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Kapitel 2

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Trutz fand in unmittelbarer Nähe des Friedhofs einen Parkplatz und half Melanie liebevoll aus dem Wagen. Als er ihr das Gesteck in den Arm legte, rutschte ihm heraus: »Schatz, du musst jetzt sehr tapfer sein.«

Melanie spürte die Sorge hinter seinen plakativen Worten und nickte nur stumm. Sie hakte sich bei ihm ein und fühlte den wohltuenden Halt seines starken Armes. Sie gingen die wenigen Schritte bis zum schmiedeeisernen Tor schweigend. Aus dem Augenwinkel nahm Melanie die Ankündigung im Schaukasten am Eingang wahr: Trauerfeier Irmgard Wenzel um 10.00 Uhr in der Kapelle.

Vor der Kapelle warteten die Eltern von Trutz mit einem zu groß geratenen Kranz mit einer weißen Schärpe. Die goldene Schrift bescheinigte: In tiefer Trauer, Familie Körbel. Entsprechend der unpassenden Formulierung schloss Frau Körbel Melanie in die Arme.

»Mein armes Kind, ich kann dich so gut verstehen«, sprach sie mit übertriebenem Gesichtsausdruck.

Herr Körbel war von angenehmer Distanz und drückte nur Melanies Hand, indem er ihr warmherzig in die Augen sah.

Melanie wurde wieder einmal bestätigt, woher Trutz seinen Hang zur Manieriertheit hatte. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich eine Zigarette anzuzünden und hastig zu rauchen. Den strafenden Blick von Frau Körbel übersah sie demonstrativ. Trutz kam nur dazu zu sagen: »Aber Liebling, du hast doch noch nichts gegessen«, als sie schon in die Kapelle gebeten wurden.

Sie setzten sich in die erste Reihe des kleinen, geschmückten Raumes. Auf den hinteren Bänken nahmen drei ältere Frauen, ein älteres Ehepaar und ein junger Mann Platz, der kreideweiß im Gesicht war und sich bemühte, so wenig wie möglich aufzufallen.

Melanie erblickte den schweren Eichensarg, der mit zartrosa Lilien und Rosen geschmückt war. Der Pfarrer begrüßte die Anwesenden und hielt einen kurzen Nachruf auf „die teure Verblichene“. Melanie hätte hinterher keinen zusammenhängenden Satz seiner Rede wiedergeben können. Bei dem Vorgespräch vor wenigen Tagen war es ihr nicht gelungen, den Geistlichen von einer Ansprache abzuhalten. Es hatte sie alle Überredungskunst gekostet, ihn wenigstens dazu zu bewegen, die anschließende Grabrede in lateinischer Sprache zu halten. Das Signal für das Ende seiner Ausführungen sollten die Worte: „Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub sein“.

Melanie hielt sich tapfer - bis die Orgel ertönte. Augenblicklich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die traurige Melodie des alten Instrumentes setzte ihrer Beherrschung ein Ende. Ihre Versteinerung wich einer fast kindlichen Hilflosigkeit. Sie weinte lautlos und spürte endlich, wie die Anspannung der letzten Tage etwas nachließ. Sie hatte darum gebeten, die Absenkung des Sarges in den Keller nicht mitansehen zu müssen. Die Wiederholung der Szenerie an der Grabstelle würde ohnehin ihre ganze Kraft kosten.

Trutz stützte sie auf dem Weg hinter dem Sarg. In zweiter Reihe folgten seine Eltern. Hinter den älteren Damen bildete das Ehepaar aus der Kapelle den Abschluss. Der gespenstische junge Mann war nicht zu sehen. Erst nachdem Melanie dreimal Erde auf den Sarg geworfen hatte entdeckte sie seine schmale Gestalt in angemessener Entfernung, halb durch einen Baum verdeckt. Er hatte den Blick gesenkt und versteckte hinter seinem Rücken einen Strauß weißer Rosen. Erst als sie auf dem Weg zum Ausgang waren, fiel ihr ein, dass er nicht unter den Personen, die ihr Beileid ausgesprochen hatten, gewesen war. Unmittelbar nachdem sie das Grab verlassen hatte, waren sie für einen Moment nur durch eine Grabreihe getrennt gewesen. Er hatte vorschnell seine Deckung verlassen und war zu überrascht, um die Flucht zu ergreifen. Sekundenlang waren sich ihre Augen begegnet. Es hatte auf Melanie wie ein Stromschlag gewirkt. Sie hatte bis dahin noch nie so blaue Augen gesehen. Die meiste Verwirrung hatte aber ihr Gefühl bewirkt, sie hätte für einen winzigen Augenblick die Ewigkeit gesehen.

