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Kapitel 3

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Melanie saß in ihrem Bett und wünschte sich sehnlichst, ihre Großmutter wäre noch an ihrer Seite. Sie hatte mittlerweile die dritte Zigarette geraucht, ohne bewusst den Rauch zu genießen. Sie drückte die Kippe im Aschenbecher aus und legte sich in ihre Schlafposition. Auf einmal spürte sie die Erschöpfung und hatte das Bedürfnis, sich in ihre Kindheit hinüberzuträumen. Ein unfehlbares Mittel war seit Jahren der Gedanke an ihre frühere Einschlafzeremonie.

Irmgard hatte viele Jahre jeden Abend auf ihrem Bett gesessen und ihr aus ihrem Lieblingsmärchenbuch vorgelesen. Das Buch hatte schon Melanies Mutter gehört und damals den gleichen Zweck erfüllt. Es enthielt Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm und war mit zauberhaften, eingeklebten Bildern illustriert. Man konnte darauf Rapunzels langes Haar bewundern oder eine weiß gekleidete Frau mit einem Baby im Arm sehen, an deren Seite ihr Brüderchen, das in ein Reh verwandelt worden war, stand.

Diesmal blätterte Melanie das Buch in Gedanken mehrmals durch, bis sie endlich einschlief.

Übergangslos schaute sie von oben auf einen verschneiten Friedhof hinab. Sie schwebte langsam hinunter und erkannte an einem frischen Grab, das nur unvollständig zugeschüttet war, ein kleines, weinendes Mädchen. Es saß am Rande der Grube und strahlte große Verzweiflung aus. Abrupt wechselte Melanies Blickwinkel. Plötzlich sah sie das kleine Mädchen von unten her. Es kniete in dem kalten Schnee und schaufelte mit seinen kleinen Händen winzige Vertiefungen, die sich sofort wieder auffüllten. Die Szenerie spielte sich völlig lautlos ab. Aus dem Mund der Kleinen kam kein Ton, obwohl unentwegt dicke Tränen über ihr Gesicht rollten.

Melanie spürte, dass sie bewegungsunfähig war. Irgendetwas zwängte sie, wie ein Schraubstock ein. Sie hatte das Gefühl, als ob sich eine dicke Schneedecke über ihren Kopf schob und ihr langsam die Luft zum Atmen nahm. Als das Grauen seinen Höhepunkt erreicht hatte, schrie sie aus Leibeskräften und bäumte sich mit größter Anstrengung auf.

Sie wäre fast mit Trutz zusammengestoßen, der auf ihrer Bettkante saß und sie sofort an seine Brust drückte. Da Melanie noch nicht Traum und Realität unterscheiden konnte, wehrte sie sich heftig und versuchte ihn wegzustoßen. Er ließ sich davon nicht beirren und sprach behutsam auf sie ein: »Scht, Liebling, du hast nur geträumt. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«

Sich nur langsam beruhigend, fiel Melanie kraftlos in ihre Kissen zurück. Sie weinte hemmungslos und wirkte hilflos wie ein Säugling. Trutz legte sich zu ihr und küsste ihr die Tränen vom Gesicht. Seine kräftigen Hände strichen über ihren Körper und landeten bei ihren Brüsten, die er sofort massierte, mit aller Vorsicht, zu der er fähig war. Seine etwas linkische Art ließ seine Zärtlichkeiten immer etwas grober ausfallen, als er es eigentlich beabsichtigte.

Melanie hatte sich längst an sein ungestümes Wesen gewöhnt und nach einigen Anfangsschwierigkeiten sogar Gefallen daran gefunden. Irgendwie erinnerten seine Liebesbezeugungen immer ein wenig an eine Vergewaltigung. Dass sie es trotzdem genoss, machte ihr manchmal etwas Sorge. Der Gedanke, dass sie geheime masochistische Neigungen haben könnte, bereitete ihr Unbehagen.

Während Trutz seiner Leidenschaft freien Lauf ließ, war Melanie zwischen Abwehr und Lust hin- und hergerissen. Die Tatsache, dass Trutz sie am Tage der Beerdigung bedrängte, fand sie unpassend und wenig einfühlsam. Er machte sie sogar zornig. Andererseits stieg in ihr das Verlangen. Sie ließ sich fallen und wurde von einer Woge der Lust weggetragen. Der behaarte Körper von Trutz war bald ebenso verschwitzt wie ihrer. Seine bärige Statur drohte sie zu erdrücken. Aber sie empfand keinerlei Bedrohung, sondern genoss die Vereinigung in bisher ungekanntem Ausmaß.

Der Zusammenbruch kam am nächsten Tag.

Melanie hatte traumlos im Arm ihres Liebhabers geschlafen. Als sie erwachte, fühlte sie sich ausgebrannt und antriebslos. Für den Rest der Woche hatte sie frei genommen. Ihr Chef war darüber nicht gerade begeistert, aber verständnisvoll genug, um ihren Wunsch zu genehmigen.

