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Kapitel 3

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EISJUNGFER

Ich konnte es riechen.

Das Blut einer wahren Jungfrau roch anders als das von den anderen Frauen, von normalen Jungfrauen.

War es eine Gabe? Oder doch eher ein Fluch?

Es war mir egal.

Seit Wuldor mich zu seiner Ewigen Eisjungfer gemacht hatte, sorgte ich dafür, dass mir niemand die Position streitig machte. Ich machte Jagd auf jede jungfräuliche Seele, jede einzelne.

Wuldor ... ein Gott?

Grimmig lachend schaute ich die riesige Festhalle an. So viele Tische. Doch sie waren unbesetzt. Denn Wuldor war schon lang kein ehrfurchtgebietender Gott mehr. Seit er mich hatte, ging es mit seiner Macht bergab, während meine erstarkte. Kaum jemand kam, um ihm zu huldigen. Die Welt hatte Angst vor ihm und noch weitaus mehr vor mir.

Ich allein suchte die passenden Krieger aus, denen es gestattet war, an unserem Tisch zu sitzen, für uns zur Jagd zu gehen. Nur die besten und stolzesten Söhne von Eilifuris durften hierherkommen. Nur sie durften mit uns speisen und feiern. Und wenn sie schwach oder krank wurden, nahm Wuldor ihnen die Seele und schenkte sie einer neuen Familie, die schon viele starke Söhne hervorgebracht hatte. So war gesichert, dass sie zu perfekten Helden heranwuchsen, die dem Winter trotzten und uns das schmackhafteste Opferfleisch darbrachten.

Eilifuris, unser Reich des ewigen Eises, würde mit mir untergehen. Denn in mir floss die Macht aller wahren Jungfrauen. Ich war die wahre Herrscherin über ganz Eilifuris!

„Bald gehört alles mir!“ Wieder lachte ich. Es hallte wie das Zersplittern von reinem Glas auf marmornen Boden. Hell, klirrend und schmerzhaft eindringlich. Ein absoluter Wohlklang für meine entzückenden Ohren.

Meine eisblauen Augen verloren sich in weite Ferne. So lange schon kämpfte ich um die Alleinherrschaft. Mein süßes Näschen schnupperte, sobald eine Seele in die Schatten tauchte. Noch vor Wuldor roch ich jede Jungfrau aus den Duftlinien heraus, die der Wind in die Burg hoch oben auf den Fjalldom wehte. Bevor der altersschwache Gott sich aus seinem Bett erheben konnte, war ich bereits unterwegs, um die Seele zu fangen, aufzusaugen und die Köstlichkeit der berauschenden Reinheit tief in mir zu behalten. Wenn er jemals schneller wäre als ich, würde es mein Tod sein. Und Sterben ... nein! Ich wollte leben ... ewig leben!

So lauerte ich unermüdlich hoch oben in der Burg, suchte nach den echten Jungfrauen, unberührt von einem Mann. Und ehe der Gott des Winters auch nur in die Nähe kam, schlug ich zu. Närrischer Gott ... alter, dummer Gott!

Manch eine Jungfrau musste drei- oder sogar viermal wiedergeboren werden, ehe sie alt genug war, um tollkühn oder unvorsichtig in die Schatten zu treten. Eine kleine Unachtsamkeit nur, ein kurzer Blick zum Feuer, damit das Abendessen nicht verbrannte und die Mutter nicht hinsah. Die Jungfrau musste nicht einmal laufen können. Wenn die Patschhändchen beim Krabbeln in den Schatten eintauchten, war es zu spät für eine Rettung. Die dunklen Boten brachten mir sofort den Duft der Jungfräulichkeit und schon war ich da. Nur einen Gedanken später. Gnadenlos. Verschlang die Seele, saugte sie aus mit meinem gierigen Todeskuss. Köstlich ... so köstlich jedes einzelne Leben ... jede unberührte Seele ... nur für mich allein!

Jede Jungfrau machte mich stärker und Wuldor schwächer. Längst war der mächtige Gott der Kälte und des ewigen Winters ein schwächlicher Tattergreis geworden, der sich nachts an meine eisige Brust schmiegte, um meine Macht zu spüren.

