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Kapitel 1

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KJELLRUN

„Kjellrun! Kjellrun, wo bist du? Komm nach Hause, die Dunkelheit bricht herein!“

Kjellrun rollte mit den Augen und zischte: „Ja ja ja, wenn die Schatten mich berühren, dann kommt die Eisjungfer und holt mich. Vielleicht sollte ich es einfach mal ausprobieren.“

Ärgerlich stand sie auf, strich sich den Schnee von der Hose und verzog missmutig das Gesicht. Jeder wusste, dass die meisten Tiere in der Dämmerung auf Nahrungssuche gingen. Warum musste sie dann immer ins Haus? Ihre Freunde brauchten sich auch nicht verstecken. Es war so ungerecht, ein Mädchen zu sein. Das alles nur wegen einer Legende, einem dummen Kindermärchen.

Zornig stapfte sie durch den Schnee nach Hause. Sie konnte ihre Mutter schon von weitem sehen. Eine mittlerweile alte Frau, die mehr weiß als braun in ihren Haaren hatte. Ihre Gestalt war von einem langen, harten Leben gekennzeichnet, der Rücken leicht gebeugt, alles dürr und knochig. Doch ihre braunen Augen hatten noch immer das jugendliche Funkeln und ihre Stimme war kräftig und laut. Sie konnte ganz Hjolmfort überschallen. Das war auch ein Grund, warum Kjellrun ihre Jagd aufgegeben hatte. Nach dem lauten Ruf war sowieso jedes Beutetier meilenweit verschwunden.

Seufzend schaute Ingvild auf ihre widerspenstige Tochter, als sie fast bei ihr war. „Ach, Kind, Kjellrun, es ist doch nur zu deinem Besten“, sagte sie mit leiser Stimme. Sie streckte eine Hand nach dem schlanken Mädchen aus, deren Augen fast silbern glänzten, so hell waren sie. Manche sagten, Kjellrun wäre etwas Besonderes, da sie als einzige keine blauen oder braunen Augen hatte. Doch das war Unfug. Wahrscheinlich war ihr Blau nur so hell, dass es silbrig wirkte.

„Mutter, ich bin kein kleines Kind mehr“, entgegnete Kjellrun und verzog missmutig ihr Gesicht. Wie immer hatte sie keine Lust, nachzugeben und um Entschuldigung zu bitten. „Ich glaube nicht an dieses Märchen von der Eisjungfer. Wenn es sie wirklich gäbe, warum holt sie dann keines der Mädchen? Warum hat noch niemand sie gesehen?“

„Shhh“, machte die Mutter und blickte erschrocken. Sie fasste nach dem Arm der Tochter und zog sie hastig mit ins Haus hinein. „So darfst du doch nicht reden, wenn die Schatten so nah sind. Was ist, wenn sie dich hört und zur Strafe für deinen Übermut heute Nacht noch holt?“

Wieder rollte Kjellrun nur mit den Augen. Warum ihre Mutter nicht von diesem Märchen ablassen konnte, würde sie wohl nie verstehen.

„Solange du eine Jungfrau bist, mein Kind, droht dir Gefahr. Ich spüre das. Glaub mir.“

Kjellrun schüttelte den Kopf und verengte ihre Augen zu kleinen Schlitzen. Jetzt war sie richtig zornig. Immer dieses dumme Gerede über Jungfräulichkeit. Als ob das einen Sinn ergab! Ihre Freunde, da war sie sich sicher, waren auch noch jungfräulich. Na ja, einige zumindest. Sjard auf jeden Fall, da war sie sich absolut sicher. Immerhin war er zwei Jahre jünger als sie und ... und ... ach, was sollte das ganze Nachdenken? Sjard war Jungfrau, genau wie sie, da brauchte sie nicht lang überlegen. Wenn er in der Dämmerung jagen gehen durfte, warum sie nicht?

„Diese dämliche Eisjungfer soll mich ruhig holen“, zischte Kjellrun aufgebracht. „Ich werde ihr sagen, was ich von ihr und ihrer dämlichen Jungfräulichkeit halte. Es wird Zeit, dass sie das Lager eines Mannes teilt, damit wir Mädchen endlich in Frieden gelassen werden!“

Entsetzt schlug Ingvild die Hände vor den Mund. Ihre Augen waren ganz groß. Für einen Augenblick starrte sie fassungslos auf ihre Tochter und konnte nicht begreifen, was diese soeben gesagt hatte. Angst blitzte in Ingvilds braunen Augen auf.