Die in angemessener Entfernung stehenden Kripobeamten hatten sie wieder in die Realität zurückgeholt. Außerdem ließen sie die Ausführungen von Irmgards Nachbarin nicht los. Die etwas aufdringliche Frau hatte sich nicht direkt an Melanie gewandt, sondern eindringlich auf Trutz eingeredet, nicht leise genug, dass Melanie es nicht hören konnte.

»Junger Mann, das war kein Unfall«, hatte sie unverblümt begonnen. »Ich stand auf der anderen Seite der Straße, als es passiert ist. Kurz nachdem die arme Frau Wenzel über die Brüstung gestürzt ist, habe ich in der offenen Balkontür einen Schatten gesehen«, hatte sie sich ereifert.

Trutz, dem der Auftritt peinlich war, erwiderte nur: »Nicht so laut, bitte. Ich möchte nicht, dass Melanie davon erfährt. Sie sollten Ihre wilden Spekulationen lieber der Kriminalpolizei mitteilen.«

»Habe ich doch«, keifte sie mit leicht gedämpfter Stimme. »Die haben gesagt, sie werden sich darum kümmern. Aber nichts passiert. Der junge Kerl, der in der Wohnung von Melanies Großmutter ein- und ausging, läuft immer noch frei herum. Der hat sogar die Frechheit, hier noch aufzutauchen.«

»Ich würde mit derlei Verdächtigungen sehr vorsichtig sein«, konterte Trutz mit leicht gereiztem Unterton. Die Frau ging ihm sichtlich auf die Nerven. Außerdem befürchtete er, Melanie könnte davon etwas mitbekommen. Ein eventueller Mord würde bei ihr sicher einen Schock auslösen.

»Ich weiß, was ich gesehen habe, davon lasse ich mich nicht abbringen«, setzte die aufgebrachte Frau erneut an.

»Danke für die Information, aber ich muss mich jetzt um meine Verlobte kümmern«, sagte Trutz und ließ die Frau einfach stehen.

»Nun lass doch gut sein, Frieda!«, beschwichtigte die andere ältere Dame ihre Freundin. »Du hast deine Beobachtung mitgeteilt, alles andere liegt nicht bei dir.« Sie legte ihren Arm um Friedas Schultern und zog sie mit sich fort.

Am Ausgang des Friedhofs hatte Trutz alle Hände voll zu tun, seine Mutter zu beruhigen. Sie war sichtlich empört, dass Melanie nicht für eine private Trauerfeier gesorgt hatte. Er konnte es zwar auch nicht so ganz verstehen, schlug sich aber auf Melanies Seite. Erstens brauchte sie ihn jetzt nötiger und zweitens reizte es ihn hin und wieder, seiner Mutter Paroli zu bieten. Nach kurzer Verabschiedung und den üblichen hilflosen Floskeln gingen die beiden Paare in verschiedene Richtungen zu ihren Pkws.

Während der Schulzeit hatten Vera und Marie ein einschneidendes Erlebnis gehabt. Martin, ein Klassenkamerad, den alle besonders mochten, weil er spannende Geschichten erzählen konnte, beteuerte, in Paris gelebt zu haben. Deshalb konnte er auch fließend Französisch, wie er allen bewies. Seine reichen Eltern seien mit ihm weit gereist in Länder wie Mexiko, Chile oder Ägypten. Dort hätte eine Lebensmittelvergiftung seinem kurzen Leben ein Ende gesetzt, und keineswegs der Stich eines Skorpions, wie man vermuten konnte, behauptete er allen Ernstes. Die Kinder lauschten seinen Reiseberichten voller Wonne, bis einige Eltern von Mitschülern ihnen untersagten, mit dem „verrückten“ Jungen zu verkehren. Konrad, der Veras, Maries und auch Melanies Klassenlehrer geworden war, setzte sich für Martin ein, leider mit wenig Erfolg.