„Mir gehört Eilifuris!“, rief ich und atmete tief ein. Meine kindliche Brust hob und senkte sich vor zorniger Erregung. Denn ich roch es. Das reine Blut, vollkommen unberührt und ... Mit zitternden Schritten ging ich durch die Halle, versuchte mehr von dem Duft im Hauch des Windes zu riechen.

„Unmöglich!“, flüsterte ich und riss die Augen weit auf. „Es ist unmöglich!“

Der Duft verlor sich und kreischend rannte ich hinaus, aus dem Saal, durch die Vorhalle und hinaus durchs mächtige Tor aus Eis und Stahl. Mein Blick fiel auf die dicken Steinmauern.

Einst, vor vielen Generationen, hatte ich auf der anderen Seite gekauert und mich meinem Schicksal beugen müssen. Ein kleines, dummes Kind. Die letzte Jungfrau, die frisch entstanden war und keine Wiedergeburt erlebt hatte. Rein. Makellos. Als einzige Jungfrau in der Lage, die Herrschaft von Wuldor zu beenden.

Doch ich hatte versagt. Damals.

Jetzt gab es kein Versagen mehr für mich. Denn ich war die letzte Jungfrau von Eilifuris, die Ewige Eisjungfer! Ich hatte das letzte Mädchen, dessen Seele und Körper noch nie von einem Mann entweiht worden war, in mich gesogen. Vor zwei Nächten. Ich erinnerte mich mit einem arroganten Lächeln. Sie war dumm und unbesonnen hinaus in die Kälte geschlichen, um einem weißen Hirschkalb zu folgen, das mit jämmerlichem Blöken um Hilfe gerufen hatte.

Ach, diese dummen Menschen! Sie ließen sich so leicht verführen.

Köstlich tauchte vor meinem inneren Blick das Bild des Mädchens auf. Wie sie mich zunächst voller Schrecken anstarrte, mit großen, dunklen Augen, naiv und treu. Im Bruchteil einer Sekunde war der Schrecken purem Entsetzen gewichen, als sie zu begreifen begann. Sie stand steif im knöcheltiefen Schnee, als sich meine weißen Finger an ihre Wangen legten, meine Lippen sich ihren näherten, so rot, so warm, so verlockend.

Oh, eisige Kälte! So berauschend!

Sie war süß und unschuldig, erst zweimal wiedergeboren. Ihrer Seele haftete der Geruch von zwei langen, erfüllten Leben an, die sie ohne Mann gemeistert hatte. Ein köstliches Geschenk an mich. Mein gesamter Körper sehnte sich nach dieser Seele, dieser letzten wahren jungfräulichen Seele!

Kurz bevor meine eisigen Lippen ihre warmen berührten, schrie sie. Ihre helle, kindliche Stimme vermischte sich mit dem klagenden Blöken des Hirschkalbs. Die Luft um mich vibrierte.

Dann … mein Mund ... unendlich sanft ... so zart die Berührung.

Der Schrei verklang, als die Seele von mir herbei befohlen wurde.

Ach, was hatte sie gekämpft! Ihre kleinen Fäuste hatten gegen meine Schultern geschlagen. Danach wagte sie ihre Nägel in meine Wangen zu bohren. Doch ich war so viel stärker! Sie war nur ein winziges Blättchen in einem riesigen Wald. Eine kleine Schneeflocke in einem mächtigen Schneesturm. Hilflos ausgeliefert. Mir.

Nur einer hätte sie retten können: Wuldor, Gott von Eilifuris.

Aber er roch schon lange keine Jungfrauen mehr. Ich hatte ihn verdorben. Mit meinem Duft. Denn ich war nicht bereit, zu verlieren, mein Leben von einer neuen Erwählten aussaugen zu lassen. Niemals!

So atmete ich genussvoll die letzte reine Seele in mich. Spürte sie meine Kehle hinabrinnen, wie ein sahniger Likör, feurig, cremig, belebend. Die wundervolle Reinheit erfrischte jede Zelle in mir, ließ meine Macht anschwellen.

Nun war ich unbesiegbar.

Stärker als Wuldor!

Fast schon schmerzhaft schreckte ich aus der Erinnerung. Da war er wieder, der Geruch, der unmögliche Duft.

