geblähten Segeln. Viel komfortabler ist Koch vermutlich auch nicht nach Südamerika gereist. Innen findet sich ein Stempel des Vorbesitzers, eines gewissen Alfredo Mönch aus Caracas. War also Venezuela die erste Station in Kochs südamerikanischer Karriere, etwas übertrieben ausgedrückt? Hat er dort das Buch von einem Alfredo Mönch geschenkt bekommen? Sollten die Erfahrungen, die der Autor mit dem markanten Namen Hans Schmidt in Paraguay und Argentinien sammeln konnte, ihm als Anleitung dienen für seine eigene Jagd nach dem Glück? Jedenfalls würde die Hängematte zu Venezuela passen, dort ist sie eher üblich als bei uns.
Das zweite Buch ist in Leinen gebunden und von einem gewissen Ernesto Wagner verfasst, der sich alle Mühe gegeben hat, den Leser mit seinen Abenteuern „Im Indianerdschungel Südamerikas“ zu unterhalten. Bei Koch war das offensichtlich vergebliche Liebesmüh, denn das Buch sieht aus, als käme es direkt aus der Druckpresse, abgesehen davon, dass der gelbe Titel-Aufdruck auf dem Buchdeckel unter der Sonne des Südens verblasst und kaum mehr leserlich ist. Die Fotos allerdings sind mächtig befummelt worden. Fettflecken, Eselsohren und eine Rotweinspur lassen vermuten, dass die nackten Indianermädchen aus den Amazonaswäldern bei dem toten Leser mehr Interesse geweckt haben als der Text aus Ernesto Wagners Feder.
„Legion Condor“ steht auf dem dritten Buch. Ich setze mich an den wackligen Tisch am Fenster, um besser sehen zu können und blättere. Fotos von jungen Männern in Uniform, mit strahlenden Gesichtern unter dem Stahlhelm. Andere spähen kühn aus Panzerwagen in die spanische Landschaft. Piloten in der Me 109 winken dem Fotografen vor dem Start zu. Bürgerkrieg in Spanien, Deutsche kämpfen mit Francos Soldaten und den italienischen Truppen gegen den Bolschewismus. Vermutlich ist einigen von ihnen das Lachen vergangen, als sie nach dem Krieg erfuhren, wie die Welt über diesen Kampf dachte. Ein paar von den anderen können Sie in Argentinien treffen, wenn Ihnen daran liegt. Solche die heute noch stolz darauf sind, damals Guernica in Schutt und Asche gelegt zu haben, wie das so schön heißt. Vorn im Buch entdecke ich eine handschriftliche Widmung. „Alfred Koch mit kameradschaftlichem Gruß, H.U. Rudel“, fein säuberlich mit Tinte geschrieben. Und das Datum 15. Oktober 1955. Hans-Ulrich Rudel, höchstdekorierter deutscher Offizier des 2. Weltkrieges. Ich bin ihm nie begegnet. Mein Vater hat mir von ihm erzählt, und andere auch. Angerer hat ihn gut gekannt und sprach früher oft von ihm. Sie waren Geschäftsfreunde, Angerer mit seinem Import von Maschinen und technischem Zubehör, und Rudel als Berater für diverse Diktaturen auf dem Subkontinent. Rudel ist nach dem Krieg über Rom nach Argentinien gekommen. Rom, das heißt Vatikan. Viele Wege führten damals über Rom nach Südamerika, vor allem nach Argentinien. Für Nazis - Juden waren weniger willkommen. Im Vatikan gab es sogar einen Bischof, einen Österreicher, der speziell dafür zuständig war. Glauben Sie nicht? Doch, doch! - Alois Hudal hieß er, ich kann Ihnen ja mal bei Gelegenheit Genaueres erzählen. Unter Perón, ich meine, während seiner ersten Regierungszeit, war Córdoba die Waffenschmiede Argentiniens. Gewehre, gepanzerte Fahrzeuge, sogar Düsenflugzeuge - man glaubt es kaum, was von hier aus nach halb Lateinamerika exportiert wurde. Natürlich, wen wundert´s, deutsche Konstrukteure und Techniker waren nicht unbeteiligt. Was mag dieser arme Teufel von Koch, diese gescheiterte Existenz, mit dem Millionär und Kriegshelden Rudel gemein haben? Sauferei bei einem Grillfest? Reicht das für eine kameradschaftliche Widmung? Nostalgie, alte Zeiten, Fliegerkameraden? Hat er Rudel leid getan, wollte der ihm das krumme Rückgrat stärken, damit er nicht völlig absackt?