Eines Tages war in der großen Pause auf dem Schulhof mal wieder Martins sogenannte Phantasie thematisiert worden. Eine Klassenkameradin ereiferte sich gerade lautstark über Martins „Lügengeschichten“, als Vera unerwartet für ihn in die Bresche sprang.

„Red nicht schlecht über Martin! Seine spannenden Geschichten halte ich für wahr und nicht erfunden“, sagte sie unwirsch, woraufhin das Mädchen sie fragte, ob sie etwa glaube, auch schon einmal gelebt zu haben.

»Ich meine, mich an einen Sturz von einem hohen Gebäude zu erinnern“, sagte Vera völlig emotionslos.

Die Mitschülerin bekundete ihren Unglauben, indem sie Veras Angst, vom Dreimeterbrett zu springen, zur Sprache brachte. Die eigentliche Angst sei wohl die vor Wasser behauptete sie ungeniert, was Marie einen Stich versetzte.

»Was ist das für eine Geschichte mit dem hohen Gebäude?«, fragte Marie, als sie alleine waren, »hast du das nur gesagt, um der dummen Göre eins auszuwischen?«

»Nein, ganz und gar nicht. Ob ich gestoßen wurde oder selber gesprungen bin, kann ich dir aber nicht sagen.«

„Hast du noch andere Erinnerungen?“, wollte Marie wissen.

Vera glaubte, nun sei die Gelegenheit gekommen, Marie von Peter zu berichten. Ihrem Liebsten, mit dem sie so manche glückliche Stunde in seiner kleinen Einzimmerwohnung mit Ofenheizung auf dem Hinterhof verbracht hatte. Eine unbeschreiblich glückliche Zeit, die jäh zu Ende gegangen war, weil Peter sie verlassen hatte. Nicht etwa, weil er sie nicht geliebt hatte, sondern weil ihr der Mut fehlte, ihm zu folgen.

Marie, die nicht gleich verstand, vermutete eine Sandkastenliebe unter Kindern, doch Vera behauptete ernsthaft, derzeit schon Anfang zwanzig gewesen zu sein. Es müsse sich um die sechziger Jahre gehandelt haben, wie der Stoff und der Schnitt des Kleides, das sie bei Peter immer ordentlich auf einen Bügel gehängt hatte, vermuten ließ.

Das Schrillen der Schulglocke, die das Ende der Pause verkündete, unterbrach das Gespräch der beiden Freundinnen. Dabei hätte Marie noch so viele Fragen gehabt, aber Vera vertröstete sie auf ein andermal, um ihren Mitschülerinnen nicht noch mehr Anlass für Klatsch zu geben.

Keine von beiden hatte bemerkt, von ihrer Mitschülerin Melanie Basler belauscht zu werden. Das hübsche, dunkelhaarige Mädchen war nicht der Typ, mit dem Gehörten hausieren zu gehen. Sie behielt es für sich und erzählte noch nicht einmal ihrer geliebten Großmutter, bei der sie lebte, davon. Dabei hätte sie so gerne einer Gleichaltrigen von ihrer Weiß-Phobie berichtet, ganz zu schweigen von ihren bedrohlichen Träumen. Vielleicht würde man sie dann in den Kreis der seltsamen Kinder aufnehmen.

Marie hatte ihr Haar, das jetzt blonder war, wachsen lassen, um es zu einem sogenannten Pferdeschwanz zusammenbinden zu können und Bekleidung der fünfziger Jahre bevorzugt. Vera hingegen hatte ihr Herz für die Sechziger entdeckt, hörte die Musik von Francoise Hardy, deren Frisur sie hemmungslos kopierte, Hervé Villard, Richard Anthony, den Walker Brothers und den Beatles. Doris Berger war sichtlich irritiert, dass ihre Tochter die Musik ihrer Jugendjahre bevorzugte und nicht wie andere Jugendliche sich für Stars wie Madonna, Kim Wilde oder Michael Jackson begeistern konnte. Als Vera auch noch anfing, Minikleider mit grafischen Mustern, die Doris nur allzu gut aus ihrer Jugend kannte und mittlerweile ziemlich scheußlich fand, in Secondhandläden zu kaufen, stellte Doris kurzzeitig den Verstand ihrer Tochter in Zweifel. Aber da Veras beste Freundin es noch toller trieb, indem sie weitschwingende Röcke mit Pettycoats darunter trug oder Caprihosen und flache Ballerinas, ließ sie den Mädels ihren Spaß, bewunderte sie sogar dafür, sich nicht weiter darum zu scheren, wenn sie in der Schule oder auf der Straße belächelt wurden.