Trutz musste alle Überredungskunst aufwenden, um sein zubereitetes Frühstück an die Frau zu bringen. Er küsste sie in gewohnt heftiger Weise und versprach im Laufe des Tages anzurufen. Kaum hatte er die Wohnung verlassen, musste sich Melanie übergeben. Sie lag fast eine halbe Stunde im Bad vor dem Toilettenbecken. Nachdem sich ihr Magen vollständig entleert hatte, schlich sie zurück ins Bett und schaltete den Fernseher ein. Sie drehte die Lautstärke soweit herunter, dass sie nur noch leise Stimmen vernahm. Die Flut der bunten Bilder sollte sie von ihren Gedanken ablenken und verhindern, dass sie erneut Albträume plagen würden.

Am späten Nachmittag rief Trutz an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Sie verheimlichte ihm ihren wahren Zustand und meinte nur, diese Nacht allein schlafen zu wollen. Er gab sich notgedrungen geschlagen und versprach sich am nächsten Tag wieder zu melden.

Als am folgenden Tag das Telefon klingelte, war nicht Trutz am Apparat, sondern eine Kripobeamtin. Sie fragte, ob es Melanie recht sei, wenn sie mit einem Kollegen in einer Stunde vorbeikäme. Melanie stimmte zu und nutzte die verbleibende Zeit, sich etwas frisch zu machen. Sie registrierte erleichtert, dass ihr Magen Ruhe gab. Der gestrige Tag ohne Nahrung schien ihr gut bekommen zu sein. Nachdem sie aus dem Bad kam setzte sie Teewasser auf und legte einige Scheiben Zwieback auf einen Teller. Am Abend wollte sie sich eine leichte Gemüsebrühe kochen und Toast dazu essen. Vielleicht könnte sie dann in der nächsten Zeit wieder normale Kost zu sich nehmen.

Sie hatte sich gerade eine schwarze Hose und einen schwarzen Wollpulli angezogen und war im Begriff den Tee aufzugießen, als es an der Tür läutete. Sie öffnete und bat die beiden Kripoleute herein.

Die kleine, maskulin wirkende Frau war ungefähr in Melanies Alter und trug zu ihrem kurzen Haarschnitt Jeans und Lederjacke. Sie kam ohne Umschweife zum Thema: »Frau Basler, mein Name ist Schirmer, und das ist mein Kollege, Herr Rohn. Sie haben ihn ja schon kennengelernt, als er sie in ihrem Büro aufgesucht hat.«

»Ja, ich habe ihn dann noch mal auf dem Friedhof gesehen«, erwiderte Melanie mit leiser Stimme.

»Sie müssen entschuldigen, dass wir ihnen nicht kondoliert haben, aber wir wollten uns nicht aufdrängen, und sie schienen in keiner guten Verfassung ...«, mischte sich der etwas ältere, hagere Mann mit dunkelblondem Haar und betont lässiger Kleidung ein, um unvermittelt seine Rede abzubrechen.

»Wenn Sie den liebsten Menschen verlieren würden, wäre ihre Verfassung sicher nicht besser«, antwortete Melanie ohne scharfen Unterton. Sie standen immer noch im Korridor und Melanie bat sie, im Wohnzimmer Platz zu nehmen und bot ihnen Tee an, den sie dankend annahmen.

Melanie stellte die Teekanne auf ein Stövchen auf den runden Tisch am Fenster, gab jedem eine Tasse in die Hand und holte Kandis aus der kleinen Vitrine an der Wand. Sie selbst trank ihren Tee ungesüßt. Auf ihre Frage, ob die beiden lieber Honig wollten, verneinte Frau Schirmer, und Herr Rohn antwortete gar nicht.

Als sich Melanie zu ihnen gesetzt hatte, nahm die kühle, blonde Beamtin wieder ihre Rede auf: »Frau Basler, wir untersuchen den Todesfall ihrer Großmutter. Sie können uns glauben, dass wir Sie nur ungern in ihrer Trauer belästigen, aber es ist doch sicher auch in ihrem Interesse, wenn die näheren Umstände baldmöglichst geklärt werden.«

Irgendwie schafft es diese Frau, dass höflich vorgetragene Sätze unhöflich klingen, dachte Melanie und sagte: »Natürlich möchte ich erfahren, wie meine Großmutter ums Leben gekommen ist und ob es eventuell einen Schuldigen gibt. Aber ich weiß nicht, wie ich ihnen helfen soll.«

»Sie räumen also ein, dass jemand schuld am Tode von Frau Wenzel sein könnte?«, brachte sich der Hagere wieder zu Gehör.

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Melanie, »ich kann mir überhaupt nicht erklären, was passiert ist und zermartere mir seit Tagen das Hirn über die Ursachen«, fügte sie hinzu.

»Können Sie sich vorstellen, dass Ihrer Großmutter jemand nach dem Leben trachtete?«, war nun die Blonde wieder an der Reihe.

»Nein, natürlich nicht«, rief Melanie, »meine Großmutter war der gütigste Mensch, ohne weltfremd zu sein. Sie hatte ein gesundes Misstrauen und durchschaute Menschen innerhalb kürzester Zeit«, fügte sie verzweifelt hinzu.

»Kennen Sie einen Baldur Lichter?«, fuhr die Blonde unbeeindruckt fort.

»Nicht persönlich. Ich weiß nur, dass er für Großmutter Besorgungen machte und sie ihn als Freund betrachtete«, antwortete Melanie wahrheitsgemäß.

