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Frontstadtimpressionen

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Ich bin ein Verräter. Lange genug habe ich gebraucht, mir dies einzugestehen. Während Jahre dauernder, schmerzhafter Selbstanalysen neigte ich immer wieder dazu, mein damaliges Verhalten mit haltlosen Ausflüchten rechtfertigen zu wollen. Schließlich gelang es mir, bei meinen rückblickenden Betrachtungen einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Kaum hatte ich mich dieser (übrigens einzig vertretbaren!) Erkenntnismethode bedient, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wenn man das in meinem Fall so sagen darf: Ich bin ein Verräter. John F. Kennedy sagte einmal: „Ich bin ein Berliner“. Und was bin ich? Ein Berliner bin ich auch, aber das steht nicht im Vordergrund. In Anlehnung an Kennedys Satz, den ich mit viel größerer Berechtigung als der frühere US-Präsident von mir geben könnte, muss ich für eine prägnante Kurzbeschreibung meiner Person sagen: „Ich bin ein Verräter“.

Natürlich fällt es mir erst einmal schwer, diese nicht eben schmeichelhafte Feststellung in alle Welt hinauszuposaunen. Aber auch hier hilft es, einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Aus dieser Position heraus ist es möglich, die eigene Befindlichkeit in den Hintergrund treten zu lassen und einer individualistisch geprägten bürgerlichen Zurückhaltung entgegenzuwirken. Und schließlich ist es ungeachtet irgendwelcher Hemmungen meinerseits notwendig, jenen Verrat vor aller Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen. Notwendig, weil hierdurch am besten veranschaulicht werden kann, was das Falsche vom Richtigen unterscheidet. Mit der Einsicht in diese Notwendigkeit ist es mir nun aber ein Leichtes, den Hergang meines Verrats niederzuschreiben. Es war, auch wenn er in einem abschließenden Geschehen kulminierte, keine einzelne Handlung, sondern ein Prozess, der in merkwürdiger, aber zwingender Weise mit einer anderen Parallelentwicklung in Zusammenhang stand.

Zweifellos war mein Verhalten schändlich. Zu meiner Entlastung kann ich allerdings vortragen, dass mein verräterisches Treiben kein bewusst gesteuerter, von meinem Willen auch nur ansatzweise beeinflusster Vorgang war. Nein, die Veränderung meiner Sichtweise vollzog sich mit einem von mir nicht aufhaltbaren Automatismus.

Wenn ich von „Sichtweise“ spreche, bedarf es gleich hier einer für das weitere Verständnis dringend gebotenen Klarstellung: Ich bin blind. Stockblind. Ich bin so blind, dass ich die Sonne nicht einmal sehe, wenn ich mit aufgerissenen Augen direkt in sie hineinstarre. Außer dem Schmerz, den die Sonnenstrahlen und nach längerer Zeit sogar normales Tageslicht auf der Hornhaut verursachen, merke ich nichts. Tagsüber laufe ich draußen meistens mit einer Sonnenbrille herum. Das schützt meine Augen vor dem schmerzenden Lichteinfall, außerdem sieht es cool aus. Meine Sehnerven sind – rechts wie links – nicht in der Lage, irgendwelche Informationen aufzunehmen, geschweige denn an das Sehzentrum meines Gehirns weiterzuleiten. Visuellen Reizen bin ich infolgedessen nicht ausgesetzt und genieße damit den zunächst unbestreitbar erscheinenden Vorteil, mich auf die verbleibenden Sinneswahrnehmungen konzentrieren zu dürfen. Dieser Vorteil ist allerdings mit einer herben Einschränkung behaftet. Mit dem langsamen Verlust meines Sehvermögens ging nämlich nicht nur der Verlust von verzichtbaren visuellen Reizen einher. Vielmehr ging mir, und das ist das eigentlich Tragische, die richtige Sicht auf die Dinge verloren. Es ist müßig, sich Gedanken darüber zu machen, ob das bei allen erblindenden Menschen so sein muss. Bei mir jedenfalls besteht an der Konnexität von Sehkraftverlust und Sichtweisenverlust nicht der leiseste Zweifel.

Wäre ich nicht blind geworden und hätte sich nicht dadurch meine Sichtweise verändert, dann müsste ich mich heute nicht wie ein Verräter fühlen. Denn eigentlich war ich auf einem guten Weg. Dabei war der gute Weg nicht von Anfang an erkennbar und hätte auch in eine andere Richtung führen können, was er kurioserweise letzten Endes ja wohl auch tat. Um zu verstehen, wie alles gekommen ist, muss zuerst einmal der örtliche Ausgangspunkt ins Blickfeld (jawohl, Blickfeld!) gerückt werden, an dem mein Werdegang seinen Anfang nahm. Es war eine gerade auch wegen ihrer geopolitischen Bedeutung sehr spezielle Ortslage, in der sich mein Bild von der Welt entwickelte.