Eines Abends war Marie atemlos und mit glühenden Wangen zu Vera gekommen. Sie konnte unmöglich diesen außergewöhnlichen, wunderbaren Nachmittag bei ihren Großeltern Alice und Konrad für sich behalten.

»Die beiden haben mich heute ausführlich über Cindy ausgefragt«, begann sie, »dann eröffneten sie mir, dass es viele Menschen gibt, die sich an ein früheres Leben erinnern. Dieses Phänomen heißt Reinkarnation oder Wiedergeburt. In Büchern kann man darüber lesen, wie manche auf Spurensuche gehen, um Menschen aus der damaligen Zeit zu finden.«

»Ich würde es eher als Ahnenforschung bezeichnen«, hatte Vera eingeworfen.

»Nein, nein, es geht um das Erinnern. Es gibt Therapeuten, die diesen Menschen helfen. Einer von ihnen ist Thorwald Dethlefsen, der auch Bücher schreibt. Unter anderem findet man darin die Protokolle der sogenannten Rückführungen. Früher geschah das unter Hypnose oder einer Art Trance, heute sogar bei klarem Bewusstsein. Die Patienten sehen ihr früheres Leben wie in einem Film. Sie erinnern sich, wie sie damals hießen, in welcher Stadt sie wohnten und an die Umstände ihres Todes.«

»Dann werden wir uns schnellstens diese Bücher besorgen, und wenn uns dieser Detlef gefällt, werden wir ihm schreiben, ob er uns auch zurückführt.«

Marie hatte gelacht. »Stell dir das nicht so einfach vor. Dethlefsen, wie er wirkliche heißt, kann sich vor Anfragen bestimmt kaum retten. Außerdem muss es ziemlich teuer sein. Alice und Konrad wollen deshalb auf ihren Auslandsurlaub verzichten, um mir die Behandlung zu finanzieren, die Guten. Ich habe natürlich abgelehnt.«

»Waaas? Bist du wahnsinnig? Da bietet sich dir die Chance, endlich etwas über deine Vergangenheit als Cindy zu erfahren, und du sagst: nein, danke.«

»Jetzt friss mich nicht gleich. Einmal möchte ich sie nicht um ihre Urlaubsreise bringen …«

»Aber wenn sie es dir doch angeboten haben. Du kannst ruhig davon ausgehen, dass sie zuvor gründliche Überlegungen angestellt haben.«

»Trotzdem. Irgendwie fehlt mir der Mut. Allein die Vorstellung ängstigt mich schon. Ich bin noch nicht so weit. Es muss einen anderen Weg geben, etwas über früher herauszubekommen. Lass uns erst einmal mit der Lektüre anfangen …«

»Wenn du meinst … also, ich hätte nicht nein gesagt.«

Durch den Wechsel zur Oberschule waren die beiden Mädchen getrennt worden, zumindest, was den Schulbesuch anging. Dafür verbrachten sie ihre Freizeit mehr denn je zusammen, und die beiden Schulen lagen ohnehin in Parallelstraßen. Der Grund für die Trennung war, dass Vera unbedingt Abitur machen wollte und deshalb das Gymnasium besuchte. Marie hingegen hatte die Realschule gewählt, weil sie nicht noch zwei Jahre länger Sport als Unterrichtsfach haben wollte.

Unter Maries Klassenkameraden hatte sich in der Oberschule wiederum Melanie befunden. Marie und Melanie waren zwar nicht unbedingt Freundinnen geworden, aber sie hatten einander respektiert und die Leistungen der anderen anerkannt. Für die hübsche, aber eher unscheinbare Melanie war Wiedergeburt nach wie vor kein Thema. Das sollte sich erst viele Jahre später ändern. Nur hätte das Melanie zu damaliger Zeit niemals geglaubt. Noch viel weniger, dass ausgerechnet ihre Mitschülerin Marie sich in einer ganz ähnlichen Situation, einer Zwickmühle, befinden würde.