»Haben Sie eine Ahnung, wie weit die Freundschaft ging?«, fragte der Hagere scheinheilig.

»Meine Großmutter hat nicht leichtfertig einen Menschen als ihren Freund bezeichnet. Baldur muss sich diese Freundschaft verdient haben. Er war immer für sie da, und sie haben sehr anregende Gespräche geführt. Und um ihre nächste Frage gleich vorwegzunehmen - er war nicht ihr Liebhaber«, entgegnete Melanie, die den obszönen Unterton der Frage sofort verstanden hatte. »Baldur Lichter hätte ihr Enkel sein können, und Großmutter war unempfänglich für die Reize eines so jungen Mannes.«

»Nun, wenn Sie so genau über die Psyche der alten Dame Bescheid wussten ...«, wollte er ansetzen.

Melanie ließ ihn gar nicht erst ausreden: »Niemand sonst kannte sich besser in der Psyche meiner Großmutter aus als ich. Ich habe mein ganzes bisheriges Leben an ihrer Seite verbracht. Wir hatten absolut keine Geheimnisse voreinander«, konterte sie bereits leicht gereizt.

»Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Baldur Lichter einen Schlüssel für die Wohnung von Frau Wenzel besaß, dort ein- und ausging, Sie ihm aber nie begegnet sind?«, spielte die Kühle ihren Trumpf aus.

»Das ist ganz einfach zu erklären«, verblüffte sie die beiden, »Großmutter verband mit Baldur etwas Besonderes, das nur die beiden etwas anging und fern von jeglicher Sexualität war. Großmutter fand die Zeit noch nicht reif dafür, uns einander vorzustellen, und ich tolerierte ihre Entscheidung. Außerdem ist Baldur Krankenpfleger von Beruf und hat sehr unregelmäßigen Dienst.«

»Das ist uns bekannt«, gab die Blonde nicht auf. »Wissen Sie eigentlich dass Herr Lichter im Testament bedacht worden ist?«

»Nein, aber ich gönne es ihm. Großmutter wusste immer, was sie tat. Außerdem hat sie Baldur so beschrieben, dass ihm jeder Tag mit Großmutter wertvoller gewesen ist, als es eine Erbschaft je sein könnte«, meinte Melanie voller Überzeugung.

»Sie trauen ihm also kein Verbrechen zu, obwohl Sie ihn nicht persönlich kennen?«, bohrte jetzt der Hagere.

»Nein, nein, nein. Alles was ich an Menschenkenntnis besitze, habe ich von meiner Großmutter. Warum sollte ich ihrem Urteil über Herrn Lichter also nicht trauen?« Langsam wurde Melanie wütend.

»Eine Nachbarin ihrer Großmutter ist da ganz anderer Meinung, wenn es um Herrn Lichter geht«, ließ die Blonde nicht locker.

»Die Meinung dieser Frau ist mir egal. Wahrscheinlich war sie eifersüchtig, dass Baldur sich nicht um sie gekümmert hat«, sprach Melanie und wunderte sich plötzlich selbst, wie sie Baldur in Schutz nahm. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie Recht hatte.

Frau Schirmer und Herr Rohn sahen sich einen Moment lang an und Melanie hatte den Eindruck, dass sie sich ohne Worte verständigten, wer die nächste Frage stellen wollte. Der Hagere hatte verstanden, dass er weiter machen sollte und begann: »Frau Basler, Sie behaupten, sich über die Gefühle ihrer Großmutter sehr gut auszukennen. Können Sie in Erwägung ziehen, dass Frau Wenzel den Freitod gewählt hat?«

»Das ist absolut lächerlich, mir diese Frage zu stellen«, sagte Melanie, »wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, dass Großmutter die Letzte war, die so etwas getan hätte. Außerdem wäre mir ihre Absicht mit Sicherheit nicht verborgen geblieben.«

»Wir haben Ihnen sehr genau zugehört, davon können Sie ausgehen«, verteidigte die Blonde ihren Kollegen, »nur ist es für uns nicht so einfach, uns ein Bild über einen Menschen zu machen.«

»Für mich gibt es nur eine einzige Erklärung für den Tod meiner Oma«, sprach Melanie mehr zu sich selbst, deshalb benutzte sie auch erstmals die Koseform von Großmutter. »Es kann sich nur um einen schrecklichen Unfall handeln.«

»Diese Möglichkeit haben wir natürlich auch nicht außer Acht gelassen«, meinte Herr Schirmer mit leicht belehrendem Unterton, »die Untersuchungen in der Wohnung von Frau Wenzel sind abgeschlossen und wir sind auch gekommen, um Ihnen die Schlüssel auszuhändigen.«

Dafür habt Ihr ja einen enormen Vorlauf gebraucht, dachte Melanie und zündete sich eine Zigarette an. Die wortlos in die Runde gehaltene Schachtel wurde mit einem doppelten Kopfschütteln quittiert. »Und was haben Sie herausgefunden?«, wollte sie wissen.

