Читать книгу ICH, DIE FRAU DES TALIBAN - Dimitra Mantheakis - Страница 9

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Die Kaskade strahlenden Lichts, die sich aus dem dreistöckigen weißen Haus mit den schwarzen Ziergittern und den weit geöffneten Vorhängen an den Fenstern ergoss, bestätigte mir, dass ich am richtigen Ort war. Laute Popmusik ließ die Wände beben und dröhnte in die Nachtluft hinaus. Die wenigen trockenen Blätter des Winters, die noch auf dem Boden lagen, wirbelten auf, als würden sie zu den fröhlichen Rhythmen in den Armen des eisigen Windhauchs bizarre Figuren auf dem Bürgersteig und dem nassen Asphalt tanzen. Zitternd vor Kälte bezahlte ich den freundlichen Taxifahrer und lief zur Eingangstür.

Ich war noch nie in diesem Haus am Chester Square in Belgravia gewesen, Nicole war nicht gerade eine Busenfreundin von mir. Sie war Ninas Freundin; wahrscheinlich hatte sie mich deswegen eingeladen und weil sie wusste, dass ich sonst am Heiligen Abend allein wäre, da Nina Weihnachten bei ihr verbringen würde. Wie auch immer, ich war froh, dass sie mich bei sich zu Hause empfing – da Weihnachten bei den Muslimen nicht gefeiert wird, wäre die Alternative ein einsamer Abend in meiner Wohnung gewesen, weit fort von meiner Familie und meinen Freunden.

Die Tür zur Eingangshalle stand weit offen und empfing die Gäste wie eine Umarmung. Zwei Diener nahmen die Mäntel der Herren und die teuren Pelze der Damen entgegen, um sie an der geräumigen Garderobe rechts neben der Eingangstür aufzuhängen, während ein zierliches junges Mädchen lächelnd jedem eine Nummer aushändigte. Mit einer gewissen Befangenheit sah ich mich in der heiteren, aber für mich fremden Umgebung um. Noch verlegener wurde ich, als ich bemerkte, dass ich von den ankommenden Frauen die einzige ohne Begleitung war.

Zögernd durchschritt ich die Halle, in der ein riesiger Weihnachtsbaum stand. Die Lampions mit den Kerzen gaben sich Mühe, mit dem glitzernden Licht der Kronleuchter zu konkurrieren, das sich in ihren kostbaren Kristallen spiegelte, und ließen die goldenen Kugeln und die hübsch gebundenen Schleifen wie pures flüssiges Gold wirken. Ein riesiger Stern auf der Spitze, der jedes Mal, wenn man ihn aus einem anderen Winkel betrachtete, seine Richtung änderte, schien den Weg zu dem großen Salon zu weisen. Zu Füßen des wunderschönen Baumes belebte ein wertvoller Kirman-Teppich mit seiner tiefroten Mitte die Umgebung, während an der gegenüberliegenden Wand der riesige antike, außerordentlich kunstvoll geschnitzte Spiegel die Blicke aller Frauen gefangen nahm, die an ihm vorüber gingen, wobei sie versuchten, eine letzte Bestätigung ihrer perfekten Erscheinung vor ihrem großen Auftritt im Ballsaal zu erhalten. Auch ich bildete keine Ausnahme von der Regel. Wenn auch vielleicht mit weniger Koketterie, warf ich einen Blick auf die glänzende Fläche, mehr aus Unsicherheit als aus Eitelkeit. Meine Gestalt erschien im Spiegel schlank und hoch gewachsen, eingehüllt in ihr elfenbeinfarbenes langes Kleid, das Schultern, Oberarme und Dekolleté frei ließ. Die passenden, bis zum Ellbogen reichenden Handschuhe vervollständigten meine Aufmachung, die durch eine Reihe wertvoller weißer Perlen um den Hals und die dazugehörigen Ohrringe ergänzt wurde. Ich musste daran denken, wie unschätzbar sich all diese Geschenke meiner Großmutter in meinem neuen Leben in London erwiesen hatten; ihre Ausgaben sowohl für die Kleidung als auch für den Schmuck hatten sich sicher gelohnt. Mir fiel auf, dass mein Haar das Licht reflektierte und aussah, als habe es einen goldenen Glanz auf seiner dunklen rötlichen Farbe.