Also Berlin. Genauer gesagt: West-Berlin (nach vorübergehender Abweichung davon bevorzuge ich seit geraumer Zeit wieder die Schreibweise mit dem Bindestrich). Drei Sektoren unter amerikanischer, britischer und französischer Flagge, zwischen denen man sich frei bewegen konnte. Nicht so beim Betreten oder Verlassen des sowjetischen Sektors. Da wurde Ernst gemacht mit der Sektorengrenze und zwar auch schon bevor sie mit dem Mauerbau am 13. August 1961 geschlossen wurde. Bis dahin war der immerhin noch mögliche Weg von Ost nach West und umgekehrt bereits mit Ausweis- und Gepäckkontrollen verbunden, mal mehr, mal weniger intensiv; mindestens mürrisch, gern auch finster dreinschauende Volkspolizisten verglichen die Ausweisfotos mit den Gesichtern ihrer Besitzer, ließen gelegentlich die eine oder andere Tasche öffnen und reagierten allergisch auf westliche Druckerzeugnisse. Das Kontrollritual vollzog sich nicht nur, wenn man am Brandenburger Tor oder an einer der anderen Übergangsstellen die Sektorengrenze zu Fuß oder mit dem Auto passieren wollte. Auch in den S-Bahnzügen, die auf ihrer Fahrt zwischen Anhalter Bahnhof im amerikanischen und Humboldthain im französischen Sektor einige Kilometer durch Ost-Berlin rollen mussten, war die Volkspolizei nicht untätig. In jedem Zug wurde auf dem ersten Bahnhof im Ostsektor kontrolliert, erst danach konnte er weiterfahren, um vier Bahnhöfe später vor der Abfahrt in den Westteil der unvermeidlichen Ausreisekontrolle unterzogen zu werden. Für einen kleinen Jungen war das höchst unterhaltsam und deshalb freute ich mich immer, wenn es zum Besuch der Verwandtschaft oder aus sonst was für Gründen über die Sektorengrenze ging.

Aufregend waren die Grenzkontrollen schon deshalb, weil ich sehr früh begriffen hatte, dass von der Staatsmacht, die sie anordnete, nichts Gutes ausging. Schließlich war die kleine Steglitzer Wohnung, in der wir damals lebten, häufig genug Anlaufstelle für republikflüchtige DDR-Bürger aus dem Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern. Noch im Vorschulalter erfuhr ich, was es mit dem Notaufnahmelager Marienfelde auf sich hatte, lernte den Passierschein als das für das ostzonale Umland notwendige Reisedokument kennen, spielte mit meinem Bruder Grenze und erkannte, dass der zu Verabschiedungen und Begrüßungen häufig besuchte Flughafen Tempelhof das Tor zu einem irgendwie sichereren Gelände war. Das Territorium, das dazwischen lag und dem der Titel „Ostzone“ anhaftete, strahlte eine Bedrohlichkeit aus, die sich auch einem Vorschulkind bzw. einem Erstklässler unschwer vermittelte. Dass Menschen dort oft aus nichtigem Anlass eingesperrt und schikanösen Haftbedingungen ausgesetzt wurden, war für mich als fünf- oder sechsjährigen zwar noch etwas abstrakt, reichte für die diffuse Vorstellung von etwas Ungutem aber aus. Handgreiflicher war da schon das Aussehen derer, die aus dem Osten kamen oder die man im Osten sah. Die Klamotten von der Farbgebung und von den Schnitten immer ein Stück langweiliger und für ihre Träger unvorteilhafter, als man es im Westen gewohnt war. Die Verwandten und Bekannten aus dem Osten sahen einfach anders aus. Deshalb schickte man ihnen auch Pakete mit abgetragenen Westsachen, über die sie sich je nach Bedarf freuen oder die sie wegschmeißen konnten. Ich will nicht wissen, wie viele Pakete meine Mutter gerade in den frühen Jahren in die Ostzone schickte, mit Kleidung, Lebensmitteln, Medikamenten, mit allem, was die Ostler vielleicht begehrten, jedenfalls aber, wenn überhaupt, nur unter Schwierigkeiten bekamen. Von der Ostzone (die Abkürzung „DDR“ wurde im Westen erst später allgemein gebräuchlich) war nichts zu halten, das war klar. Es passte zu diesem Staat, dass er im August 1961 eine Mauer durch Berlin zog, die übrige Staatsgrenze mit Stacheldraht und Tretminen verbarrikadierte und die Nationale Volksarmee damit beauftragte, seine Bürger am Verlassen des Staatsgebiets gewaltsam zu hindern.