»Wir fanden die Wohnungstür verschlossen vor. Die Schlüssel lagen auf dem kleinen Schränkchen neben der Tür. Damit ist ein fremder Besuch ziemlich unwahrscheinlich, da Ihre Großmutter sicher nicht hinter ihm abgeschlossen hätte. Neben der offenen Balkontür war die Schublade des Sideboards halb herausgezogen. In der Schublade lag unter anderem eine geöffnete, sehr kleine Schachtel, die leer war. Kannten Sie den Inhalt dieser Schachtel, oder wissen Sie, ob sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse schon länger darin nichts mehr befunden hat?«

»Ich hatte nicht die Angewohnheit, in den Schubladen meiner Großmutter zu wühlen. Und von sich aus hat sie mir nichts Derartiges gezeigt. Wenn die Schachtel jemals einen Inhalt besessen hat, wird er nicht so wichtig gewesen oder nur Großmutter etwas angegangen sein«, antwortete Melanie trocken.

»Womit wir genauso schlau wie vorher wären«, dachte die Blonde laut. »Entschuldigung, das sollte kein Vorwurf sein, aber wir hatten gehofft, dass Sie uns weiterhelfen könnten.«

Der Eisblock zeigt menschliche Regungen, fiel Melanie auf.

»Auf dem Balkon fanden wir nur Fußspuren Ihrer Großmutter, was nicht viel bedeutet, da der Abstand bis zur Brüstung so gering ist, dass man ohne Weiteres jemandem von der Tür aus einen Stoß versetzen kann«, vernahm Melanie weiter.

Ihr Blick verschleierte sich. Zu schrecklich war die Vorstellung, dass Irmgard einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.

»Ungewöhnlich ist, dass sonst keine Schranktür oder Schublade geöffnet war«, hörte sie den Hageren weiterreden. »Alles machte einen aufgeräumten Eindruck, und wir fanden diverses Bargeld und eine gefüllte Schmuckkassette. Wenn es dem Unbekannten um etwas gegangen war, muss es sich also in dem erwähnten Kästchen befunden haben.«

»Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass ich mir nichts anderes als einen Unfall vorstellen kann. Obwohl ich verdammt noch mal keinen Grund sehe, warum meine Großmutter freiwillig auf die Fußbank gestiegen sein soll«, sagte Melanie verzweifelt.

»Der Fußboden des Balkons war noch feucht, als wir die Wohnung betraten und das Laub, das herumlag, kann eine böse Rutschfalle sein«, gab die Schirmer zu bedenken, »umso mysteriöser, warum sich die alte Dame zusätzlich mit der Fußbank in Gefahr begeben haben soll.«

Das hatte ich auch gerade schon festgestellt, dachte Melanie und wünschte, dass die beiden endlich genug gebohrt hätten.

Als ob sie es laut gesagt hätte, erhoben sich beide wie auf Kommando.

»Ja, Frau Basler, es wird wohl noch etwas dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt. Vielleicht ist uns ja auch „Kommissar Zufall“ eine Hilfe. Wir werden mit Ihnen in Kontakt bleiben und bitten Sie, sich für eventuelle weitere Fragen zur Verfügung zu halten.«

Melanie brachte beide zur Tür und sagte: »Ich habe nicht die Absicht zu verreisen, wenn Sie das meinen.«

Plötzlich kam sie sich vor wie in einem schlechten Film. Die Kripo hatte doch nicht ernsthaft sie in Verdacht? Die beiden hatten es zwar nicht direkt angesprochen, aber in diesen Krimis bringen doch auch ständig Leute ihre Angehörigen um, nur um in den Genuss der Erbschaft zu kommen. Gottseidank hatte Irmgard keine Reichtümer besessen, aber in der heutigen Zeit kannte ja Habgier keine Grenzen.

Sie brachte die üblichen Abschiedsfloskeln hinter sich und schloss erleichtert die Tür. Sie lehnte sich an das kühle Metall des Türblattes und atmete tief durch. Hoffentlich würde der Albtraum bald ein Ende haben.

Vera wusste, dass man ihr heimlich den Spitznamen „Miss Eisblock“ verpasst hatte, weil sie scheinbar kein Interesse am anderen Geschlecht zeigte und Avancen stets erfolglos an ihr abprallten. Nur Marie ahnte wahrscheinlich, dass man ihr bitter Unrecht tat, denn in Wahrheit sehnte sich Vera wie andere junge Frauen ihres Alters, geliebt und begehrt zu werden. Sie hatte keineswegs vor, eine alte Jungfer zu werden. Ihre kühle Zurückhaltung sollte nur von ihrem heißblütigen Verlangen ablenken. Nur, wenn sie schon nicht Peter wiederbekommen könnte, sollte es wenigstens jemand sein, der ihm so ähnlich wie möglich war.

Hin und wieder hatte sie Maries Bemühungen, sie beim Tanzen in einer Diskothek etwas abzulenken, nachgegeben. Doch Vera hatte sich dort nie sehr wohl gefühlt, wenn überhaupt, alleine getanzt und kaum ihre Umgebung wahrgenommen. Flirtversuche hatten sie allesamt nicht erreichen können. Insgeheim hatte sie in jedem männlichen Gesicht unter den Gästen nur den verlorenen Geliebten gesucht. Doch wenn dieser überhaupt noch am Leben war, hätte er sicher in keiner Diskothek Zerstreuung gesucht, war ihr durchaus bewusst. Und wie hätte er sie erkennen sollen? Kaum vorstellbar, dass sie ebenso aussah wie seine damalige Freundin. Und es war bei Weitem nicht gesagt, dass er sich überhaupt noch an sie erinnerte oder sich gar nach ihr sehnte. Sie hoffte es zwar inständig, sah aber selbst nur eine geringe Chance.