Anders als in der Grundschule waren Vera und Marie wegen ihres altmodischen Kleidungsstils nicht mehr belächelt worden. Im Gegenteil. Die Jungen umwarben sie, weil sie sich von der Masse abhoben. Doch während Marie dem Werben nachgab und bald den ersten Freund hatte, reagierte Vera spröde auf die Avancen. Als Marie sie einmal darauf angesprochen hatte, war Veras Reaktion ungewöhnlich heftig ausgefallen. Für sie würde nie ein anderer Mann als Peter – der Mann von dem sie träumte oder an den sie sich erinnerte – existieren, hatte Vera geantwortet. Maries Einwand, Peter würde vielleicht schon tot oder inzwischen viel zu alt für sie sein, hatte Vera mit einer Handbewegung weggewischt. Veras unerschütterliche Liebe zu einem Phantom grenzte für Marie fast an Verschrobenheit, wie sie sich puterrot im Gesicht verteidigte und kundtat, dass sie auch in Zukunft die Burschen aus der Gegenwart nicht interessieren würden. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar Marie angegriffen und gesagt, sie hinge doch wohl mindestens ebenso Vergangenem nach wie sie.

Später waren die Freundinnen sich in die Arme gesunken hatten sich versichert, dass Meinungsverschiedenheiten sie nicht trennen könnten und beratschlagt, wie es weitergehen sollte. Die Bücher von Thorwald Dethlefsen waren nicht wirklich hilfreich gewesen, denn Vera und Marie hatten nicht im Mittelalter oder im Barock schon einmal gelebt, sondern in den fünfziger und sechziger Jahren. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich selber auf die Suche zu machen.

Zunächst hatten sie damit begonnen, die Hochhäuser, die es in den sechziger Jahren schon gegeben hatte, in Augenschein zu nehmen. Doch weder im Hansaviertel noch beim Corbusierhaus hatte es bei Vera „klick“ gemacht. Das unweit gelegene Märkische Viertel oder die Gropius Stadt im Süden von Berlin kamen ohnehin nicht infrage, da beide damals noch nicht existiert hatten. Ihre Suche auf Ostberlin auszuweiten, machte erst nach dem Mauerfall 1989 Sinn, als man problemlos das fremde Terrain erkunden konnte. Die Plattenbauten ließen Vera ahnen, womöglich doch zuvor in der ehemaligen DDR gelebt zu haben.

Bei Marie war es ähnlich gewesen, als sie am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte ausgestiegen war. Denn Alice’ Erwähnung, Cornell habe als Kind Bücher für Jungen wie „Onkel Toms Hütte“ gelesen, hatte bei Marie bei dem Namen ein seltsames Gefühl erzeugt. Ihre Aufregung vor Ort hatte zwar Hoffnung erzeugt, aber wo hätte sie anfangen sollen? Das weitläufige Gebiet Straße für Straße und Haus für Haus zu erkunden, war ihr fast aussichtslos erschienen. Vielleicht sollte sie mit Vera einen gemeinsamen Versuch unternehmen, hatte sie gedacht.

Im Zeitungsarchiv eines Museums nachzusehen, war beiden zu dieser Zeit nicht eingefallen. Offensichtlich war die Zeit dafür noch nicht reif gewesen.

Auf dem Heimweg vom Friedhof suchte Trutz vor Melanies Haustür einen Parkplatz. Er schimpfte wie ein Rohrspatz, dass um die Mittagszeit schon alles zugeparkt war. Melanie brachte das Kunststück fertig, ihn zu überzeugen, lieber allein sein zu wollen, ohne dass er einschnappte.

Es fiel im leichter, ihren Wunsch zu respektieren, weil er somit im Laden noch nach dem Rechten sehen konnte. Seine Videothek befand sich noch im Aufbau und die Angestellten waren ebenso neu für ihn. Vertrauen musste sich erst noch aufbauen. Die Aussicht auf einen gemeinsamen Abend und dass Melanie ihm noch keine Absage für die Nacht erteilt hatte, ließ ihn ohne Murren mit einem gehauchten Kuss abfahren.