Es war Kjellrun egal. Trotzig funkelten ihre silbergrauen Augen. Sie stemmte die Arme in die Seiten ihres muskulösen, schlanken Körpers. Mochte die Mutter erschrocken sein, sie war zu alt, um sich noch erziehen zu lassen. Immerhin war sie die Ernährerin in dieser Familie, die leider nur aus ihr und ihrer Mutter bestand. Doch ohne ihre Jagdkenntnisse, würden sie keine Beute haben. Es reichte kaum für sie beide, aber wenn sie jeden Mondumlauf etwas zum großen Dorffest beisteuern mussten, war es immer ihr Verdienst, dass sie nicht eines Tages fortgejagt wurden. Ingvild wusste das, also warum verbot sie ihr immer noch in den Schatten zu jagen, wenn die meisten Beutetiere unterwegs waren?

„Thore hat heute vorgesprochen“, sagte Ingvild schließlich.

„Thore?“, wiederholte Kjellrun ungläubig und ihre Augen blitzten zornig. „Darum das Gerede über die Eisjungfer? Es geht gar nicht um meine Sicherheit, sondern darum, dass du mir Angst machen willst, damit ich mich binde?“

Voller Besorgnis blickte Ingvild ihr Kind an. Ihre braunen Augen wirkten fast schon leidend. „Er ist ein guter Mann. Der beste Jäger im Dorf, es gibt keinen Besseren.“

„Er ist ein arroganter, selbstverliebter Bär“, erwiderte Kjellrun und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.

„Thore hat schon ein eigenes Haus. Er lebt nicht mehr bei seinen Eltern. Dennoch jagt er für sich und für sie. Er ist ein guter Mann, ein wirklich guter Mann.“

„Nein.“

Seufzend senkte Ingvild den Kopf. „Ich habe ihm gesagt, dass du dich geehrt fühlst und ihn morgen zur Jagd begleiten willst.“

„Das hast du nicht getan!“ Mit offenem Mund starrte sie ihre Mutter an. Fassungslos fielen ihre Arme herunter.

Wenn eine Jungfrau einen Mann zur Jagd begleitete, kam das einer Vorbindung gleich. Direkt nach der Jagd übergab der Mann die Beute als Kaufpreis der Familie der Jungfrau. Danach folgte eine zweite gemeinsame Jagd und die Beute wurde komplett der Familie des Mannes gebracht. Die Beute der dritten gemeinsamen Jagd wurde genommen, um ein kleines Fest zwischen den Familien auszurichten. Und dann ... nun ... nach dem Fest, am nächsten Morgen, war die Jungfrau keine Jungfrau mehr. So einfach war das.

„Kjellrun, die anderen Mädchen in deinem Alter haben entweder einen Mann und Kinder, oder sie haben kranke Eltern, um die sie sich kümmern müssen.“

„Du bist krank“, warf Kjellrun hastig ein, „oder zumindest bist du hilfsbedürftig. Du kannst nicht ohne mich an Fleisch kommen.“

„Das habe ich alles schon mit Thore besprochen. Er ist ein guter Mann, das habe ich doch gesagt. Er stimmt zu, solange für mich zu sorgen, bis meine Seele einen neuen Körper wählt.“

„Da mache ich nicht mit. Auf gar keinen Fall. Eher gebe ich mich ...“ Sie überlegte hastig, mit welchem ihrer Freunde sie das Lager teilen würde, um endlich diese verhasste Jungfräulichkeit loszuwerden. Aber eigentlich gab es keinen. Es waren schließlich ihre Freunde! Mit einem Freund teilte man nicht das Lager. Doch wenn es unbedingt sein musste, gab es eigentlich nur einen, dem sie erlauben konnte, sich ihr … irgendwie … zu nähern.

„Eher gebe ich mich Sjard hin!“, rief sie trotzig. „Dann bin ich keine Jungfrau mehr und kann auch in der Dämmerung jagen. Wir werden nie wieder Not leiden, weil ich zu wenig Fleisch bekomme. Sjard ist auch ein guter Mann.“

„Kind!“ Entsetzt starrte Ingvild die Tochter an. „Sjard ist ein Kind, er ist kein Mann. Er kann dich nicht ernähren.“

„Das soll er doch auch gar nicht. Er soll mir nur die Jungfräulichkeit nehmen, damit ich auch in den Schatten jagen kann. Ohne dass du vor Angst vergehst. Denn diese Eisjungfer, an die glaube ich immer noch nicht.“

Ingvild schlug die Hände vor ihr Gesicht. „Was habe ich nur getan, dass ich solch eine Seele geboren habe?“, murmelte sie und schüttelte den Kopf. „Wieso habe ich nie zuvor von solch einer rebellischen Seele gehört?“

Kjellrun presste die Lippen fest zusammen. Ihr ganzer Körper bebte vor Zorn und ehe sie etwas Falsches sagte, stürmte sie aus der Stube in den hinteren Bereich, wo die Schlafkammern lagen. So kräftig sie konnte, warf sie die Holztür hinter sich zu und war froh, dass die beiden Räume nicht durch ein Fell abgeteilt waren, so wie es die Schlafkammern waren.