In jener Nacht des Jahres 1992 sollte alles anders sein. Wieder hatte Marie Vera hartnäckig überredet, sie in eine Diskothek, die gerade „in“ war, zu begleiten. Vera hatte sich kaum umgeschaut und nur selten zu den tanzenden Pärchen hingesehen. Schließlich hatte Marie sie gefragt, wie man am besten Peters Typ beschreiben könnte.

Vera deutete auf einen aschblonden, jungen Mann mit herbmännlichem Gesicht und glatten Haaren, der sie schon eine Weile beobachtete. Als er herüberkam, um sie um den nächsten Tanzen zu bitten, stimmte Vera wie in Trance zu. Von der Tanzfläche aus konnte sie bald darauf beobachten, wie Marie ihr eine Notiz hinterließ, bei der sie auf ihr frühes Aufstehen hinwies und ein baldiges Telefonat ankündigte, und nach kurzem Winken und Zunicken ging. Die Ausrede in Maries Zeilen erkannte Vera sofort. In Wahrheit ging es der Freundin nur darum, nicht zu stören.

Vera konnte nicht aufhören, den Burschen anzusehen, der vom Alter her allenfalls Peters Sohn hätte sein können. Das gab es doch nicht – die gleichen Augen und sogar das spöttische Lächeln – dachte Vera. Volker, wie der Bursche sich später vorstellte, deutete Veras intensive Blicke so, dass sie leichte Beute war. Alsbald forderte er sie auf mitzukommen. Vera folgte ihm wie unter Hypnose. Auf der Fahrt zu seiner Wohnung betrachtete sie immer wieder sein Profil, während Volker irgendwelches belanglose Zeug plapperte, das Veras Ohren nicht erreichte.

In dem modern eingerichteten, aber kühl und nichtssagend wirkenden Appartement kam Volker übergangslos zur Sache. Er warf Vera aufs Bett und riss ihr die Kleider vom Leib. Das war noch nicht einmal die Ursache für ihr jähes Erwachen. Schließlich erinnerte sie sich an Peters ungestüme Art.

Als Vera auf dem weichen Bett lag, veränderte sich vor ihren Augen der Raum. Plötzlich war es wieder das Hinterhofzimmer von Peter. Durch die trüben Scheiben fiel kaum Sonnenlicht, aber genug, um den Staub auf den Möbeln und dem Boden zu sehen. Sie hatte nur einen Unterrock an, denn ihr Kleid hing auf einem Bügel an Peters Schrank. Ihr Geliebter zog sich gerade Hemd und Hose aus, und Vera glühte vor gespannter Erwartung, seine zärtlichen Hände auf ihrem Körper zu spüren.

Doch dann nahm die Sache von einem Moment auf den anderen einen unheilvollen Verlauf. Der Mann, der da auf ihr hockte, war nicht ihr geliebter Peter, erkannte Vera schmerzlich. Seine schneidende, kalte Stimme hatte eine völlig andere Klangfarbe als die ihres Geliebten.

»Jetzt lieg nicht da wie eine Gummipuppe … mach mir die Hose auf und liebkose mein bestes Stück …!

»Nein, bitte …«

»Was heißt hier nein? Ich habe doch deine geilen Blicke gesehen. Pech für dich, wenn du es dir anders überlegt hast. Einen Rückzieher machen gibt es nicht.«

»Nein, ich will das nicht …«

»Also schön, wenn du es mir nicht französisch besorgst, machen wir es eben auf die altmodische Tour.«

Volker riss ihr das Höschen vom Leib und spreizte gewaltsam ihre Beine. Dann drang er ohne jede Rücksichtnahme in sie ein.

Vera spürte, dass sie keine Chance bei dem kräftigen Burschen hatte. Sein verschwitztes Gesicht über ihr wies eine brutale Miene auf, die die letzte Illusion über eine Ähnlichkeit zu Peter zerstörte. Vera liefen die Tränen vor Schmerz und Enttäuschung herunter.

Dann war es plötzlich vorbei. Der Bursche, der sich Volker nannte, wälzte sich zur Seite, stand vom Bett auf und machte sich die Hose zu.

»Wenn du willst, kannst du ins Bad gehen, bevor du wieder abhaust«, sagte er kalt, »aber schmier meine weißen Handtücher nicht mit Schminke voll.«

Mit geschlossenen Augen, unfähig, sich zu bewegen, lag Vera da. Sie hoffte jeden Moment, in ihrem eigenen Bett aufzuwachen, doch die schneidende Stimme belehrte sie eines Besseren.