So ganz überraschend kam der Mauerbau nicht. Das Gerücht, Ulbricht wolle die Grenze dichtmachen, war schon seit einiger Zeit in der Welt. Immer mehr Menschen setzten sich aus dem Osten nach West-Berlin ab und es war zu erwarten, dass die SED-Führung dem Exodus eines beachtlichen Teils der Einwohnerschaft nicht tatenlos zusehen würde. Am 13. August war es dann so weit. In atemberaubendem Tempo wurde der „antifaschistische Schutzwall“ hochgezogen, Wachtürme wurden aufgestellt, Beleuchtungsanlagen installiert und die meisten Grenzübergänge dichtgemacht. Mir ist der 13. August 1961 in denkwürdiger Erinnerung geblieben, weil ich mich an diesem Tag – für längere Zeit zum letzten Mal – in Ost-Berlin aufhielt. Es war ein Sonntag und die Familie zum Kaffee bei Freunden in Weißensee eingeladen. Von der Straße des 17. Juni kommend, führten die Fahrspuren durchs Brandenburger Tor, in dessen Mitte die Ausweise und Wagenpapiere von der Volkspolizei kontrolliert wurden. Vor dem Tor hatte sich auf der Westseite ein langer Stau gebildet, weil viele die Chance nutzen wollten, vor Schließung der Grenze noch einmal in den Ostteil zu kommen. Die Grenzer wirkten noch angespannter als sonst. Das Außergewöhnliche der Situation war ihnen deutlich anzumerken. In Weißensee drehten sich die Gespräche der Erwachsenen nur noch um das Eine und bei der Verabschiedung war allen klar, dass man sich wahrscheinlich für längere Zeit nicht wiedersehen würde.

Nach dem 13. August verging kein Wochenende ohne Grenzbesichtigung. Mit einem jungen Mann aus dem familiären Umfeld, der noch wenige Tage vor dem Mauerbau von Potsdam nach West-Berlin „rübergemacht“ hatte, fuhr man zur Glienicker Brücke. Dort hatten sich viele West-Berliner versammelt, die vom Havelufer aus nach Potsdam hinüberwinkten. Auf der Potsdamer Seite war ebenfalls eine Menschenansammlung zu sehen, in der der junge Mann seine Verlobte (er nannte sie „meene Kleene“) vermutete. Die Gesichter ließen sich selbst mit Ferngläsern nur undeutlich erkennen und bald sorgte Volkspolizei dafür, dass sich die Potsdamer Ansammlung auflöste. Unverrichteter Dinge zogen wir wieder ab. Unweit der Glienicker Brücke entdeckte meine Mutter ein am Grenzstacheldraht angebrachtes Firmenschild. „Diese Schweine“ entfuhr es ihr, als sie näher an den Zaun herangetreten war. Lerm & Ludewig war auf dem Schild zu lesen und meine treuherzig antikommunistischen Eltern sahen sich mit der empörenden Tatsache konfrontiert, dass eine West-Berliner Firma mit Stacheldrahtlieferungen an das Ulbricht-Regime ihren Reibach machte. Mir gefiel das auch nicht. Ich begriff dank dieser kleinen Begebenheit schlagartig, dass Geschäftemachen und Skrupellosigkeit eng beieinanderliegen können. Der kleine Ausflug an die Glienicker Brücke, es wird am 19. oder 20. August 1961 gewesen sein, hatte damit eine für mein langsam entstehendes Weltbild bedeutsame Wirkung.

Bedrückender als an der Glienicker Brücke, an der später Spione ausgetauscht wurden, waren die Bilder, die sich an der Bernauer Straße boten. Die Sektorengrenze zwischen Prenzlauer Berg und Wedding verlief hier unmittelbar vor den Hausfassaden auf der Ost-Berliner Seite. Als wir dort mit unserem VW-Standard entlangfuhren (wir machten alle Grenzbesichtigungen mit diesem Fahrzeug), lagen Kränze auf dem Bürgersteig. Unmittelbar bevor die Fenster und Türen auf der Ost-Berliner Straßenseite von den Grenzern zugemauert wurden, hatten Hausbewohner versucht, sich durch Sprünge aus dem Fenster in den Westen zu retten. Zwei von ihnen überlebten diesen Versuch nicht. Meine Eltern beließen es nicht dabei, meine Geschwister und mich auf die Kränze aufmerksam zu machen. Sie erklärten uns, warum und für wen die Kränze dort lagen und als phantasiebegabtem Kind, für das ich mich bis heute halte, wurde mir schlecht.

