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Sag mir, wo du stehst

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Auf welche Seite sollte ich mich schlagen? Über das Vorgehen der Amis in Vietnam wusste ich schon zu viel, um es noch richtig finden zu können. Da machte ich mir kaum noch Illusionen. Andererseits war ich ja immer gern auf dem deutsch-amerikanischen Volksfest gewesen und hatte mit einem Gefühl brüderlicher Verbundenheit amerikanische Patronenhülsen im Grunewald aufgesammelt. Außerdem stand ich als Karl-May-Fan dem Land ganz besonders nahe, in dem die von Pierre Brice und Lex Barker gespielten Helden ihre Abenteuer erlebt hatten. Und nicht zu vergessen: „Flipper ist unser bester Freund.“ Ja, auch der kluge Delphin und seine sympathischen menschlichen Kumpels waren US-Amerikaner. Es war schon bitter. Aber irgendwie konnte ich die Schützenpanzer der Yankees jetzt nicht mehr unbefangen durch Zehlendorf-Mitte rollen sehen. Vielleicht zerschossen Fahrzeuge derselben Baureihe gerade ein vietnamesisches Dorf und machten mit ihren schweren Ketten die Hütten und ihre Einwohner platt. Aber war die Gegenseite in Vietnam unbedingt besser? Hm … Das war zwar auch nicht sicher, aber der Umstand, dass es sich bei Nordvietnam um ein kommunistisches Land handelte, fiel jetzt nicht mehr so negativ ins Gewicht, wie er das vor einiger Zeit bei mir noch getan hätte.

Mit dem Kommunismus war es ohnehin so eine Sache. Im Herbst 1967 hatte ich anlässlich ihres 50. Jahrestages einen Mehrteiler über die russische Oktoberrevolution gesehen. Im Westfernsehen, wohlbemerkt! Da wurde gezeigt, wie Lenin mit Hilfe des Deutschen Reiches von der Schweiz nach Russland geschleust, wie seine Ankunft in St. Petersburg gefeiert und wie unter seiner Regie das Winterpalais gestürmt wurde. Und Trotzki – Theoretiker und Organisator, der nicht nur Intellektualität ausstrahlte, sondern seinen Willen notfalls auch mit enormer Härte durchsetzen konnte. Ich lernte durch diese Sendung, dass es sich bei den bolschewistischen Revolutionsführern des Jahres 1917 nicht einfach um dumpfbackige Apparatschiks handelte, sondern um beeindruckende Persönlichkeiten mit einem klaren Ziel und enormer Tatkraft. Das galt vor allem für Lenin und Trotzki. Der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution fiel genau in die Phase, in der revolutionäre Ideen auch im Westen wieder an Boden gewannen. Mich faszinierte die von Giganten wie Lenin und Trotzki verkörperte Möglichkeit, alles Bestehende in Frage zu stellen, es durch eine initiierte Massenbewegung umzustoßen und eine völlig neue Gesellschaftsform zu entwickeln. Die langfristigen Folgen der Oktoberrevolution waren mir dabei erstmal wurscht. Die revolutionäre Aktion an sich war das Faszinosum.