Melanie betrat ihre Wohnung und schaltete zuerst den Anrufbeantworter ein, nachdem sie Mantel und Schuhe abgelegt hatte. Sie wollte jetzt mit niemandem reden. Mechanisch zog sie sich aus und hüllte sich in ihren weichen Bademantel. Den Rest Kaffee vom Morgen goss sie in eine größere Tasse, und mit Aschenbecher und Zigaretten ausgerüstet, stand sie kurze Zeit unschlüssig in der Küche und konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich ins Bett legen oder lieber in ihr Arbeitszimmer gehen wollte. Nicht, dass sie die Absicht gehabt hätte, zu arbeiten, aber der schmale Raum übte eine besondere, beruhigende Wirkung aus.

Als sie vor zwei Jahren die Wohnung gefunden hatte, war dieser Raum mit Ausschlag gebend gewesen, dass sie hier eingezogen war. Der Vormieter hatte das kleine Zimmer als Dunkelkammer genutzt. Es war schwarz gestrichen und mit schweren Samtvorhängen vor den Fenstern ausgerüstet. Auch die Regale und der große Schreibtisch waren schwarz. Melanie hatte noch einen verchromten Deckenfluter, einen Freischwinger aus Chrom und schwarzem Leder und eine große Stechpalme dazugekauft. Da der Raum für ein Bett ohnehin zu eng war, nutzte sie ihn zum Arbeiten, Lesen und Träumen.

Die anderen Interessenten hatten bei der Besichtigung der Wohnung genauso verschreckt reagiert wie später Trutz. Alle hatten sofort an die Mühe gedacht, die Wände wieder hell zu streichen und waren nicht bereit gewesen, schwarze Möbel zu übernehmen, die sie für eine Geschmacksverirrung der achtziger Jahre hielten. Melanie hatte sofort die besondere Atmosphäre gespürt, die der Raum ausstrahlte. Da sie einen Hang zu Wohnschlafzimmern hatte, reichte ihr das angrenzende, riesige Zimmer völlig. Trutz ging nur ungern in ihre „Gruft“, wie er sagte. Melanie war es recht. Sie hatte nichts dagegen, einen Ort ganz für sich allein zu haben.

An diesem Tag entschied sie sich trotzdem für ihr Bett. Die kurze, unruhige Nacht machte sich bemerkbar, und Melanie hatte das Bedürfnis, sich einzukuscheln. Sie nahm ihre beiden Kopfkissen in den Rücken, lehnte sich mit dem Kopf an die Wand und zog die Bettdecke bis über die Brust. Den Rauch der ersten Zigarette inhalierte sie bewusst und versuchte, dabei ihre Gedanken zu ordnen.

Was hatte diese furchtbare Frau auf dem Friedhof angedeutet? Jemand sollte etwas mit dem Tod ihrer geliebten Oma zutun haben? Unvorstellbar. Aber waren nicht die anderen Versionen ebenso unvorstellbar? Was hatte ihre Großmutter dazu veranlasst, auf einen Fußschemel zu steigen? Wo ihr doch schon ohne Schemel beim Hinunterschauen schwindlig geworden war. Dass sie jemand gezwungen haben sollte, auf den Schemel zu steigen, um sie dann hinunterzustoßen, hörte sich eher nach einem schlechten Kriminalfilm an. Irmgard hätte eher aus Leibeskräften geschrieen, als einem fremden zu Willen zu sein, auch ein Messer oder eine andere Waffe hätte sie nicht davon abgehalten.

Völlig ausgeschlossen war für Melanie die Möglichkeit eines Selbstmordes. Abgesehen davon, dass Irmgard nie aus dem Leben geschieden wäre, ohne sich von ihrer Enkelin zu verabschieden war die Vermutung für jeden, der Irmgard kannte, einfach absurd. Sie war gesund und munter gewesen und hatte das Leben in all seinen Facetten geliebt.

Sie hatte Melanie eine glückliche Kindheit beschert, nachdem ihre Tochter Yvonne mit ihrem Mann Norman tödlich verunglückt war. Das beantragte Sorgerecht war ihr ohne Schwierigkeiten erteilt worden, und mit fünfundvierzig Jahren war sie damit zum zweiten Mal alleinerziehend gewesen. Das hilflose, kleine Mädchen von knapp zwei Jahren hatte ihr damals geholfen, über den Tod der eigenen Tochter hinwegzukommen. Im Gegensatz zu 1956, wo sie ihren Mann verloren hatte und alles viel schwerer gewesen war, hatte sie 1977 mit größerer Reife gerne die Aufgabe übernommen.