»Jetzt mach nicht so ein Theater, als hätte ich dir sonst was angetan. So seid ihr, ihr Weiber. Erst macht ihr einen scharf, und dann heißt es plötzlich April, April. Du bist bestimmt schon mit anderen mitgegangen, die weniger als ich auf dem Kasten hatten. Ich habe es dir doch tüchtig besorgt. Das wolltest du doch. Also raus jetzt, damit ich meine Ruhe habe.«

Vera sagte kein Wort, richtete nur notdürftig ihre Kleidung und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzusehen. Draußen überkam sie der überwältigende Wunsch zu sterben.

Später war Vera Marie unendlich dankbar, nicht bedrängt zu werden, über die folgenschwere Nacht zu reden. Sie war tatsächlich jahrelang nicht bereit dazu, und Marie hatte instinktiv gespürt, dass da etwas gewaltig schief gelaufen sein musste. Veras fataler Irrtum hatte sich gezeigt, als sie nicht mehr zurück konnte. Mitunter verfolgte sie nachts noch das brutale Vorgehen des Mannes. Ein Trauma, das ihr noch monatelang zu schaffen machte.

Trutz war schlecht gelaunt. Er hatte sich in sein kleines Büro hinter der Videothek zurückgezogen und kümmerte sich um die Buchführung. Wenn einer seiner Angestellten ihn nach einer Bestellung fragen kam, reagierte er gereizt oder gab nur knapp die gewünschte Auskunft. Die jungen Burschen verschwanden dann schnell wieder und berichteten im Laden: »Vorsicht, der Alte ist mal wieder mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.«

Seiner ersten Kraft, Birgit, einer aufgedonnerten Rothaarigen, mit stets viel zu tief dekolletierten Kleidern, machte die Bemerkung wenig Eindruck. Sie wusste genau, wie sie ihren Chef zu nehmen hatte. Ihre Wirkung auf die überwiegend männliche Kundschaft musste früher oder später auch bei Trutz Erfolg haben, dessen war sie sich völlig sicher. Sie war ohnehin der Meinung, viel besser zu ihm zu passen als diese leicht ironische Dunkle, die er ihr als Melanie vorgestellt hatte.

Birgit war mehr der Weibchentyp, der auf Bestellung in Tränen ausbrechen konnte und den Chef mit einem lasziven Blick aus ihren meergrünen Augen aus der Fassung zu bringen versuchte. Ihre Reize, gepaart mit einer tüchtigen Portion Geschäftssinn, zeigten bei Trutz erste Wirkung. Er hatte sich dabei entdeckt, wie er Birgit mit Blicken auszog. Die stand seitdem innerlich bereit, wie das Raubtier kurz vor dem Sprung nach der Beute.

An diesem Tag war Trutz zu sehr mit seinen Gedanken über Melanie beschäftigt. Er hatte Birgits Frage, ob sie ihm einen Kaffee bringen solle, nur knapp mit: »Nein, später vielleicht, danke« beantwortet. Wonach sie sich schlau diskret entfernt hatte. Ärger mit Melanie konnte Birgit nur recht sein.

Trutz wusste nicht, wie er an Melanie herankommen konnte. Bei seinen Anrufen war immer der Anrufbeantworter eingeschaltet gewesen. Als sie am dritten Tag nicht zurückgerufen hatte, war er kurzerhand in die Wohnung gefahren. Sie waren nur mit Mühe einem Streit entgangen.

Trutz hatte Melanie in ihrem schwarzen Zimmer vorgefunden. Der Aschenbecher war voller Kippen und der Raum von Melanies Lieblingsmusik erfüllt gewesen. Sie hatte sich zwar das Gesicht getrocknet, bevor sie Trutz hereinließ, ihm waren aber ihre geröteten Augen nicht verborgen geblieben. Seinen Aufmunterungsversuch, sie zu einem Popkonzert einzuladen, hatte sie ausgeschlagen. Melanie ergab sich ihrer Trauer und wollte nicht unter Menschen.

Erst nach längerem Anlauf hatte sie von dem Besuch der Kripo erzählt, ohne dabei ins Detail zu gehen. Als das Gespräch auf die Schlüssel zu Irmgards Wohnung gekommen war, hatte Trutz ihr angeboten, sie in die Wohnung zu begleiten. Melanie hatte überraschend zugestimmt. Der Gedanke an die leere Wohnung bereitete ihr wohl Unbehagen.

Während Trutz die Lebensmittel aus Irmgard Wenzels Kühlschrank entsorgt hatte, war Melanie zum Fenster gegangen, um frische Luft hereinzulassen. Sie war nicht in der Lage gewesen, die Balkontür zu öffnen. Ihre Schritte hatten sie zum Fenster daneben geführt. Als sie wie gebannt minutenlang davor verharrte, war Trutz zu ihr gegangen, um ihrem Blick zu folgen.

Er war gerade noch rechtzeitig dazu gekommen, um die blasse Gestalt auf der anderen Straßenseite zu entdecken, die zu den Fenstern heraufstarrte. Als Trutz neben Melanie getreten war, hatte sich der junge Mann eilig entfernt. Auf Trutz’ Frage, ob das nicht der Kerl vom Friedhof gewesen sei, hatte Melanie nicht geantwortet. Stattdessen war sie langsam in jedes Zimmer der geräumigen Wohnung gegangen und hatte sich alles angeschaut, als ob es das erste Mal gewesen wäre.