Als ich den Band zu den anderen beiden zurück stelle, sehe ich auf dem Bord etwas liegen. Muss wohl aus einem der Bücher gefallen sein, als Acevedo sie heruntergenommen hat. Da er nicht sehr groß ist, unser Polizist, konnte er es nicht auf dem Bord liegen sehen. Ich greife hoch, fühle Leder, und hole es herunter. Es ist tatsächlich ein Stück Rindsleder, ungefähr zwei Handteller groß mit einem Loch am Rand, wie für einen Nagel. Das Zeichen, das da eingebrannt ist, gleicht einer Vogelspinne. Sie wissen schon, dieses pelzige Insekt, das nicht sehr beliebt ist, da giftig. Man könnte fast meinen, das Emblem wäre ein Brandzeichen, um Rinder zu markieren. Um danach ein Brandeisen zu schmieden, ist es aber doch ein bisschen zu kompliziert. So eine Vogelspinne hat ja nun einen Vorder- und einen Hinterkörper, zwei supergiftige Beißklauen, denen man besser nicht zu nahe kommt, und haarige Beine. Acht Beine. Müsste sie haben, hat sie aber nicht, nicht diese hier. Die Vogelspinne auf dem Fetzen Leder hat nur vier Beine und, ob Sie es glauben oder nicht, es ist unverkennbar: die vier Spinnenbeine formen ein Hakenkreuz. Nie gesehen. Ohne mir viel dabei zu denken, schiebe ich das Lederstück ein und gehe zurück zum Haupthaus.
Im Kulturinstitut
Rafa und Trixi haben sich entschlossen, angesichts der Umstände den Montag über noch auf der Estancia zu bleiben. Vor allem wollen sie dabei sein, wenn der Gerichtsmediziner kommt. Sie hätten es gern gesehen, wenn ich auch noch einen Tag angehängt hätte, aber ich habe unaufschiebbare Termine in Córdoba und konnte ihnen daher den Gefallen nicht tun.
Die Fahrt von „El Porvenir“ bis in die Stadt dauert locker zwei Stunden. Die Straße ist stellenweise eine Zumutung, und mein Pick-up scheppert wie eine Schachtel voller Schrauben. Zuerst hat die Doctora neun Uhr vorgeschlagen. Sie wollte wohl zeigen, dass sie frischen Wind aus Deutschland mitbringt und den Leuten hier ganz unten auf der Südhalbkugel den richtigen Rhythmus vormacht. Schön und gut, aber das legt sich, wie die Erfahrung zeigt. Im Kulturgeschäft steht ohnehin kein vernünftiger Mensch vor zehn Uhr auf der Matte. Versteht man denn auch, die sind eben nachtaktiv. Wie die Mäuse. Wir haben uns schließlich auf zehn Uhr geeinigt, als ich ihr gesagt habe, dass ich das Wochenende in der Sierra verbringe. Immer noch früh genug, aber ich bin ohnehin Frühaufsteher.