Die Maßstäbe für Gut und Böse, so wie ich sie bis dahin verinnerlicht hatte, verschoben sich von Monat zu Monat immer mehr. Dazu trugen ganz besonders die Ereignisse des Jahres 1968 bei. Rudi Dutschke wurde am 11. April Opfer eines Pistolenattentats, das ein junger Hilfsarbeiter, Josef Bachmann, auf ihn verübt hatte. Dutschke überlebte den Anschlag, starb aber fast 12 Jahre später infolge der dabei erlittenen Kopfverletzungen. Die APO unter maßgeblicher Führung des SDS machte die Berichterstattung des Springer-Verlags für das Attentat propagandistisch verantwortlich. In der Tat hatte die Springerpresse seit dem Aufkommen der Studentenbewegung alles daran gesetzt, die Stimmung anzuheizen. Besonders die Bild-Zeitung und die Berliner BZ taten sich dabei hervor, ihrer Leserschaft den studentischen Protest als puren Spaß an Randale und als krankhaftes Revoluzzertum zu verkaufen, dem von allen anständigen Bürgern etwas entgegengesetzt werden müsse. Dass der Osten seine Finger dabei mit im Spiel hatte, war sowieso klar. Es war also nur folgerichtig, dass der Springer-Verlag nach dem Attentat auf Dutschke zur Zielscheibe des Protests wurde. „Enteignet Springer!“ In der Kreuzberger Kochstraße, vor dem Springerhaus, in unmittelbarer Nähe der Mauer, kam es zu den gewalttätigsten Auseinandersetzungen seit Beginn der Studentenbewegung. Mit Barrikaden und Molotowcocktails wurden Fahrzeuge des Verlags an der Auslieferung von Zeitungen gehindert. Heute weiß man, dass der Berliner Verfassungsschutz einen beachtlichen Anteil an den ausufernden Gewaltaktionen hatte. Zu gern hätte ich an den Krawallen teilgenommen. Aber meine Eltern konnten mir, damals 13-jährig, so etwas gerade noch erfolgreich untersagen. Die Anti-Springer-Demonstrationen waren der Auftakt zu einer Reihe weiterer gewalttätiger Auseinandersetzungen, die in der berühmt gewordenen Schlacht am Tegeler Weg einen vorläufigen Höhepunkt fanden. 1968 war auch das Jahr der Notstandsgesetze, die im Juni vom Bundestag beschlossen wurden. Im Vorfeld gab es an allen Ecken heiße Diskussionen über die Grundrechtseinschränkungen, die durch die Notstandsgesetze zu befürchten waren. Kaum hatte der Bundestag sie verabschiedet, wurde es schlagartig ruhig um das Thema.

Im August 1968 besetzten Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten (mit Ausnahme Rumäniens) die Tschechoslowakei. Neben einer vom Senat veranstalteten Protestkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus gab es auch eine Protestdemonstration, zu der linke Organisationen aufgerufen hatten. Es war das erste Mal, dass sich linker Protest ausdrücklich gegen den Ostblock, gegen die sozialistischen Länder richtete. Die kurz zuvor von der DDR eingeführte Visumspflicht für Transitreisen von und nach West-Berlin hatte lediglich den RCDS, den Ring christlich-demokratischer Studenten, zu einem mickrigen Demonstratiönchen veranlasst. Auf der linken Seite wurde sie murrend hingenommen. Der Einmarsch in die CSSR hatte da schon eine andere Bedeutung und markierte die Spaltung innerhalb der Linken, wenn man diesen Begriff überhaupt für eine brauchbare kollektive Zuordnung verwenden kann. Während sich das antiautoritäre und das chinaorientierte Lager klar gegen den Einmarsch positionierten, feierte ihn die Sozialistische Einheitspartei Westberlins als brüderliche Hilfe, die die Tschechoslowakei den gierigen Klauen der Konterrevolution entrissen habe. Trotz dieser schweren Differenzen war die SEW zunächst heftig bemüht, einen Fuß in die gesellschaftliche Protestbewegung zu bekommen und Meinungsverschiedenheiten hintanzustellen. „Vereint siegen, nicht getrennt unterliegen!“ – so war es in der S-Bahn zu lesen, die sich als DDR-Unternehmen fest in SEW-Hand befand. Auf einer Werbefläche in den S-Bahnwaggons sah man unter diesem Spruch das Bild einer Demonstration. Da marschierte in vorderster Reihe Gerhard Danelius, der SEW-Vorsitzende, gemeinsam mit anderen linken Aktivisten, die nicht der SEW angehörten. Unter ihnen Horst Mahler, der bald darauf zum harten Kern der RAF gehörte und später ein Wortführer der Rechtsradikalen wurde.