Trutz dachte unablässig über Melanies Verhalten nach. Er war sicher gewesen, dass Melanie in der Nacht der Beerdigung ebensoviel für ihn empfunden hatte wie er für sie. Umso unverständlicher fand er die Tatsache, dass sie seitdem nicht mehr miteinander geschlafen hatten.

Was diesen Kerl betraf, der stets wie ein Gespenst auftauchte, wusste er nicht, ob er eifersüchtig sein sollte oder sich Sorgen machen musste. Ihm war klar, dass es sich nur um die zwielichtige Gestalt handeln konnte, die diese Nachbarin von Frau Wenzel erwähnt hatte. Aber wenn er Dreck am Stecken hatte, hätte ihn doch die Kripo sicher verhaftet, wo sie sogar Melanie verhört hatten.

Andererseits, wenn da wirklich etwas zwischen den beiden lief, passte das Verhalten des Kerls nicht ins Bild. Er hätte sich entweder selbstverständlich zu den Trauergästen dazu gesellen müssen oder gar nicht erst in Erscheinung treten dürfen.

Zu allem Überfluss hatte Trutz sich auch noch von seiner Mutter die Hölle heiß machen lassen müssen. Die aufgebrachte Frau hatte Melanies Verhalten unmöglich gefunden. Trutz’ Einwand, dass Melanie weiße Blumen und Trauerschärpen hasste, war auf wenig Verständnis gestoßen. Man hätte gegenüber den Trauergästen gewisse Pflichten, die Melanie entweder nicht bekannt waren, oder über die sie sich leichtfertig hinweg gesetzt hatte. Und überhaupt sei Trutz’ Eltern schon immer klar gewesen, dass Melanie nicht die richtige Frau für ihren einzigen Sohn sei. Der Einwand von Trutz, dass das nur ihn etwas anginge und seine Mutter nicht für seinen Vater sprechen solle, da der Melanie ganz gern mochte, hatte das Gespräch zu einem vorzeitigen Ende gebracht, da seine Mutter einfach aufgelegt hatte, nicht ohne vorher noch: »Du wirst schon sehen, was du davon hast«, gekeift zu haben.

Trutz schmiss seinen Stift zur Seite. Ihm fehlte einfach die nötige Konzentration, um sich seiner Arbeit widmen zu können. Er konnte nur abwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Melanie ging inzwischen wieder ins Büro und würde sich sicher melden, wenn sie wieder zur Vernunft gekommen war.

Er sehnte sich plötzlich nach einem heißen Kaffee, der vor dem prallen Busen von Birgit hergetragen werden würde. Wie gut, dass es noch Frauen in seiner Nähe gab, die man nur herzupfeifen brauchte.

Melanie hatte die letzten Tage wie in Trance verbracht. Sie war antriebslos ins Büro gegangen und hatte die Kondolenzbekundungen ihrer Kollegen über sich ergehen lassen. Die Arbeit tat ihr wider Erwarten gut, ihre Gedanken hörten auf, sich im Kreis zu drehen.

Dennoch war der Besuch in der Wohnung ihrer Großmutter nicht ohne Folgen geblieben. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie die Wohnung auflösen oder behalten sollte. Mit den Räumen waren so viele Erinnerungen verbunden. Ob sie allerdings jemals wieder einen Fuß auf den Balkon setzen könnte, erschien ihr jenseits aller Vorstellungskraft.

Was sollte sie nur mit den schönen alten Möbeln und Irmgards persönlichen Dingen machen, wenn sie die Wohnung aufgeben würde? Da sie noch im Mietvertrag mit eingetragen war, würde die Hausverwaltung sie bestimmt als Hauptmieter akzeptieren. Die Wohnung war kaum teurer als ihre und hatte ein Zimmer mehr. Sie könnte die besten Möbel mit ihren mischen und sich sehr viel langsamer von Großmutters Sachen trennen, als sie es bei einer Wohnungsauflösung tun müsste, überlegte sie. Den Balkon brauchte sie ja nicht unbedingt zu nutzen. Und was ist, wenn die Fenster geputzt werden müssen? – Sogleich meldete sich ihr skeptischer Verstand.

Melanie entschloss sich dann, mindestens noch einen Monat zu warten, bevor sie die Wohnung kündigen würde. Bei einer einjährigen Kündigungsfrist kam es auf einen Monat auch nicht mehr an. Oder galt die nur für den Mieter? Gab es für die Angehörigen von Verstorbenen andere Fristen? Sie wollte sich im Augenblick einfach nicht mit solchen Fragen herumschlagen.

Die Stunden in ihrem schwarzen Zimmer hatten sie zwar etwas beruhigt, und das ungehemmte Weinen hatte vieles weggespült, trotzdem fand sie nachts keine Ruhe. Die Träume wurden immer bedrohlicher.

Wieder fand sie sich in der engen Grube, unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen. Aus ihrem geöffneten Mund kam kein Laut. Die gleiche Untersicht ließ sie in das Gesicht des kleinen Mädchens blicken, das über ihr kniete. Nur diesmal hatte es kein tränennasses Gesicht, sondern ein teuflisches Grinsen entstellte die kindlichen Züge. Voller Entsetzen stellte Melanie fest, dass das Kind den Schnee nicht wegschaufelte. Es war unablässig bemüht, mit seinen kleinen Händen die Grube zuzuschütten. Das Schrecklichste war aber, dass Melanie glaubte, in einen Spiegel zu sehen. Sie war gleichzeitig die Person, die erstickt wurde und die, die dafür sorgte.

