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Prolog

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Die junge Frau stand an der Brüstung des Dachgartens und schaute nach unten auf den fließenden Verkehr der breiten alleeförmigen Straße. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen, denn ihr Blick war tränenumflort. Sie kam einfach nicht darüber hinweg, dass ihre große Liebe ohne sie gegangen war. Ja, sie hatte gezögert, ihm zu folgen. Dabei wäre sie mit ihm bis ans Ende der Welt gegangen, doch Republikflucht war ein Tabuthema, wie alle wussten. Sie wurde streng bestraft und endete nicht selten tödlich.

Wohl wissend, bei ihren Eltern kein Verständnis zu finden, hatte sie alles mit sich selbst abgemacht. Unzählige Diskussionen mit ihrem Liebsten hatten sie viel Kraft gekostet. Sie hatte ihn angefleht, seinen Entschluss noch einmal zu überdenken, aber er war nicht davon abzubringen gewesen.

»Stell dir vor, wir werden erwischt oder verraten … Man wird nicht zögern auf uns zu schießen …«

»Das ist mir egal. Für mich gibt es in dieser Scheißrepublik keine Zukunft«, hatte er geantwortet. »Was ist das für ein Staat, der seine Bürger einsperrt und gewaltsam daran hindert, zu reisen und die Welt kennenzulernen? Der nicht davor Halt macht, ihnen nach dem Leben zu trachten, wenn sie nicht mitspielen. Ich will frei sein und tun, was mir gefällt.«

»“Drüben“ soll auch nicht alles so rosig sein. Das hört man immer wieder. Lass dich doch von den Fernsehberichten nicht blenden. Im Westen wird auch nur mit Wasser gekocht. Ich habe keine Lust, in einem Lager zu leben. Vielleicht bekommen wir nie eine Wohnung und Arbeit. Was dann? Willst du von der Fürsorge leben?«

»Alles, nur nicht länger hierbleiben, wo einer den anderen bespitzelt. Man weiß ja schon nicht mehr, wem man überhaupt noch trauen kann. Dein Vater hätte keine Hemmungen, mich anzuzeigen, wenn er von meinen Plänen wüsste. Reicht es dir nicht, dass er dir den Umgang mit mir verboten hat?«

»Mein Vater war schon immer ein Sturkopf. Der beruhigt sich auch wieder, wenn er merkt, dass es mit uns etwas wirklich Ernstes ist. Du liebst mich doch, oder? Wir wollten heiraten und eine Familie gründen.«

»Ja, aber nicht hier. Ich will nicht, dass unser Kind schon mit der Muttermilch die Gesinnung eingetrichtert bekommt. Also kommst du jetzt mit, oder nicht? Wir sind beide jung und stark. Gemeinsam werden wir es schon schaffen.«

»Ich kann nicht. Sieh das doch ein! Mutter ist krank und … wenn mir unterwegs etwas passieren würde, wäre das bestimmt ihr Tod. Lass uns hierbleiben. Wir können uns doch arrangieren …«

»Nein, ich habe es satt, endgültig. Wenn du nicht mitgehst, gehe ich eben alleine …«

Nie hätte sie gedacht, er würde seine Drohung wahrmachen. Ihr zuliebe hätte er bleiben müssen. Doch jetzt war es geschehen. Er hatte seinen Plan in die Tat umgesetzt – ohne sie. Wieder kamen ihr die Tränen. Ihr Leben erschien ihr plötzlich so sinnlos. Alles hatte seinen Glanz verloren. Ein Leben ohne ihn war einfach unvorstellbar.

Gramgebeugt wie eine alte Frau lief sie die Treppen zur Wohnung ihrer Eltern hinunter. Auf dem letzten Absatz sah sie zwei Männer in dunklen Ledermänteln vor der Tür stehen. Staatssicherheit, war ihr sofort klar. Sie kamen, um sie zu verhaften. Keiner würde ihr glauben, von den Plänen nichts gewusst zu haben.

»Ich weiß nicht, wo meine Tochter ist. So glauben Sie mir doch«, hörte sie ihre Mutter sagen.

In dem Moment wurde ihr klar, dass es nur einen Weg gab. Und der führte nicht nach unten.

Vor Aufregung ließ sie ihr Schlüsselbund fallen, was man sofort unten wahrnahm, weil es auf dem Steinboden wie Donner hallte.

»Halt, stehen bleiben!«, hallte es durch das Treppenhaus.

Sie rannte wie von Sinnen die Treppen nach oben. Immer nur um eine Haaresbreite von ihren Häschern entfernt. Dann stieß sie die Tür zum Dachgarten auf und rannte mit letzter Kraft zur Brüstung.

»Jetzt seien Sie doch vernünftig, Genossin. Wir tun Ihnen doch nichts. Wir haben nur ein paar Fragen.«

Sie hörte gar nicht hin. Ehe die Männer reagieren konnten, kletterte sie auf die Brüstung, sprang und fiel augenblicklich wie ein Stein in die Tiefe.

Damals im anderen Leben

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