„Nein!“ Ich kreischte es laut in die aufkommende Dämmerung. „Nein!“ Hass blitzte in meinen eisblauen Augen auf. Meine Nasenflügel weiteten sich, während ich wild nach dem Blut schnupperte. Doch wieder war der Duft verschwunden. Als hätte ich ihn mir nur eingebildet. Von Zorn erfüllt stampfte ich mit dem Fuß auf, doch bis auf das leichte Klirren meines Kleides war nichts zu hören. Noch einmal stampfte ich wütend auf. Der Schnee schluckte jedes Geräusch und ließ mich zornerfüllt zurück.

„Ahhh! Ich kann mich nicht irren, niemals!“ Meine wunderschöne, helle Stimme hallte über den Burghof. Mein weißes Frostkleid klirrte bei jeder ärgerlichen Bewegung. Die Kristallspitzen schimmerten und funkelten im rötlichen Schein der untergehenden Sonne. Ich war so entzückend, so lieblich, das allerschönste Wesen von ganz Eilifuris und das mächtigste Geschöpf. Niemals konnte ich mich irren!

Ich dachte an das kleine Mädchen, zweimal wiedergeboren. Die letzte Jungfrau von ganz Eilifuris. Die letzte Seele, die mir hätte gefährlich werden können. Vor zwei Tagen war sie die letzte Seele gewesen, die in keinem ihrer Leben jemals entweiht worden war. Ich hatte es gespürt, gerochen und dann gewusst.

Und heute?

Der Wind hatte mir den Geruch einer Jungfrau zugetragen. Einer Jungfrau, die so frisch und rein war, so makellos, dass sie noch nie wiedergeboren worden war. Vollkommen unmöglich! Denn es gab kein neues Leben mehr. Es gab nur den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten. Es gab kein frisches, neues Leben! Nie, nie, nie!

Noch einmal stampfte ich auf, obwohl ich wusste, dass niemand es hören konnte. Dafür klirrte mein Kleid umso lauter. Das befriedigte mich ein klein wenig in meinem Zorn.

Wuldor hatte vor Generationen entschieden, dass keine neue Seele geboren werden sollte und die erbärmlichen Menschen aussterben sollten. Er war ihrer überdrüssig geworden. Nur meine Nähe und Lieblichkeit konnte ihm noch Freude beschweren.

Meine Seele, so hatte es mir damals meine Mutter erzählt, war die letzte neugeborene Seele gewesen, die sich ihm jungfräulich in den Weg hätte stellen sollen. Ich hätte ihn vernichten sollen, damit sein Bann gebrochen und der andauernde Winter besiegt würde.

Ich richtete mich hoch auf, mein kleines Köpfchen reckte sich und meine Nase war hoch erhoben. In dieser Position zeigte ich allen meine Macht und Herrlichkeit. Ich allein war auserkoren ewig zu leben und zu herrschen. Mein Atem beschleunigte sich voller Hass und Zorn auf diese Unmöglichkeit.

Sie musste sterben!

Bevor sie Wuldor erreichte.

Denn sie hatte heute die Macht, die ich einst gehabt hatte.

Ich hatte damals versagt ... sie musste jetzt versagen!

Niemals würde ich zulassen, dass sie Wuldor vernichtete, der schwach geworden war und leicht zu besiegen. Wenn er starb, was war ich dann? Ich würde nicht länger die Krieger auswählen, Festgelage abhalten und die schmackhaftesten Speisen erhalten. Kein Wesen würde mich mehr fürchten und sich vor mir verstecken. Ich würde altern, hässlich werden, kränklich und eines Tages sterben. All die kostbaren Seelen in mir würden mit mir sterben. Mein Suchen und alle Eroberungen der letzten Generationen wären sinnlos gewesen.

Das durfte nicht geschehen!

„Krieger!“ Laut schallte meine Stimme durch die eisige Luft. Der Wind würde sie über ganz Eilifuris wehen. Sie würden sie hören und in wenigen Stunden durfte ich die Männer erwarten. Und dann ... Oh eisige Kälte! ... musste die Jungfrau, die nicht existieren konnte, um ihr Leben fürchten! Denn ich war die Ewige Eisjungfer, die wahre Herrscherin über Eilifuris!

Eisjungfer

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