Die nach dem 13. August eilends aufgebauten Aussichtspodeste, von denen aus die Grenzanlagen mit dem dahinterliegenden Terrain betrachtet werden konnten, übten auf meine Eltern eine geradezu magnetische Anziehungskraft aus, vor allem an solchen Stellen, an denen das Ensemble von Mauer, Stacheldraht, Wachtürmen, Bogenlampen und Panzersperren eine besonders martialische Wirkung hatte. Nicht nur, dass unsere zahlreichen Besucher von auswärts an diese Stellen geführt wurden; der samstägliche oder sonntägliche Grenzbesuch gehörte auch ohne auswärtige Gäste zum festen familiären Wochenendritual. Beliebt war neben dem Checkpoint Charlie vor allem die Knesebeckbrücke, die zwischen Teltow und Zehlendorf über den Teltowkanal führte und mit ihrer Sperre aus Unmengen von Stacheldrahtrollen über dem trüben Kanalwasser nebst den am Ufer errichteten Grenzanlagen einen ausgesprochen trostlosen, irgendwie aber doch auch malerischen Anblick bot.

Das Thema Grenze wurde noch bedeutender, als mein Vater wenige Wochen nach dem Mauerbau eine durch die Grenzbefestigung hervorgerufene und äußerst grenznahe Beschäftigung bekam. Sie war mit einem solchen Grenzwert behaftet, dass er dafür später das Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhielt. Was war seine Aufgabe? Er fuhr mit einem hellblauen VW-Bus, amtliches Kennzeichen B-1411, an der 153 km langen Grenze der Berliner Westsektoren entlang. Auf beiden Seiten des Wagens prangten in weißer Schrift die Worte Studio am Stacheldraht. Auf dem Dach befanden sich sechs Lautsprechertrichter mit einer Leistung, die die Mauern von Jericho zum Einsturz hätte bringen können. Im Innern des Wagens saßen vier Berliner Landesbeamte, von denen einer, es war mein Vater, das Sagen hatte. Das galt sowohl hinsichtlich der Stellen, an die sich der Lautsprecherwagen zu begeben hatte, als auch bezüglich der Propagandaansprachen, die in Richtung Osten über die Grenze geschleudert wurden und sich vor allem an die DDR-Grenzer richteten. Zwischen den Ansprachen legte der Bordtonmeister auch mal einen flotten Schlager auf - von Bill Ramseys „Pigalle“ bis zu Hazy Osterwalds „Konjunktur-Cha-Cha“ bekamen die Ostler Vieles zu hören, was sie nach dem Willen der SED-Führung nicht hören sollten. Den Einfall mit den Lautsprecherfahrzeugen hielt die SED-Führung allerdings für so brauchbar, dass sie ebenfalls Lautsprecherwagen an der Grenze entlangfahren ließ, mittels derer sie versuchte, die West-Berliner Bevölkerung von der Richtigkeit des im Osten eingeschlagenen Kurses zu überzeugen. Gelegentlich kam es am selben Grenzabschnitt zu Begegnungen zwischen den östlichen und den westlichen Propagandafahrzeugen. Man beschimpfte sich dann wechselseitig in der technisch höchstmöglichen Lautstärke. Meistens blieb es bei einem verbalen Schlagabtausch. Etwas handgreiflicher ging es zu, als der Lautsprecherwagen des Studios am Stacheldraht aus dem Gleimtunnel heraus versuchte, nach Ost-Berlin hinüberzuschallen. Der Tunnel war an seinem östlichen Ende mit Stacheldrahtrollen verbarrikadiert, hinter denen DDR-Grenzer standen. Einige von ihnen brachten ihre Schusswaffen in Anschlag, als mein Vater mit seiner Ansprache loslegte. Andere warfen Tränengasbomben in den Tunnel und der Einsatz musste unter reichlich Tränen abgebrochen werden.