Mit einem befriedigten Lächeln auf den Lippen machte ich mich auf den Weg in den Salon, in dem sich gepflegte junge Leute drängten. Alle Möbel waren in die Ecken des riesigen Saals geschoben worden, um Platz für die Tänzer zu schaffen. Die Tische waren mit exquisitem weißem Leinen bedeckt; feines böhmisches Kristall und teures Porzellan verliehen dem Raum ihre eigene Note von Luxus. Frauen in schönen, meist schwarzen Kleidern mit glitzerndem Schmuck und strahlendem Lächeln schmiegten sich an die Brust elegant gekleideter Kavaliere und wiegten sich gefühlvoll und mit offensichtlicher Vertrautheit im Rhythmus der Musik. Andere nippten an ihren Gläsern; wieder andere beugten sich anmutig vor, um ihren Begleitern zuzuhören, oder musterten diskret die Aufmachung der anderen Frauen und verglichen sie mit ihrer eigenen.

Plötzlich war das Selbstbewusstsein, das mich eben noch gestärkt hatte, wie weggeblasen. Meine Blicke eilten über die unbekannten Gesichter hinweg, um Nina zu entdecken. Im selben Moment kam Nicole aus einer Ecke hinter dem mit Leckerbissen schwer beladenen Buffet auf mich zu und begrüßte mich herzlich mit einem schallenden Kuss auf die Wange. Hände umfassten meine Taille von hinten. Als ich mich umdrehte, sah ich Nina, die mich begeistert umarmte.

„Du siehst entzückend aus, Maraima“, sagte sie voller Wärme und ohne eine Spur von Neid. „Komm, setz dich zu uns.“

Sie schob mich voran und dirigierte mich zum anderen Ende des Saales an einen großen Tisch, an dem bereits etwa zehn Leute saßen. Sie unterhielten sich laut, lachten und tranken erlesenen Wein aus langstieligen Gläsern. Ungefähr die Hälfte von ihnen kannte ich bereits; sie hießen mich aufrichtig erfreut und mit schmeichelhaften Kommentaren und bewundernden Ausrufen willkommen. Nina versuchte, mir die übrigen Anwesenden vorzustellen, was ihr jedoch bei der ohrenbetäubenden Musik und dem ganzen Höllenlärm nicht besonders gut gelang.

Ein junger Mann bot mir seinen Platz an, doch ich blieb nicht lange sitzen, da die Männer aus der Runde mich abwechselnd zum Tanzen aufforderten. Langsam überwand ich meine anfängliche Schüchternheit und wurde bald eins mit der überschäumenden Stimmung der ausgelassenen Gesellschaft. Zwischendurch zog mich irgendjemand mit zum Buffet, um die Speisen, die die Köche mit so viel Mühe und Kunstfertigkeit zubereitet hatten, zu würdigen; danach wieder Tanz, Lachen, Hänseleien. Zwei, drei der Männer zeigten mir offen ihr Interesse und baten mich um meine Telefonnummer, um sich mit mir zu verabreden. Ich gab ihnen auf nette Weise einen Korb, was sie nicht zu stören schien, da der Wein bereits seine wohltätige Wirkung auf ihre Stimmung ausübte und sie meiner freundlichen Ablehnung gegenüber wohlwollend und tolerant einstellte. Nina, eng umschlungen mit Tony, ihrer derzeitigen großen Liebe, machte mir Zeichen, um zu erfahren, ob mir jemand gefiel. Mit den Augen verneinte ich es.

Gegen zehn erschienen zwei neue Gäste. Nach einem schnellen Blick in die Runde fanden sie Nicole und Nina, die verschwörerisch miteinander flüsterten. Sie begrüßten sie herzlich mit Umarmungen und Küsschen.

Gleich darauf führte Nina die beiden zu mir.

„Peter und Bill, alte Freunde“, leitete sie die Vorstellung ein, und sah mich bedeutungsvoll an.

Peters tiefer Blick in meine Augen ließ mich bis zu den Haarwurzeln erröten, was mich ärgerte, denn gewiss war es nicht unbemerkt geblieben. Bill dagegen hatte einen etwas seltsamen Ausdruck mit einem kleinen Funken Dreistigkeit im Blick – so kam es mir jedenfalls vor. Er war mir sofort unsympathisch.

Wir wechselten einige belanglose Worte miteinander, bis Ninas Freund Tony mich zum Tanzen überredete. Den ganzen Abend über fühlte ich Peters Augen auf mir, und wann immer ich Gelegenheit dazu hatte, sah auch ich heimlich zu ihm hinüber. Dieser Mann hatte es mir auf den ersten Blick angetan. Er war um die dreißig, groß, sportlich, mit dichtem schwarzen Haar und hinreißenden blauen Augen. Sein Abendanzug machte ihn noch attraktiver. Seine ganze Erscheinung entsprach meinem männlichen Idealbild, und ich wünschte mir, dass auch ich ihm gefiele und er mich weiter ansehen möge.

Ich wurde nicht enttäuscht. Sooft ich mich umdrehte, um ihn heimlich zu betrachten, ertappte ich ihn zu meiner großen Befriedigung dabei, wie er mich mit seinem Blick fixierte.