Frau Doktor Lea Isemuth, Germanistin, verkündete der Generalkonsul stolz, der als erster von der Stellenbesetzung erfuhr. Er freut sich natürlich einerseits darüber, denn mit Isemuths Vorgänger konnte er es nicht so recht. Das kann nur besser werden. Andrerseits bleibt die Konstellation dieselbe, nach wie vor. Irgendwie ist sie, Frau hin, Frau her, als Leiterin des deutschen Kulturinstituts eine Konkurrenz für ihn. Kulturbotschafterin, sozusagen. Also er Generalkonsul, sie Botschafterin. Schwierig, schwierig. Außerdem hört man, dass er gerne Ehrendoktor der „Cato“ würde, der Katholischen Universität. Und jetzt kommt da eine echte deutsche Doctora. Auch schwierig. Ohnehin ist Horst J. Anschütz, also der Generalkonsul, schwierig. Der Name nämlich. Wieso? Also passen Sie auf: das „h“ wird im Spanischen nicht ausgesprochen. Ein „rst“, also das können Sie ganz einfach vergessen, das kriegt kein Hiesiger hin. Das „j“ klingt im spanischen Alphabet wie „chota“. Ein „ü“ existiert nicht, und was aus dem „tz“ wird, das können Sie sich ausrechnen, wenn sie an das „rst“ denken. Zusammengefasst: der Name wird von den Einheimischen arglos ungefähr so ausgesprochen: Orchota-anschiss. Manchmal auch Orchota-anschuss. Allenfalls Orchota-anschi. Es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen verrate, dass die Unterhaltung im Deutschen Klub nach Ankunft des Herrn Amtsleiters vor zwei Jahren zu einem wesentlichen Teil mit diesem Namen bestritten wurde. Harmlos fröhliche Abende, in absentia, versteht sich.
Gut, mein Problem ist das nicht, wie er mit der Doctora zurecht kommen wird. Weshalb ich sie schnell kennen lernen möchte, dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens: Ohnehin - ich lerne gern Menschen kennen. Zweitens: Sie ist derzeit Hauptthema in der deutschen Kolonie. Immer wenn jemand von drüben kommt. Drittens: Eine junge, unbemannte, von Berufs wegen nachtaktive Kulturmaus könnte eventuell möglicherweise rechercherelevant werden, eines Tages, weiß man nie. Verstehen Sie nicht? Also, ich glaube ich sollte Ihnen langsam durchgeben, dass ich so eine Art Hobby-Detektiv bin, nebenberuflich eigentlich. Abgesehen von solchen Gefälligkeiten wie bei Rafa habe ich mir gewissermaßen ein Spezialgebiet aufgebaut: die diskrete Observation. Richtig - wo, wann, mit wem und nach Möglichkeit wie lange. Viele Frauen finden sich damit ab, hierzulande, wenn der Herr Gemahl fremdgeht. Ist der Mann jung, erfordert es ohnehin die Natur. Ist er alt, dann heißt es „Alter Esel - zartes Gras“. Im spanischen Original finden Sie das hinten im Anhang, Sie wissen schon. Aber die Zeiten ändern sich, jawohl, und die jungen Frauen sind nicht mehr gewillt, die Seitensprünge ohne weiteres hinzunehmen. Wissen ist Macht, auch im süßen Heim. Zumindest für den Klamotten-Etat ist dann was drin, wenn der überführte Gatte tätige Reue zeigt. Für mich ein leichtes Spiel, denn die Señores stellen sich meistens noch dümmer an als Rafas Reifendieb. Die Señoras wiederum sind unheimlich stark im Aufpassen und geben einem meist ganz gute Hinweise, da bist du schnell auf der heißen Spur. Geringe Mühe, guter Lohn, Marcos bürgt für Diskretion, wenn Ihnen mit einem Reim gedient ist. Und wenn gelegentlich eine Señora ihr Glück etwas abseits sucht? Gut, das mach ich dann eigentlich weniger gern. Ist nicht so nett, finde ich, die aufzubringen. Eher freudlos. Manchmal melde ich dann dem Auftraggeber: Observationsergebnis negativ. Und hoffe auf eine Erkenntlichkeit seitens der Dame, wenn sie appetitlich ist. Unbar natürlich, Sie verstehen? Ich meine, wenn sie ihrem Alten Hörner aufsetzt, dann ist doch klar, dass sie keine fanatische Verfechterin des sechsten Gebots ist. Klappt nicht immer, ist aber den Versuch wert, oder? Also, ob die Isemuth eventuell das Gefühlsleben in der Kolonie aufmischen könnte, das interessiert mich, wie gesagt, auch von Berufs wegen. Vielleicht ist sie aber auch einfach ein blasser Blaustrumpf und will nur, dass man sie in ihrer Bibliothek in Ruhe lässt Das werden wir ja gleich sehen.