Sie ahnte nichts von den Sorgen ihrer Mutter. Es war ihr auch gleich. Denn jetzt ging es um ihre Zukunft. Um ihre eigenen Sorgen. Sie hatte den Bereich gleich hinter der Tür. Mit immer noch funkelnden Augen zerrte sie ihr Bettgestell nach ganz hinten in die Ecke und warf sich darauf. Sie würde heute ohne Abendessen schlafen gehen. Dieser dumme Streit hatte ihr den Magen verdorben, es rumorte in ihm und sie wusste, jeder Bissen würde schwer wie ein Stein in ihm liegen. Abgesehen davon hatte sie wieder einmal viel zu wenig erjagt. Das magere Schneehäschen reichte gerade, um eine Person satt zu kriegen. Ihre Mutter brauchte das Essen dringender. Sie konnte sich doch nicht ständig von Kräutern und Eisbeeren ernähren.

Seufzend legte sie einen Arm über ihre Augen. „Thore“, murmelte sie und verzog ablehnend die Mundwinkel. „Warum von allen Männern des Dorfes ausgerechnet er?“

Sie konnte ihn nicht leiden. Bei ihm war sie absolut sicher, dass er keine Jungfrau mehr war. Außerdem war sie sicher, dass er dafür gesorgt hatte, dass einige Mädchen, die jünger als sie selbst waren, keine Jungfrauen mehr waren. Als sie erst zwölf Jahre alt gewesen war, hatte sie ein Gespräch zwischen ihm und seinen Freunden belauscht. Sie hatte sich hinter einem Haufen Holzscheite versteckt, als die grölende Männertruppe sich genähert hatte. Thore hatte sich damit gebrüstet, die kleine Björk vor der Eisjungfer gerettet zu haben. Im ersten Moment war Kjellrun hin und her gerissen gewesen. War er ein Held, weil er die vierzehnjährige Björk gerettet hatte? Gab es die Eisjungfer denn wirklich und er hatte sie gesehen und besiegt? Doch als sie das dreckige Gelächter der Männer vernahm und jeder von ihnen aufzählten, wen er schon alles vor der Eisjungfer gerettet hatte, begann Kjellrun trotz all ihrer Unschuld und Kindlichkeit zu verstehen. An jenem Tag hasste sie Thore.

Irgendwann im Laufe der Jahre wurde aus dem Hass Verachtung. Als sie aber älter wurde und sich dem Erwachsensein näherte, fing Thore an, ihr nachzustellen. Da wurde aus ihrer Verachtung Ablehnung und auch ein klein wenig Angst. Er war groß und stark. Mächtig wie ein Bär. Wenn er ein Reh erlegt hatte, brauchte er es nicht direkt heimtragen. Er konnte auch noch ein zweites erjagen. Einmal hatte er einen kleinen Bären erlegt und heimgebracht, damals war er gerade zwölf Jahre alt gewesen. Er hatte das gefährliche Tier allein gejagt und allein getragen und seinen Eltern heimgebracht. Seitdem bewunderten ihn alle Mädchen und Frauen von ganz Hjolmfort. Jede, die noch nicht gebunden war, sehnte sich nach seiner Aufmerksamkeit. Und wenn die schmutzigen Geschichten, die ihre Freunde ab und zu erzählten, nicht ganz gelogen waren, lag Thore auch bei Frauen, die schon einen Partner hatten.

Diesen Mann sollte sie nun zum Partner nehmen? Niemals! Sie konnte sowieso nicht begreifen, was Thore von ihr wollte. Alle anderen Männer mieden sie, weil sie so blass war, bleicher als jeder in Hjolmfort. Ihre silbergrauen Augen und fast weißen Haare, in denen nur einzelne braune Strähnen schimmerten, waren einzigartig. Außerdem war sie nicht ansprechend gerundet und auch ihre Brüste blieben flacher als die der anderen Mädchen in ihrem Alter. Das machte sie zu einem misstrauisch beäugten Wesen.