Melanie hatte keinerlei Erinnerung an ihre Eltern. Nur manchmal im Halbschlaf kam es ihr vor, als ob sich zwei strahlende junge Menschen über sie beugten. Die Gesichter waren dabei stets wie durch eine Nebelwand nur undeutlich zu erkennen.

Irmgard hatte sich von Anfang an Oma nennen lassen, dabei blieb es auch, als sie Mutterstelle einnahm. Als Melanies Fragen nach Mama und Papa immer drängender geworden waren, hatte Irmgard die „kleine Lösung“: Mama und Papa sind im Himmel benutzt. Als sie Melanie für reif genug gehalten hatte, war sie nicht umhin gekommen, die tragischen Umstände der Elternlosigkeit näher zu beschreiben.

Irmgard konnte sich an die Unglücksnacht im Februar 1977 erinnern, als ob es gestern gewesen wäre. Sie hatte Melanie behutsam die Einzelheiten erzählt. Das junge Mädchen hatte keinen Laut von sich gegeben und gebannt der Geschichte ihrer Großmutter gelauscht.

Melanies Mutter Yvonne hatte mit ihrem Mann Norman dankbar die Gelegenheit genutzt, dass Irmgard auf die Kleine aufpassen wollte. Das junge Paar hatte sich auf den seit Längerem vermissten Tanzabend gefreut. Mit Normans alter „Ente“, wie der Citroen 2CV im Volksmund genannt wurde, waren sie stadtauswärts in eine beliebte Diskothek gefahren. An dem ausgelassenen Abend war viel getrunken und so mancher Joint herumgereicht worden. Der Abend hatte unter dem Motto „Flower-Power“ gestanden. Männlein und Weiblein hatten lockige Afro-Frisuren oder sehr lange, glatte Haare und Blumenkränze um den Hals getragen und Räucherstäbchen für die passende Atmosphäre gesorgt.

Als sie sich gegen Morgen in ausgelassener Stimmung auf den Heimweg gemacht hatten, waren die Straßen durch leichten Nieselregen und unerwarteten Kälteeinbruch spiegelglatt. In einer Kurve hatte Norman die Kontrolle über den Wagen verloren und war frontal gegen einen Baum geprallt. Yvonne war sofort tot gewesen und Norman auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.

Die Polizei hatte in den frühen Morgenstunden Irmgard die traurige Nachricht überbracht. Die Beamten hatten eine vollständig bekleidete, gefasste Frau angetroffen, die in der Nacht kein Auge zugetan und ab einem gewissen Punkt gewusst hatte, dass etwas passiert sein musste.

Melanie war nur die besonders liebevolle Behandlung seitens ihrer Großmutter aufgefallen und dass Mama und Papa von ihrer Reise nicht zurückkommen wollten. Nach ihrer Erzählung hatte Irmgard Melanie zärtlich in die Arme genommen. Beide hatten ihren Tränen freien Lauf gelassen, und Melanie war in dieser Nacht bei ihrer Großmutter im Bett eingeschlafen, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte.

Welches der entscheidende Beweggrund für Vera war, nach der zehnten Klasse von der Schule abzugehen, hätte sie vermutlich selbst nicht sagen können. Sie behauptete zwar, Abitur zu machen und danach Kunstgeschichte oder Theaterwissenschaften zu studieren, habe sie plötzlich nicht mehr interessiert, und das Bafög nur als Kredit zu erhalten, erst recht nicht, auch ihre Mutter finanziell entlasten zu wollen, führte sie ins Feld, doch womöglich hatte sie einfach frei sein und endlich eigenes Geld verdienen wollen.

Vera hatte sich dann für die Dauer von drei Jahren zur Verwaltungsangestellten bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, kurz BfA, ausbilden lassen. Ihre Chancen, übernommen zu werden, standen gut, weil die BfA und die LVA nach der Wiedervereinigung im Begriff gewesen waren, zur Deutsche Rentenversicherung Bund zu fusionieren und der erhebliche Aufwand mehr Personal erforderte. Maries Vorbehalte gegenüber dieser Stellung teilte sie Vera jedoch nicht mit. Die Berufswahl war etwas so Persönliches, dass selbst die beste Freundin darauf keinen Einfluss haben sollte, dachte sie.

