Читать книгу Eisjungfer - Dina Sander - Страница 4
Prolog
ОглавлениеEs war bitterkalt.
Aus meinem Mund kamen kleine, weiße Wölkchen. Erst fielen sie mir gar nicht auf, so sehr war ich auf meine Umgebung fixiert. Alles konnte eine Gefahr für mich sein, jeder Schritt meinen Tod bedeuten, jedes Geräusch mich verraten. Als ich mich geduckt, fast schon am Boden kauernd, vorwärts schlich, gerade so viel Abstand zu den schneebedeckten Büschen hielt, dass sie sich nicht bewegten, fiel mir mein Atem auf.
Erschrocken verharrte ich, schlug die Arme um meine Schultern und versuchte das Zittern zu unterdrücken. Vergeblich. Ebenso vergeblich wie meine Versuche, den weißen Atem aufzulösen.
Angst durchdrang meine Gedanken. Sie war noch kälter als die Winterluft, als die eisige Natur in der nächtlichen Gebirgslandschaft. Sie durchdrang mich von innen und ließ mich erfrieren. Keine Bewegung war mir mehr möglich. Meine ganze Konzentration lag auf meinem Atem, den weißen, sichtbaren Wölkchen.
Meine Kleidung war grau, vielleicht auch schmutzigweiß, auf jeden Fall kaum zu erkennen in der fahlen Winternacht, in der kein Mond schien und nur wenige Sterne den Nachthimmel erleuchteten. Klein wie ich war, fiel ich nicht auf am Rande des Weges, dicht neben den winterkahlen, schneebedeckten Sträuchern und Büschen. Alles hatte ich so sorgsam geplant. Sogar meine braunen Haare hatte ich unter einer verwaschenen, grauen Wollmütze versteckt. Alles an mir war perfekt getarnt. Doch mein Atem verriet mich. Er passte nicht hierher. Kein Tier war in dieser Kälte, um diese Uhrzeit noch unterwegs. Jeder, der diese feinen, weißen Wölkchen sah, wusste sofort, dass sie zu einem Menschen gehörten, zu einem Feind.
An meinen Wimpern klebten kleine Eiskristalle, meine Wangen waren totenbleich, meine Lippen leicht bläulich.
Die Mauer war schon so nah. Nur noch wenige Meter und ich hätte die Nische erreicht, in der ich mich verkriechen konnte, um alles zu beobachten und Rettung zu bringen.
Aus meinen Augen kamen keine Tränen, dafür war es viel zu kalt. Sie brannten vor Schmerz, als die Tränen in ihnen wegen der Kälte erstarrten. Nur langsam und schleichend drang der Gedanke in mein Hirn, dass ich umkehren musste. Ich hatte versagt. Wieder einmal.
Wuldor hatte auch heute den Sieg davongetragen. Mein Dorf würde mich hassen. Meine Mutter ... in mir zerbrach etwas. Mein Herz zersplitterte in tausend kleine Eisstücke. Sie würde mich nicht mehr in die Hütte zurücklassen. Es war die dritte Nacht, in der ich versagt hatte. Ich und jeder im Dorf wusste, was das bedeutete. Doch ich wollte es nicht glauben. Ich wollte nicht!
Mein kleines Herz schlug angstvoll und drohte die Rippen zu brechen, unter denen es wild hämmerte. Was immer ich auch hoffte, es war zu spät.
Es war Neumond. Wuldor verlangte ein Opfer. Wenn ich nicht den Fluch brechen konnte, dann musste ich mich ihm anbieten. Ich war die letzte reine Jungfrau in unserem Dorf. Die letzte Hoffnung. Doch ich hatte versagt, weil ich versäumt hatte, ein Tuch für meinen Mund mitzunehmen.
Mit brennenden Augen und zerbrochenem Herzen richtete ich mich auf. Da kam er auch schon. Wuldor. Grünlich schimmernd näherte sich sein Gefährt durch die eisige, weiße Luft. So majestätisch, so prachtvoll, so angsteinflößend wie er.
Er blieb neben mir stehen. Mein weißer Atem, meine kleine Gestalt, alles bot sich ihm dar. „Komm.“ Er streckte seine Hand nach mir aus. Ich musste ihm folgen. Wie all die Jungfrauen zuvor, würde nun ich eine Eisjungfer werden und das Land mit Frost und Kälte überwältigen. Meine Herrschaft würde ewig währen. Denn ich war die letzte Jungfrau meiner Generation, die letzte Jungfrau von Eilifuris. Wuldors Fluch konnte nie mehr gebrochen werden.
Ich war die Ewige Eisjungfer.