Es war also richtig spannend, was mein Vater von seinem Arbeitsalltag zu erzählen hatte. Kaum ein Tag ohne besondere Vorkommnisse und alles irgendwie immer am Puls der Zeit. Ich war ein politisches Kind und was mein Vater von seiner Arbeit berichtete fügte sich bestens in das ein, was ich aus dem Radio zu hören bekam. Der kleine Röhrenempfänger der Marke Loewe Opta lief, jedenfalls wenn mein Vater zu Hause war, unentwegt, brachte mir das Weltgeschehen nahe und machte mich mit Namen vertraut, die irgendwie wichtig zu sein schienen. Bundeskanzler Adenauer, Regierender Bürgermeister Brandt, Außenminister Schröder – ich wusste, wer diese Leute waren, wie sich ihre Stimmen anhörten und was man, der Beurteilung meiner Eltern folgend, von dem einen oder anderen zu halten hatte. SPD-Politiker kamen in der Regel schlecht weg. Eine Ausnahme bildete neben dem Berliner Innensenator Joachim Lipschitz sein Hamburger Amtskollege Helmut Schmidt, der sich bei der Flutkatastrophe im Februar 1962 einen auch in den Berliner Radiosendern vernehmbaren Namen gemacht hatte. Natürlich nur in den West-Sendern. Dem SFB (Sender Freies Berlin) und dem RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) stand im Ostteil der Stadt der Berliner Rundfunk gegenüber, der als Hauptstadtsender alles daran setzte, seinen Hörern die Eigenstaatlichkeit der DDR schmackhaft zu machen.

Dass die DDR von den Aktivitäten des Studios am Stacheldraht nicht begeistert war, liegt auf der Hand. Es war klar, dass sich mein Vater auf DDR-Gebiet nicht mehr blicken lassen durfte. Damit war für ihn und seine Familie auch der Weg über die Transitstrecken nach Westdeutschland nicht mehr ratsam und seine Benutzung vom Innensenator auch ausdrücklich untersagt. Wir hatten also, mit staatlicher Flugkostenbezuschussung, den Luftweg zu nehmen. Die drei Luftkorridore, die West-Berlin mit dem Bundesgebiet verbanden, wurden von Pan American Airways, British European Airways und Air France beflogen. Zunächst in heftiger Konkurrenz untereinander, bis die Flugrouten später einvernehmlich aufgeteilt wurden. Mit Pan Am flog ich am liebsten. Die blau-weiße Einfärbung der Maschinen war schicker als die schwarz-weiß-rote von BEA und die Form der Fenster fand ich bei BEA auch blöde. Dafür gab es bei BEA mehr zu essen. Das war aber wiederum ein Problem. Denn vor allem auf der kurzen Strecke von und nach Hannover hatte man zwischen Start und Landung kaum genügend Zeit, mit dem vom Kabinenpersonal eilends auf den Klapptisch geschleuderten Fresspaket fertig zu werden. Die Sache verschärfte sich noch, als sich BEA, um im Konkurrenzkampf mit Pan Am und Air France die Nase nach vorn zu bekommen, den Super-Silverstar-Service einfallen ließ. Das bedeutete nichts weiter, als noch mehr zu fressen. Zu allem Überfluss wurden jetzt auch noch verstärkt Düsenmaschinen eingesetzt, womit sich der Flug auf der Hannoverroute auf 35 Minuten verkürzte. Mit brüchigem Plastikbesteck mussten Brötchen durchgeschnitten und mit Butter beschmiert, zähe Lappen aus rohem Schinken auseinandergefleddert und zerschnitten, Schmier- und Scheiblettenkäse auf Kräcker platziert und mit Süßspeisen, Heiß- und Kaltgetränken eilends heruntergeschluckt werden, bevor mit dem Beginn des Landeanflugs der Befehl zum Hochklappen der Tische erteilt wurde. Wenn man alles rechtzeitig schaffte, konnte man richtig satt werden.

Wer sich bei der SED nicht unbeliebt gemacht hatte und folglich nicht auf den Luftweg angewiesen war, durfte als Transitreisender mit dem Auto oder mit der Bahn durch die DDR unterwegs sein. Mit Hilfe von „Harms Berliner Grundschulatlas“ wurden wir über die für West-Berliner relevanten Grenzübergänge aufgeklärt. Ortsnamen, die ich bis dahin noch nie gehört hatte, mussten auswendig gelernt und einer Transitstrecke zugeordnet werden. Das war wichtig, um zu wissen, dass man die Kontrollpunkte Lauenburg/Horst oder mit der Bahn Büchen/Schwanheide anzusteuern hatte, wenn man nach Hamburg wollte und nicht etwa Helmstedt/Marienborn, Wartha/Herleshausen, Bebra/Gerstungen, Rudolphstein/Hirschberg oder Ludwigsstadt/Probstzella. Es war gut, sich mit den Transitstrecken und auch mit den Gepflogenheiten bei der Grenzkontrolle auszukennen, wenn man sich unnötige Scherereien ersparen wollte.