Die Wahrheit, das täglich erscheinende Organ der SEW, las ich damals noch nicht, umso interessierter hörte ich aber den Deutschen Freiheitssender 904. Auf Mittelwelle war dieser Sender in den Abendstunden gut zu empfangen. Erkennungsmelodie waren die ersten Töne von „Freude, schöner Götterfunken“, danach erklangen die mit markiger Stimme gesprochenen Worte: „Hier ist der Deutsche Freiheitssender 904 – der einzige Sender der Bundesrepublik, der nicht unter Regierungskontrolle steht.“

Der Sender wurde von der DDR betrieben, hatte ein Wiener Postfach als Kontaktanschrift und fiel kaum nach deren Beginn der deutsch-deutschen Annäherungspolitik zum Opfer. 1968 stand er aber noch in voller Blüte und bearbeitete seine Hörer mit Kurzinformationen über den bundesrepublikanischen Schreckensalltag. Dazwischen liefen aktuelle Schlager, von Katja Ebstein bis zu Roy Black, von den Beatles bis zu Wencke Myhre. Politsongs hörte man auf diesem Sender fast nie. Dazu musste man schon einen der offiziellen DDR-Sender einschalten, der einem die neuesten Produkte des Oktoberklubs präsentierte. „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst!“

Die Schallplatten mit den Liedern des Oktoberklubs waren im Westen nicht überall zu bekommen. Anders verhielt es sich mit den Platten von Wolf Biermann und Franz Josef Degenhardt, die ihre Lieder bei großen westlichen Labels herausbrachten. Sogar bei Woolworth standen sie im Plattenfach. Es gab schließlich eine Nachfrage und die wurde ohne Ansehen der Inhalte bedient. Biermann, Degenhardt – das passte schon 1968 nicht richtig zusammen, aber damals war mir das noch egal. Ich fand beide gut. Beide standen für eine wie auch immer geartete Antihaltung und das reichte erstmal.

Spätestens seit Gründung der Kommune 1 machte das Wort Provokation die Runde. Am provokantesten traten die auf, die sich mit den Institutionen anlegten, sich nicht an die vorgegebenen Regeln hielten. Man hörte von SDSlerinnen, die in Gerichtsverhandlungen ihre Brüste entblößten. Der Kommunarde Karlheinz Pawla entledigte sich seines Darminhalts vor dem Richtertisch und wischte sich den Hintern mit den Gerichtsakten ab. Solche und ähnliche Aktionen erregten den Unmut derer, die darin keine ernsthaft politischen Handlungen sahen. Wesentliche Teile der APO grenzten sich davon ab und stellten ihre Themen, nicht die Aktion als solche, in den Vordergrund. Zu diesen Themen gehörte auch die Auseinandersetzung mit der halbherzigen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Heftigen Protest löste der Freispruch von Hans-Joachim Rehse aus, einem pensionierten Juristen, der als Richter am Volksgerichtshof an mehreren Todesurteilen mitgewirkt hatte. Soweit es um den Umgang mit alten Nazis, um die Notstandsgesetze oder andere innenpolitische Themen ging, waren sich die Linken noch einigermaßen einig. Aber schon bei der Frage, welchen Charakter der vietnamesische Kampf gegen die USA hatte, Volkskrieg oder nicht, trennten sich Welten.

Anfänglich, das heißt zu Beginn meiner Linkswerdung, hatte ich mich von den Antiautoritären angezogen gefühlt. Jeder sollte tun und lassen können, was er wollte, keiner sollte das Recht haben, anderen Vorschriften zu machen. Das klang gut und menschenfreundlich. Aber der antiautoritäre Ansatz taugte vielleicht im persönlichen Umgang miteinander. Globalpolitisch und schon ein paar Stufen drunter war es nichts mit der antiautoritären Herangehensweise. Jedenfalls konnte ich mir das nicht vorstellen. Das von A. S. Neill propagierte „Prinzip Summerhill“ taugte vielleicht für den Erzieherberuf, für mehr aber nicht. Hinzu kam, dass etliche Prediger antiautoritären Verhaltens, vor allem junge linke Lehrerinnen und Lehrer, auf eine subtile, manchmal sogar ganz unverhohlene Weise sehr anders als antiautoritär agierten. Da waren die marxistischen, klassenkampforientierten Agitatoren schon konsequenter und glaubwürdiger. Dass sich die Verfechter der Marx’schen Lehre untereinander nicht grün waren, das registrierte ich nur am Rande und hielt es für nebensächlich.

Mein kleiner Verrat an der großen Sache

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