Nachdem auch Marie die Mittlere Reife erlangt hatte, war 1991 eine Lehre als Fachbuchhändlerin erfolgt, die ohne nennenswerte Probleme verlaufen war, denn Marie hatte sich großer Beliebtheit bei Kollegen und Kunden erfreut.

Pierre, ein junger Student und Kunde in der Buchhandlung, hatte sie entjungfert, was zum Glück für beide ohne Folgen blieb. Es war trotzdem nichts Ernstes mit ihnen geworden. Marie fühlte sich unverstanden und ging Pierre mit ihren Albträumen sichtlich auf die Nerven. Es war ohnehin mehr etwas Sexuelles zwischen ihnen gewesen resümierte Marie. Doch er verhalf ihr zu der Erkenntnis, dass sie es nicht mochte, angehimmelt zu werden. Sie wollte die Schwächere sein und zu dem Mann aufschauen, der nicht leicht zu durchschauen und lieber voller Rätsel sein sollte.

Den hatte sie dann in Guntram gefunden, ein slawischer Typ mit hohlen Wangen und unergründlichem Blick. Seine undurchschaubaren Neigungen hatten sie halb um den Verstand gebracht. Sein Abenteuer mit einer falschen Blondine, hinter das Marie durch eigene Anschauung gekommen war, hatte auch diese Beziehung abrupt beendet.

Die Heimkehr in ihr kleines Zimmer bei den Eltern gab ihr Halt. Rolf freute sich, die verlorene Tochter in die Arme schließen zu können, und Cornell und Marie führten nächtelang intensive Gespräche.

»Hättest du vielleicht doch lieber mit Pierre zusammenbleiben sollen?«, hatte Cornell vorsichtig gefragt.

»Ich bin mir zu schade für diesen engstirnigen Spießer. Der war nur nach meinem Körper verrückt, meine Seele hat ihn nicht interessiert. Der braucht ein Heimchen am Herd, das unproblematisch zur Verfügung steht. Gestört fühlte sich der Herr, wenn ich schlecht träumte. Er hat mir ernsthaft geraten, einen Therapeuten aufzusuchen. Statt leise auszuziehen, hätte ich vorher alles kurz und klein schlagen sollen, ich dumme Kuh.«

»War es denn so schlimm mit deinen Träumen? Auch in Pierres Armen?«

Marie nickte. »Das Übliche halt. Ich sehe mich als Kind mit einer blonden Frau im Boot sitzen, die offensichtlich meine Mutter ist, und kurz darauf sind wir unter Wasser, und die Panik beginnt. Ich muss unbedingt herausfinden, ob diese Frau wirklich gelebt hat.«

»Und wenn du doch ärztliche Hilfe in Anspruch nimmst?«

»So schlimm ist es ja nicht, Mama. Zum Glück träume ich nicht jede Nacht so intensiv ...«

Die intimen Gespräche zwischen Mutter und Tochter ließen sie mehr und mehr Freundinnen werden, was ihnen beiden guttat.

Weniger gut lief es zwischen Vera und ihrer Mutter. Sie sprachen nur das Notwendigste miteinander und lebten nur nebeneinander her. Vera konnte nicht ahnen, dass Doris sich ernsthaft sorgte. Ihr war nicht entgangen, dass Vera nie einen Freund mitbrachte oder abgeholt wurde. Für sie schien es nur Marie zu geben, mit der sie einen Großteil ihrer Freizeit verbrachte. Ob Vera lesbisch war und für Marie mehr als Freundschaft empfand? überlegte Doris zeitweise, wagte aber nicht, sie darauf anzusprechen, um ihr Verhältnis nicht noch mehr zu trüben. Wie hätte sie auch ahnen können, dass Vera einen Mann liebte, der ihr in diesem Leben noch nie begegnet war, dessen Gesicht sie aber in ihren Träumen verfolgte, und dem ihre ganze Sehnsucht galt?

Damals im anderen Leben

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