In West-Berlin selbst war, wenn man sich nicht in der Nähe der Mauer aufhielt, von der Insellage der Stadt wenig zu merken. Was dagegen auffiel, war die unübersehbare Präsenz amerikanischer, britischer und französischer Soldaten. In der Nähe der großen Kasernen beherrschten sie das Ortsbild, wie zum Beispiel bei den McNair Barracks in Lichterfelde. Manchmal sah man sie in Tarnanzügen zu Manöverzwecken durch den Grunewald streifen. Nach den Übungen lagen reichlich Patronenhülsen im Wald herum, die von Jungen in meinem Alter gern gesammelt wurden. Ich hatte davon einen ganzen Schuhkarton voll. Großen Eindruck machten auch die Kettenpanzer der US-Army, wenn sie von McNair in den Grunewald durch die Wohn- und Geschäftsstraßen donnerten und alle Gebäude in der Umgebung erzittern ließen. War der Lärm, den sie machten, auch ohrenbetäubend, so handelte es sich doch um Lärm der Westalliierten, der im Interesse der Sicherheit der Stadt also hinzunehmen war. Anders verhielt es sich mit den Schallmauerdurchbrüchen sowjetischer Düsenjäger. Die Sowjetunion fühlte sich regelmäßig provoziert, wenn Verfassungsorgane der Bundesrepublik in West-Berlin in Erscheinung traten. So war es unter anderem bei der Wahl des Bundespräsidenten, zu der die Bundesversammlung am 1. Juli 1964 in Berlin zusammentrat. Für die Sowjets war das ein willkommener Anlass, es mal wieder richtig knallen zu lassen. Unentwegt kreisten sowjetische Düsenjäger über den Westbezirken und durchbrachen, so oft es ging, die Schallmauer. Die Berliner Abendschau wusste, wenn ich mich richtig erinnere, von 123 Fensterscheiben zu berichten, die dabei zu Bruch gingen. Auch Schaufenster waren darunter.

Im Großen und Ganzen war die Lage nach dem Mauerbau geregelt und überschaubar. Geglückte und gescheiterte Fluchtversuche von Ost nach West und die gelegentlichen Passierscheinvereinbarungen, aufgrund derer die West-Berliner zu Weihnachten ihre Lieben in der DDR besuchen durften, brachten den Inselstatus der Stadt nur kurzfristig wieder verstärkt zum Bewusstsein. Für mich hatte die erste Passierscheinausgabe vor den Weihnachtsferien 1963 den unerwarteten Vorteil, dass ein paar Schulstunden ausfielen (im Gegensatz zu allen bildungshungrigen Menschen freute ich mich bis zum Ende meiner Schulzeit immer über Unterrichtsausfälle). Die Schulräume wurden für die Abfertigung der zahlreichen Antragsteller gebraucht, die bis auf die Straße Schlange standen. Ansonsten war, von gelegentlichem Schusswaffengebrauch an der Grenze und der augenfälligen Militärpräsenz abgesehen, vom Kalten Krieg wenig zu merken. Nur während der Kubakrise im Oktober 1962 hielten die Bewohner der Stadt noch einmal den Atem an. Aber nachdem Kennedy und Chruschtschow auf den Einsatz von Atomwaffen verzichtet hatten, beruhigten sich die Gemüter schnell wieder.

Das neu gewonnene Sicherheitsgefühl wurde bestätigt, als der amerikanische Präsident den Berlinern im Juni 1963 vor dem Schöneberger Rathaus seine herzliche Verbundenheit, ja, seine persönliche Zugehörigkeit garantiert hatte. Da blieb kein Auge trocken. Kennedy stieß bei seinem Berlin-Besuch auf eine Begeisterung, wie sie sonst kaum einem Politiker entgegenschlug. Alt und Jung, Groß und Klein standen jubelnd und mit Ami-Fähnchen winkend am Rand, als der Autokonvoi mit dem US-Präsidenten durch die Straßen fuhr. Wie groß war deshalb der Schock, als Kennedy kein halbes Jahr nach seinem Besuch, am 22. November 1963, ermordet wurde. An dem auf das Attentat folgenden Tag schickte man uns nach der ersten Schulstunde wieder nach Hause. Kaum eine Lehrerin, kaum ein Lehrer sah sich in der Lage, nach dem schrecklichen Geschehnis des Vortags Unterricht zu erteilen. Kennedy stand wie kein anderer für die Verbundenheit der Berliner Westsektoren mit der westlichen Welt. Sein Tod löste einen regelrechten Schock aus und es floss so manche Träne. Aber bald kannte man den Namen des neuen Präsidenten und setzte darauf, dass sich auch Lyndon B. Johnson wie ein Berliner fühlen würde.