Oder bildete sie sich das nur ein? Vielleicht hatten die jungen Männer Angst vor ihr, weil Thore sie haben wollte? Er wollte immer das Besondere. Also durfte niemand Interesse an ihr zeigen, sonst würde Thore ihm schon zeigen, was er davon hatte - nichts nämlich, außer gebrochener Knochen.

Kjellrun seufzte.

Vielleicht hatte ihre Mutter Recht. Sie musste endlich einen Mann nehmen, die Jungfräulichkeit verlieren und in den Schatten jagen gehen. Mit ihren siebzehn Jahren war sie schon viel zu lange Jungfrau. Was war denn schon dabei, wenn sie mit einem Mann zusammen lag? Ihre Mutter hatte es doch auch getan, einst, als ihr Vater noch lebte. Oder etwa nicht?

Kjellrun runzelte die Stirn. Sie hatte ihren Vater nie kennengelernt. Die Mutter war aus einem anderen Dorf hergezogen, weil dort alles sie an den Mann erinnerte, der von einem mächtigen, wilden Bären getötet worden war. Damals war sie mit Kjellrun schwanger gewesen. Man hatte Ingvild in Hjolmfort aufgenommen und mitversorgt. Kjellrun trug noch heute an der Schuld ab.

Denn das war das Gesetz des Dorfes Hjolmfort im Reich von Wuldor, dem Gott der eisigen Kälte und des ewigen Winters. Wenn man die Hilfe der anderen brauchte, um zu überleben, so musste man zurückgeben, was man empfangen hatte, sobald man die Kraft dafür fand.

Ingvild hatte nie jagen gelernt. Sie konnte nichts zurückgeben. Es war ein Wunder, wie sie so alt hatte werden können, ohne auch nur ein einziges Mal auf die Jagd gegangen zu sein.

Kaum war Kjellrun fünf Jahre alt, lernte sie Schlingen legen. Sie huschte den Erwachsenen hinterher, um sie heimlich zu beobachten und alles begierig aufzusaugen, damit sie es später ausprobieren konnte. Von der Mutter lernte sie nichts über die Jagd. Sie brachte ihr nur nähen und kochen bei und erzählte ihr etwas über die Pflanzen, die sie in Pflanzschalen züchtete. Doch die Pflanzen schenkten nicht genug Energie, um die Kälte überstehen zu können.

Alles, was Kjellrun über die Jagd wusste, hatte sie von den größeren Männern und Frauen gelernt. Auch das Schnitzen von Pfeilen, das Biegen eines Bogens, selbst die Herstellung der kostbaren Wurfpfeile hatte sie erlernt, indem sie um die Großen herumgeschlichen war und zuschaute. Da ihre Mutter nicht erlaubte, dass Waffen im Haus waren, konnte Kjellrun sich keinen Bogen machen. Doch Wurfpfeile und eine kleine Schleuder versteckte sie an ihrem Körper und nahm sie immer mit sich, wenn sie sich zum Schlafen zurückzog. In ihren Schlingen, die sie im Wald auslegte, fand sie ab und zu Hasen. Manchmal hatte aber auch ein Fuchs die Beute schon für sich beansprucht, was dann wieder weniger Fleisch für sie und ihre Mutter bedeutete.

Viele Gedanken schwirrten in Kjellruns Kopf herum in dieser Nacht. Denn es war die Nacht des Abschieds. Morgen früh, wenn der erste Tagesschein die Schatten vertrieb, würde sie aufbrechen. Auf keinen Fall wäre sie mehr hier, wenn Thore vorsprach. Sollte er doch ein anderes, williges Mädchen mit sich zur Jagd nehmen.

Was aber sehr schwer auf Kjellruns Seele lastete, war ihre arme, alte Mutter. Wer würde sich um sie kümmern, wenn sie ging? Thore hatte ihr nur Schutz versprochen, wenn es zu einer Bindung kam. Die würde es aber niemals geben, niemals!

„Ich muss zu Sjard und ihn um Hilfe bitten“, flüsterte Kjellrun, als ihr die Augen vor Müdigkeit schon zufielen. „Sjard ist ein guter Mann, ein guter Junge. Ein treuer Freund. Er wird auf Mutter achten.“ Bevor sie endgültig einschlief, huschten durch ihre Gedanken heulende Wölfe. Scharen von weißen und grauen Wölfen, deren orangene, blaue und silbergraue Augen in der Dunkelheit leuchteten. Als letztes schoss ihr durch den Kopf: Ulvershom. Die Heimat ihrer Eltern. Dann schlief sie ein.

Eisjungfer

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