Als ich genug hatte vom Tanzen, ging ich zum Tisch, um etwas gegen meinen Durst zu tun. Peter kam mir zuvor und hielt mir ein Glas Champagner entgegen. Er ließ seinen Blick lange auf mir ruhen – so schien es mir jedenfalls – und lächelte unmerklich. Die Musik war leiser geworden. Sanfte Melodien hatten die heißen Rhythmen abgelöst. Die Paare tanzten nun in zärtlicher Umarmung oder ließen sich in die bequemen Polster der Sofas sinken.

Mit einer leichten Verbeugung, die etwas aus der Mode geraten, für mich aber besonders schmeichelhaft war, forderte Peter mich zum Tanzen auf. Sein kräftiger Arm legte sich um meinen nackten Rücken und ließ mich unerwartet schaudern. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass ein so enger Kontakt mit dem anderen Geschlecht in meiner Heimat nicht nur unvorstellbar war, sondern auch für diejenigen, die etwas Derartiges wagten, ernste Folgen haben konnte. Von unseren verschlungenen Fingern stiegen wohlig warme Wellen in mir auf. Sein schönes Gesicht, leicht geneigt, sodass es meine Wange berührte, entfachte gewagte Gedanken. Ich versuchte, meine Selbstbeherrschung zu behalten, aber die Kontrolle über meine Reaktionen entglitt mir. Ich fühlte, wie mein Körper der Lockung seines unbestreitbaren Charmes nachgab und meine Seele wünschte, das Lied möge nie enden. Lonely Table just for One klagte die tiefe, melodische Stimme des Sängers, doch ich war ganz und gar nicht seiner Meinung. In den starken Armen, die mich meisterhaft und mit einem unfehlbaren Gefühl für Rhythmus führten, fühlte ich mich wie eine Reisende, die einen neuen, großen Aufbruch plant. Die Reisende, über die Weltkarte gebeugt, entdeckt in einer entfernten Gegend einen seltsamen, reizvollen Namen, der ihre Phantasie anregt, und beschließt plötzlich, diesen Ort und keinen anderen aufzusuchen. Genau das wollte ich auch in jenem Moment; ich wollte einzig und allein in seinen Armen sein, die den unbetretenen Weg repräsentierten, den unerschlossenen Übergang meiner Unerfahrenheit in die plötzliche Erkenntnis der magischen Anziehungskraft, die dieser attraktive Vertreter des anderen Geschlechts auf mich ausübte und die ich mit meinen achtzehn Jahren zum ersten Mal spürte.

Die Anziehungskraft schien gegenseitig zu sein, denn bald zog Peter mich noch enger an sich, und ich ließ, geborgen, sicher und offen wie eine Blüte, die ersten Pfeile eines Gefühls in einem Kapitel neuer, willkommener Erfahrungen in mich eindringen.

Das Lied war zu Ende, so sehr ich auch das Gegenteil gewünscht hatte. Gezwungenermaßen lösten wir uns voneinander mit dem Gefühl, dass mit uns beiden etwas geschehen war. Unsere Hände blieben eng verschlungen, und wir blickten einander tief in die Augen und versuchten, forschend in die Tiefe des Verstandes und der Seele des anderen einzudringen. Ich wusste nicht, dass so etwas Liebe auf den ersten Blick hieß. Dennoch stand ihre Verkörperung vor mir und hörte auf den Namen Peter.

Mein Verstand unternahm einige Versuche einzugreifen, doch ich schob ihn entschlossen zur Seite, da ich nicht wollte, dass er mich beeinflusste und diese seltsame Magie zerstörte: Die Berührung mit dem gut aussehenden Unbekannten, der mir plötzlich bekannter und wünschenswerter erschien als alle anderen, die ich kannte; der Saiten in mir berührte, die ihren freudigen Klang zum ersten Mal in meinem ganzen Sein ertönen ließen und alle meine geschickt verborgenen jugendlichen Sehnsüchte, die bisher von den vielen Vorschriften und Verboten meiner Erziehung stranguliert worden waren, an die Oberfläche brachten.

Mit sanftem Druck seiner Hand auf meine Taille führte Peter mich zu einem Sofa in der Ecke und trennte mich damit endgültig von meiner Gesellschaft, die mich jedoch nicht zu vermissen schien. Ohnehin waren alle versunken in ihre angenehmen Beschäftigungen – Tanzen, Essen, Trinken und ausgiebiges Flirten. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mir seltsamerweise ausgesprochen angenehm war, lehnte Peter sich auf dem Sofa zurück, wobei er mit seinem Oberarm leicht meinen Rücken berührte, und blies Ringe mit dem Rauch seiner Zigarette. Der Duft seines Rasierwassers war da, in meiner Nase, und schürte mein geheimes Verlangen, mich in seiner Umarmung zu verlieren, seine Lippen, seinen Körper, seine Seele zu erforschen. Der Champagner hatte meine physischen und psychischen Sicherungen durchgebrannt, falls sie jemals vorhanden waren, angesichts der intensiven Übereinstimmung, die ich mit diesem Mann spürte, den bereits jedes Molekül meines Körpers anzunehmen begonnen hatte wie den Geschmack eines alten, bekannten Weines.