Und wenn die Russen, amerikanische Präsenz hin oder her, nun doch auf die Idee kommen sollten, die Stadt noch einmal abzuriegeln? Für den Fall der Fälle hatte der Senat vorgesorgt. In riesigen Vorratshallen wurden Zahnbürsten, Monatsbinden, Präservative, Kleidungsstücke, Brennstoffe, kurzum, es wurde alles gelagert, was bei einer erneuten Blockade für die Überlebensfähigkeit der Stadt vonnöten gewesen wäre. Vorneweg selbstverständlich Lebensmittel, die vor Ablauf ihrer Haltbarkeit auf den Markt geworfen wurden. Rindfleisch und Schmalzfleisch aus Senatsreserven bereicherten den Speiseplan vieler Wohngemeinschaften noch in den 70er und 80er Jahren. Große Blechkonserven mit gelber Banderole. Es schmeckte ziemlich gemein, war aber nahrhaft und billig.

Wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl der West-Berliner waren in den Jahren nach dem Mauerbau feste Rituale. Zu den kleinen Ritualen gehörte die grüne Kerze, die mit weißer Banderole und der roten Aufschrift „Ich denke an Dich“ zu Weihnachten in die Fenster gestellt wurde. Ein größeres Ritual war die alljährlich stattfindende Polizeischau im Olympiastadion. Vor den prall gefüllten Rängen der Arena zeigte die Berliner Polizei, was sie konnte. 16 Mann auf einem Motorrad, oder – ich bin mir nicht mehr ganz sicher – waren es sogar 20, die dabei noch die halsbrecherischsten Verrenkungen machten? Ein Funkwagen, VW-Käfer, dunkelblau, der in ein gefülltes Wasserbecken fuhr, ohne dass seine beiden Insassen zu Schaden kamen. Berittene Polizei, die mit ihren riesigen Gäulen imponierte und nicht zuletzt Hundestaffeln, die die herzallerliebsten Kunststückchen vorführten, zum Beispiel die Jagd auf einen wegrennenden Verbrecher. Dazu spielten die Bläser und Trommler des Polizeimusikcorps schmissige Weisen und begleiteten zum Schluss die von den Stadionbesuchern lauthals mitgeschmetterte Nationalhymne. Auf der Ehrentribüne saßen neben Senatsmitgliedern und der Polizeiführung natürlich auch die drei alliierten Stadtkommandanten – ohne ihren sowjetischen Kollegen, versteht sich. Ein kaum weniger bedeutsames Spektakel war die ebenfalls jährlich zelebrierte alliierte Militärparade, bei der allerdings, anders als man das von der Polizeischau kannte, außer von den Militärkapellen keine nennenswerten Kunststückchen geboten wurden. Stärker noch als bei den Militärparaden manifestierte sich die Verbundenheit zwischen den West-Berlinern und ihren Beschützern auf den alliierten Rummelplätzen beim deutsch-amerikanischen und beim deutsch-französischen Volksfest. Zu den unverzichtbaren Gepflogenheiten der Berliner Politinszenierung gehörte auch die Freiheitskundgebung, mit der der 1. Mai vom Tag der Arbeit zu einem Anti-Ost-Feiertag quasi umgewidmet wurde. Die Maikundgebungen, traditionell eher Anlaufpunkt für gewerkschaftlich orientierte Menschen, hatten in den frühen 60er Jahren reichlich Zulauf selbst von CDU-Anhängern. Die Gewerkschaften als Veranstalter stellten die Maikundgebung ganz in den Dienst der freiheitlich-west-berlinischen Sache; um Arbeitnehmerbelange ging es nur zweitrangig.

Die Berichterstattung über alle Ereignisse im Westteil der Stadt durch den SFB und den RIAS war neben der Information der eigenen Bevölkerung nicht zuletzt auch darauf gerichtet, die Bürger Ost-Berlins und der sendetechnisch erreichbaren DDR-Bezirke anzusprechen. Zu einer beliebten TV-Institution wurde gleich nach ihrer erstmaligen Ausstrahlung die Abendschau-Serie „Wo uns der Schuh drückt“. Jeden zweiten Samstag erklärte hier der Regierende Bürgermeister Willy Brandt seinen lieben Berlinerinnen und Berlinern, wo es langzugehen habe. Im gleichen Turnus ertönte zum aktuellen Geschehen der kabarettistische Gesang des Mäcki-Trios mit dem auf die Alliierten gemünzten Refrain

Grand mit Vieren, Grand mit Vieren,ja, den spielt man hier bei uns so manches Jahr,Grand mit Vieren, doch wir verlierendie Partie auf keinen Fall, das ist längst klar.