Ein weiterer Grund für meinen Besuch: sie ist meine Chefin, wenn auch nur ein bisschen, nämlich für die vier Stunden Unterricht, die ich jede Woche erteile, dienstags und donnerstags, um 21 Uhr. Ich gebe den Kurs zu meinem Vergnügen, und es ist mir egal, ob Sie das glauben oder nicht. Moderne deutsche Literatur, Sprachdiplom - höhere Weihen sozusagen. Elf Teilnehmer hatte ich im letzten Jahr. Sie blieben mir treu bis zum Schluss, vor ein paar Wochen haben wir bei mir zuhause den glorreichen Abschluss gefeiert. Jede hat ein kurzes selbst verfasstes Gedicht vorgetragen, gereimt oder nicht. „Jede“ stimmt schon, es handelt sich nur um Damen aller Altersgruppen. Die späten Kurse sind ja bei den Lehrern nicht sehr beliebt, wie Sie sich denken können. Bei den lernbegierigen jungen Leuten, die tagsüber malochen, aber sehr wohl. Deshalb sah Isemuths Vorgänger darüber hinweg, dass ich keinen Uni-Abschluss vorweisen kann. Schließlich bin ich Muttersprachler. Eigentlich mehr Vatersprachler, denn meine Mutter ist wenige Jahre nach unserer Ankunft in Argentinien gestorben. Den richtigen Schliff, den hat mir der alte Schill beigebracht. Er war darin konsequent bis zum geht nicht mehr. Harte Schule, ich sag´s Ihnen! Er ließ mir keinen Fehler durchgehen und schon gar kein „Belgrano-Deutsch“, wie wir die manchmal etwas unglückliche Mischung von Deutsch und Spanisch bezeichnen. Sachen wie „Der Zug hat mich gelassen“ statt „Ich habe den Zug verpasst“ fielen der Zensur zum Opfer, sosehr sie ihn auch amüsierten.
Mittlerweile sind wir im Vorstadtgürtel angelangt. Sieht aus wie in einem Film mit Django, finde ich. Darf man natürlich nicht laut sagen, man will ja niemand verletzen. Aber die winzigen Flachdachhäuser, links wie rechts, mit den schiefen Fernsehantennen und den kaputten Bürgersteigen, ab und zu eine Grillbude oder eine vergammelte Tankstelle, dazwischen verwilderte unbebaute Grundstücke, also, alles das können Sie getrost vergessen. Wenn es noch ein bisschen wärmer wird, dann stellen die Leute den Fernseher in die Türöffnung und schauen vom Garten aus in die Wohnung. Das könnte fast romantisch sein, ist es aber nicht. Zu viel Neon.