Ohne Vorbehalte, eher mit einer gewissen Hast tauschten wir die Informationen aus, die wir für den Moment voneinander wissen mussten. Ich sagte ihm, ich sei afghanischer Abstammung, habe allerdings die englische Staatsangehörigkeit. Er wollte unbedingt Einzelheiten darüber erfahren. Und ich gab sie ihm. Ich erzählte, dass meine Mutter in London eine Frühgeburt hatte, weil sie gestolpert und die Treppe des Hotels heruntergefallen war, in dem sie zu der Zeit wohnte. Zum Glück hatte sie keinen gesundheitlichen Schaden davongetragen. Meine vorzeitige Geburt erschreckte meinen Vater, der ein schlechtes Gewissen hatte, weil er von meiner Mutter – im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft – verlangt hatte, ihn auf der weiten Reise von Afghanistan nach Europa zu begleiten. Die Versicherung der Ärzte, dass meine Mutter und ich in ausgezeichnetem Gesundheitszustand seien, erleichterte ihn und erlaubte ihm, sich an dem Mädchen zu erfreuen, das mit einem Abstand von acht Jahren zu seinem ersten Kind, meinem Bruder Nabil, auf die Welt gekommen war.

Peter erzählte mir, dass er aufgrund seiner Arbeit einige Monate in Kabul gelebt hatte, und fragte nach meinem Nachnamen. Meine Überraschung war groß, als er mir sagte, er habe meinen Vater kennen gelernt und mit ihm zusammen an einigen offiziellen Treffen von Regierungs- und internationalen Organisationen sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan teilgenommen. Seine Arbeit als höherer Mitarbeiter einer humanistischen Organisation führte ihn an verschiedene Orte in der ganzen Welt, wo auch immer seine Regierung und seine Vorgesetzten seine Anwesenheit für erforderlich hielten. Er reiste viel, aber sein fester Standort war London.

Wir tauschten so viele Informationen wie möglich aus und erfuhren so das Wesentliche über das Leben des anderen. Natürlich waren es weder der Ort noch die Zeit für Einzelheiten. Dazu würde sich später Gelegenheit ergeben, so hoffte ich jedenfalls von ganzem Herzen.

Nina hatte mir schon seit einiger Zeit versteckte Winke gegeben, war jedoch nicht in unsere Nähe gekommen, um den Flirt, der so offensichtlich in vollem Gange war, nicht zu unterbrechen. Am Ende des Abends tanzten wir eng umschlungen, gleichgültig gegenüber allem, was um uns herum passierte, versunken in der Erfahrung, einander zu entdecken. Die anderen interessierten uns nicht mehr. Das Einzige, was uns beschäftigte, war dieser Kontakt, diese elektrisch geladene Atmosphäre der Magie zwischen uns, von der ich mir brennend wünschte, sie möge eine Ewigkeit anhalten. Es war für mich eine neue, nie erlebte Reise in ein Gebiet, auf dem ich keinerlei Erfahrung hatte; doch an jenem Abend spürte ich die Notwendigkeit, es gründlich zu erforschen und alle seine verborgenen Winkel zu entdecken, alle seine Aufregungen und alle Überraschungen, die es sicher für mich bereithielt. Verstand und Körper hatten sich einmütig auf die Seite dieses Neuankömmlings in meinem Leben geschlagen, und mein ungehorsames Herz schob alle Vorbehalte beiseite und öffnete seine Kammern, eine nach der anderen, um die erwachende Liebe zu empfangen; es versetzte meine sämtlichen Sinne in Bereitschaft, diese verführerische Berührung anzunehmen, die jeden abweichenden, argwöhnischen Gedanken verjagte. Für mich hatte das alles die Intensität eines Blitzes, der die ganze Kraft seines Strahls um mich herum entlud und mich in einen Leiter verwandelte, der mit Freuden erwartete, Empfängerin und Verehrerin dieser himmlischen Strahlung und ihrer unbestreitbaren Macht zu werden.

Einmalige Momente der Unwissenden, der Unerfahrenen, der romantischen Seele, die ich damals war; Momente, die zu ersten Stationen der Verzauberung und der Leidenschaft des neuen, ungerufenen Gottes wurden, den ich zukünftig anbeten sollte, des Gottes Amor.

ICH, DIE FRAU DES TALIBAN

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