Und für die Kinder gab´s sonntags den „Onkel Tobias vom RIAS“. Und im Fernsehen täglich das Sandmännchen. Das sogar zweimal. Zuerst das Ostsandmännchen, dann ein bisschen zeitversetzt das Westsandmännchen. Ostfernsehen war manchen Kindern untersagt. Die meisten Eltern hatten aber nichts dagegen und auch meine waren damit einverstanden, dass wir bei Kindern in der Nachbarschaft, deren Eltern einen Fernseher hatten, Ostsendungen sahen. „Meister Nadelöhr“ und „Professor Flimmrich“ als Institutionen des DDR-Fernsehens waren uns genauso vertraut wie aus dem Westen die Augsburger Puppenkiste. Spannend war auch die Fernsehwerbung, im West-Berliner Regionalprogramm mit den Zeichentrick-Auftritten des Telebärs angereichert.

„HB rauchen, heißt frohen Herzens genießen.“

„Peter Stuyvesant – der Duft der großen weiten Welt.“

„Jaques, der Lebenskünstler: Erstmal entspannen, erstmal Picon.“

“Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell.“

“Man braucht ihn eben – Underberg.“

“Im Asbach-Uralt ist der Geist des Weines.“

Die Werbung für Tabakwaren und alkoholische Getränke ist mir offenbar am deutlichsten in Erinnerung geblieben. „Becks-Bier löscht Männerdurst“ wurde später in „Becks-Bier löscht Kennerdurst“ geändert. Aber in den 60er Jahren hatte man es noch nicht so mit Gender. „Bauknecht weiß, was Frauen wünschen.“ Im Deutschen Fernsehfunk, also im Ostfernsehen, gab es auch Werbung. Das hieß dort „Tausend Tele-Tips“, war aber gegenüber der Westwerbung ziemlich dröge. Wenn ich Ostsendungen sah, musste ich immer an die Leute im Osten denken. Die durften sich beim verbotenen Westfernsehen auf keinen Fall erwischen lassen und hatten zu ihrem Unglück auch noch Fernsehgeräte, die einfach beschissen aussahen. Die Frontseite dieser traurigen Produkte bestand fast nur aus der überdimensionalen Rahmenfläche, in deren Mitte sich die Bildröhre so klein ausnahm, als wäre sie der unwesentlichste Teil der ganzen Apparatur. Zum Glück hatten wir im Westen größere Bildschirme und wenn wir wollten, durften wir uns damit auch die Aktuelle Kamera oder Karl‑Eduard von Schnitzlers Schwarzen Kanal ansehen.

Weniger tolerant als der Umgang mit dem Ostfernsehen war das Verhältnis zur S‑Bahn. Die S-Bahn wurde nach alliierter Übereinkunft auch in West-Berlin von der DDR-Reichsbahn betrieben. Als Ostunternehmen hatte sie nach dem Mauerbau bei den West-Berlinern verspielt. „Fahr nicht mit der S-Bahn! Du bezahlst Ulbrichts Stacheldraht!“ So war es im Treppenhaus unserer Grundschule auf einem Wandplakat mit einem stilisierten Stacheldrahtzaun zu lesen. Ich fuhr also mit der U‑Bahn, denn die gehörte zur BVG, dem West-Berliner Verkehrsunternehmen. Und ich musste viel U-Bahn fahren. Dreimal die Woche Chorprobe in Charlottenburg, dazu oft noch mindestens ein Kirchenmusiktermin irgendwo in der Stadt. Ich kam schon als Achtjähriger ganz gut rum in Berlin und bekämpfte die Langweiligkeit der endlosen U-Bahnfahrten mit ausgiebiger Karl-May-Lektüre. Zu lesen gab´s darüber hinaus die Werbesprüche auf den Bahnhöfen und auf den im Wageninnern eigens dafür vorgesehenen Feldern über den U-Bahnfenstern:

„Ganz furchtbar schimpft der Opapa:

die Oma hat kein Paech-Brot da.“

„Auch der Kassierer vom Verein fand:

Ja, Noris ist ein guter Weinbrand!“

„Bei jedem Brand die Feuerwehr,

bei Sodbrand aber Bullrich her.“

„Doornkaat aus Kornsaat.“

Die Doornkaat-Werbung überzeugte mich am wenigsten. Neben dem Werbespruch, der sich immerhin reimte, war eine feiste Männervisage abgebildet, die den Betrachter ungesund rotwangig und auf eine dümmlich kumpelhafte Weise anlachte. Ich nahm mir vor, nie in meinem Leben Doornkaat zu trinken. „Jacobi 1880 – schmeckt mit 18 und mit 80.“ Das war schon irgendwie besser. Noch besser war, dass es an den Kiosken auf den U-Bahnhöfen, erst nur selten, dann immer häufiger, Zeitschriften mit nackten Brüsten und Frauenärschen zu sehen gab. So mancher Umsteigeaufenthalt wurde hierdurch unplanmäßig verlängert.

Mein kleiner Verrat an der großen Sache

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