Augenmenschen kommen in der Innenstadt schon eher auf ihre Rechnung. Viele Häuser sind im Kolonialstil erbaut, nicht alles authentisch, macht aber nichts, schafft Identität. Die alte Universität, der die Stadt den Ehrennamen „la docta“ verdankt, kann sich wirklich sehen lassen, ebenso wie der Cabildo, das alte Rathaus. In letzter Zeit lümmelt hier allerdings mehr Militär herum als der Optik gut tut. Gleich daneben erhebt sich die ehrwürdige Kathedrale, und da stören Uniformen, finden Sie nicht auch? Nachts werden die Soldaten auf Jagd geschickt, hört man. Häuser würden sie durchsuchen, heißt es. Hörensagen, klar, in der Zeitung suchen Sie danach vergebens. Es herrscht nämlich Ausnahmezustand. Keine schöne Situation, wirklich nicht. Immerhin, endlich haben sie mal was zu tun, die Milicos. Wie sagt mein Schulkamerad Alfredo Vasquez, jetzt Oberleutnant: Beim Militär tun wir rein gar nichts, aber das machen wir alles sehr früh.- War schon auf der Penne immer drollig, der Vasquez. Unüberwindlich im Sport, sonst eher schwach, Fremdsprachen Zero. Was sie jetzt so treiben, hier mitten in der Stadt oder nachts in den Häusern? Linke Terroristen bekämpfen, die sich bei uns Montoneros nennen? Es wäre gut, etwas genauer Bescheid zu wissen. Ich muss mal den Vasquez fragen, bei Gelegenheit.
Jetzt den Boulevard Junin hoch, dann den Boulevard Chacabuco rein. Die Flaschenbäume in seiner Mitte sind nun nach dem trockenen Winter etwas dünn. In den regenreichen Sommermonaten werden sie sich vollsaufen und dann schön mollig aussehen. Parken kann ich in der Einfahrt des Instituts, wenn jemand raus will, soll er sich bei der Doctora beklagen. Im Institutshof ist Quevé damit beschäftigt, mit zwei Schauspielern in einem Riesenkarton zu wühlen. Quevé ist ihr Künstlername, sie leitet eine Theatergruppe, die in den Räumen des Kulturinstituts probt und ihre Stücke dort auch aufführt. Wir rufen einander „Hola, wie geht´s?“ zu, dann stecken die drei wieder die Köpfe in die Schachtel, und ich stiefle weiter zum Sekretariat.
Herzliche Begrüßung mit der Habach. Sie ist eine fleißige Kraft, das weiß jeder. Der letzte Leiter hat mir verraten, er würde nach Möglichkeit stets Kräfte mit leicht hervorstehenden Augen wie die Habach einstellen. Basedow, wissen Sie, erklärte er, leichte Schilddrüsenüberfunktion, stets tätig, rastlos. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so eine hinterhältige Einstellung, wo er doch so abgeklärt und weise tat. Egal, die Habach ist immer guter Laune, außer sie ist mit der Ablage beschäftigt. Dann kann man mit ihr kein vernünftiges Wort wechseln. Da wird sie total flatterig. Ich habe beobachtet, dass sie dabei noch mal in der Korrespondenz schmökert, und das sollte sie natürlich besser bleiben lassen, deshalb kommt sie nie zu Rande. Die blonden Haare liegen glatt am hoch getragenen Haupt, mit Dutt hinten, wie eine BDM-Führerin. War sie vielleicht auch, schon denkbar. Ich hab mir sagen lassen, dass sie nach ihrer Ankunft hier, vor fünfundzwanzig Jahren oder so, ohne viel Zeit zu verlieren eine Frauensportgruppe gegründet hat. Ich stelle mir das komisch vor, Medizinball und Reck unter dem Kreuz des Südens. Die Kommandos waren deutsch, weil sie damals im Spanischen noch nicht so fit war. Ich nehme an, dass sie heute noch nicht weiß, was „Bauchaufschwung“ auf Spanisch heißt.
- Die Chefin erwartet sie schon, sagt sie, und ich gehe durch.