Als Melanie aus ihrem Albtraum erwachte, konnte sie sich noch genau erinnern, dass das Mädchen keine Ähnlichkeit mit ihren eigenen Kinderfotografien gehabt hatte. Melanies Fotos zeigten ein aufgewecktes Kind mit einer dunklen Bubikopffrisur. Die rabenschwarzen Augen beherrschten das ganze Gesicht. Das Mädchen aus dem Traum hatte dagegen aschblonde Zöpfe und wesentlich hellere Rehaugen. Irgendwo hatte Melanie dieses Kind schon einmal gesehen, wo nur? Und woher kam das Gefühl, dass sie selber es war? Das Paradoxon, gleichzeitig beide Kinder gewesen zu sein, bereitete Melanie noch die geringste Sorge. Sie kannte inzwischen ihre ungewöhnlichen Träume und wunderte sich nicht mehr darüber. Wenn sie doch nur eine Erklärung finden könnte, was ihr die Träume sagen wollten, wünschte sich Melanie. Sie fühlte, dass sie ohne fremde Hilfe nicht dahinterkam. Aber deshalb zu einem Therapeuten gehen? Sie war doch nicht verrückt. Was bedeutete es schon, dass sie von frühester Kindheit an Angst vor weißen Flächen hatte? Es gab genügend Menschen, die bei dem Anblick von Spinnen in Panik gerieten und gut damit leben konnten. Jeder hatte doch vor irgendetwas Angst. Ihre ehemaligen Klassenkameradinnen Vera und Marie hatten sich vor Wasser und großer Höhe gefürchtet, erinnerte sie sich. Ob das wohl heute auch noch bei den beiden so war? Schade, dass sie ihnen nie wieder begegnet war. Und sie ängstigte sich eben vor dieser Farbe, die eigentlich gar keine Farbe ist. Vielleicht war es die gleiche Angst, die ein Autor vor einem leeren Blatt Papier verspürt, tröstete sie sich. Dieses blendende Nichts konnte mit allem gefüllt werden, in der Hauptsache mit den schrecklichsten Dingen, davon ließ sie sich nicht abbringen.

Großmutter hatte damals keinen Rat gewusst, als Melanie panisch auf Schnee reagiert hatte. Im Gegensatz zu anderen Kindern war sie nicht um alles in der Welt dazu zu bewegen gewesen, einen Schlitten zu besteigen.

Irgendwann hatte Irmgard erkannt, dass Melanies Theater vor dem Zubettgehen nichts mit nicht schlafen wollen zu tun hatte und dass die bunte Decke auf ihrem Bett nicht Wärme bringen sollte, sondern Farbe. Von da ab war nur noch gemusterte Bettwäsche aufgezogen worden und wenn es geschneit hatte, waren sie in der Wohnung geblieben, um sich mit Handarbeiten zu beschäftigten. Irmgard war viel zu verständnisvoll, um daraus ein Drama zu machen.

Melanie wurde bewusst, dass sie, wenn sie an Irmgard dachte, immer noch die Gegenwartsform benutzte. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie künftig auf dieses gütige Wesen verzichten musste.

Marie wollte nicht länger in ihrem Lehrbetrieb arbeiten, um nicht für immer die ehemalige Auszubildende zu bleiben, deshalb stellte sie sich in verschiedenen Buchhandlungen vor. Der Urlaub, den sie noch zu beanspruchen hatte, verhalf ihr dann zu der neuen Nase. Vera besuchte sie noch einmal in der Klinik und konnte sich davon überzeugen, dass die Heilung zügig voranging. Marie war mit dem Ergebnis vollauf zufrieden, und das war die Hauptsache. Sie trug auch dem Arzt nichts nach, was Vera sehr verwunderte, aber schließlich war es ihre Sache, den Vorfall nicht weiter zu verfolgen. An der Schwelle des Todes gestanden zu haben, hatte den angenehmen Nebeneffekt, einige Dinge klarer zu sehen. Ihre hochdramatischen, immer deutlicher werdenden Träume zeugten davon.

Vera bedauerte sehr, Marie nicht vom Bahnhof abholen zu können, da sie leider arbeiten musste. Erleichtert erfuhr sie, dass Maries Großeltern, Konrad und Alice, dies getan hatten. Sie hatten dann nach Vera als Erste erfahren, was Marie erlebt hatte. Beide schlussfolgerten logisch, dass Marie es wohl kaum erwarten konnte, mehr über Cindys Vergangenheit zu erfahren, und gaben ihr Ratschläge, wie am besten vorzugehen sei.

Marie wollte Vorsicht walten lassen und ihre Erwartungen zurückschrauben, um nicht enttäuscht zu werden. Nur hinter Cindys Geheimnis zu kommen, wollte sie sich nicht entgehen lassen. Um ihretwillen und Cindys wegen.

Damals im anderen Leben

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