Mir bleibt fast die Puste weg. Nicht nur, weil sie verdammt gut aussieht, die Doctora, sondern vor allem wegen der antarktischen Temperatur in ihrem Büro. Mag ja für die Arbeit förderlich sein, führt jedoch zunächst zu einer Erkältung und auf mittlere Sicht zu ärgerlichen Gelenksproblemen. Muss ich ihr unbedingt bei Gelegenheit sagen. Eine hübsche schlanke Hand reckt sich mir da entgegen. Wenn der alte Schill noch leben würde, dann würde er jetzt mit baltischer Grandezza einen Handkuss anbringen. Reizendes Begrüßungslächeln, zierliche Figur, dunkles Haar. Sie sehen ja aus wie eine Hiesige, wird man sagen, und sie wird nie wissen, ob das ein Kompliment ist oder das Gegenteil. Etwas blass ist sie, kein Wunder, sie kommt ja aus dem deutschen Spätherbst. Über meinen Unterricht reden wir später, die Doctora und ich. Bis zum Kursbeginn vergehen noch ein paar Monate, und im Augenblick dürfte sie andere Sorgen haben. Ein Haus zu finden, zum Beispiel. Ich biete mich an, ihr dabei zu helfen, schließlich bin ich Makler. Unter anderem. Und dass sie gerne auf mich zukommen kann, wenn es etwas zu dolmetschen gibt, bei den Behörden und so. Ach nein, entgegnet sie, das ist nicht nötig, ich komme ganz gut zurecht mit dem Spanischen. Wie das denn, Sie sind doch Germanistin? frage ich. Sieh da, sie ist jedoch Historikerin im Hauptfach, erfahre ich, und hat über den spanischen Bürgerkrieg promoviert. Spanisch und Italienisch nebenbei, Respekt! Bürgerkrieg und internationaler Krieg, fügt sie hinzu, und ich weiß nicht, ob wir damit recht weiterkommen werden, gesprächsmäßig. Aber keine Sorge, im Augenblick führt sie das Wort, und sie bleibt auch dran. Sie will in der Richtung weiterarbeiten, sagt sie, und zwar über die Emigration vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie hat schon von Villa General Belgrano gehört, dem Ort in der Sierra von Córdoba, wo die Matrosen des versenkten Panzerkreuzers „Graf Spee“ sich angesiedelt haben, das interessiert sie. Darüber können Sie mir sicher erzählen, fügt sie hinzu. Dann macht sie eine kleine Pause und ergänzt mit einem kleinen entschuldigenden Lächeln, bei Gelegenheit, wenn ich hier im Institut aus dem Gröbsten raus bin. Ich verstehe, das war ein dezenter Hinweis auf die knappe Zeit, gut gemacht, bravo. Ich erwähne noch, dass ich ein treuer Besucher der Veranstaltungen bin, und vor allem der Bibliothek. Wissen Sie, ein Leben ohne Ihr Institut könnte ich mir gar nicht vorstellen, sage ich, und sie macht schelmisch mit dem Zeigefinger aber-aber. Es ist nur geringfügig übertrieben, bekräftige ich und lege eine kleine Pause ein, bevor ich „Doctora“ anfüge - ich darf doch Doctora sagen, einverstanden? Das klingt schöner als Frau Doktor. Aber natürlich, sagt sie, Herr von Schill. Einfach Marcos, sage ich, das ist hier so üblich. Oder Markus, wie Sie wollen. Gern, antwortet Sie, und damit haben wir das auch abgehakt.
Dann macht sie einen kleinen Schritt Richtung Tür. Als wir uns die Hand geben, sagt sie noch, dass sie von der Habach erfahren hat, ich würde nach den Ferien wieder den Literaturkurs übernehmen und dass sie sich darüber freut. Und ich werde schnell noch los, dass ihr Vorgänger verdienstvoller Weise die neuen Zeitungen immer sehr schnell gelesen hat und deshalb die Bibliothek von allen ausländischen Kulturinstituten die aktuellste ist. Sie sieht mir nämlich ganz so aus, als würde sie den Spiegel gerne genüsslich in der Badewanne lesen, und das kann dann dauern, bis sie durch ist und ihn an die Bibliothek weitergibt, selbst wenn sie jeden Tag mit dem Blättchen in die Bütt steigen sollte. Drehen Sie die Clim runter, sonst enden Sie eines Tages als rheumatischer Eiszapfen, sage ich noch und seile mich ab.