Читать книгу Der tote Carabiniere - Dino Minardi - Страница 4
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ОглавлениеDer Arbeiter steckte beide Hände in die Taschen seiner weiten Arbeitshose. »Wenn das so weitergeht mit dem Wetter, werden wir vor dem Winter nicht mehr fertig.«
Niemand antwortete ihm. Pellegrini war kein Morgenmuffel, aber um diese Uhrzeit mit Fremden über das Wetter plaudern war doch zu viel des Guten. Eine Stunde später kam er auf Touren: Sieben Uhr, das war seine Zeit.
Schweigend betraten sie die Station der funicolare. Die Bahn stand schon bereit, die Türen der roten Waggons waren geöffnet. Knapp ein Dutzend Personen hatte sich Sitzplätze gesucht. Niemand stand an den bodentiefen Frontscheiben, die normalerweise einen sagenhaften Blick über den Comer See boten. Pellegrini trat ans Fenster. Da war kein See, nicht einmal kleine Lichtpunkte der Straßenlaternen oder Häuser unten in der Stadt, nur bleigraues waberndes Nichts und dahinter Dunkelheit. Der Himmel schien sich bis auf das Wasser herabgesenkt zu haben.
Er blieb dennoch am Fenster stehen, die Macht der Gewohnheit. Die Fahrt hinunter nach Como dauert nur wenige Minuten, und er würde gleich im Auto noch lange genug sitzen. Der Arbeiter gesellte sich zu ihm. Pellegrini nickte ihm in freundlichem Einverständnis zu und war dankbar, dass sein Gegenüber es kein zweites Mal mit einer Unterhaltung versuchte. Der Mann grinste, kramte einen Tabakbeutel aus seiner Jackentasche und begann, sich Zigaretten zu drehen, die er anschließend wieder in den Beutel legte.
Die Türen schlossen sich, die Bahn ruckte und fuhr an. Schemenhaft tauchte nur wenige Meter hinter der Station die Straßenbrücke, die über die Gleise führte, aus dem Nebel auf und verschwand wieder. Kurz darauf gab es einen Ruck, ein hässliches Schleifen folgte. Der Arbeiter schaute auf, den Tabakbeutel noch in der Hand. Ein weiterer Stoß, der die Bahn kurz erzittern ließ. Pellegrinis Trolley schlug mit dem Haltegriff gegen die Fensterscheibe und kippte um. Im hinteren Teil des Wagens schrie jemand erschrocken auf.
Gerade als Pellegrini sich nach dem Trolley bücken wollte, kreischte Metall über Metall, und die Bahn kam mit einer letzten heftigen Erschütterung zum Stehen. Pellegrini wurde gegen das Fenster geschleudert und landete unsanft auf dem Hosenboden. Sein Gegenüber taumelte, konnte sich jedoch glücklicherweise auf den Beinen halten. Nur sein Tabakbeutel fiel auf den Boden.
Pellegrini griff danach, rappelte sich auf und strich sich den Mantel glatt.
»Danke, Signore.« Der Arbeiter nahm seinen Tabak entgegen und steckte ihn ein. Dabei zog er eine ratlose Grimasse und starrte aus dem Fenster. Die anderen Fahrgäste redeten aufgeregt durcheinander und rieben sich vereinzelt die Ellbogen oder Knie, doch niemand schien ernsthaft verletzt zu sein. Eher verwundert als besorgt blickten sie umher oder einander an.
Pellegrini reckte ebenfalls den Hals. »Können Sie irgendwas erkennen?«
»Nichts. Hat sich angehört, als ob wir irgendwo gegen gefahren sind.« Er grinste wieder. »Vielleicht ein Baumstamm. Gleich rücken die Banditen an und fordern unser Geld.«
Pellegrini brummte nur, fand den Gedanken alles andere als witzig. Es schien wirklich, als habe etwas die Schienen blockiert. Aber was und wieso? Der Hang war steil, das meiste würde einfach hinunterrollen.
Die Sekunden verrannen, dehnten sich zu Minuten. Nichts geschah. Die Fahrgäste schauten sich um, unterhielten sich leise. Jemand meinte, es müsse doch eine Durchsage geben, um sie zu informieren. Doch Pellegrini konnte weder Lautsprecher entdecken noch erinnerte er sich daran, jemals eine Durchsage in der Seilbahn gehört zu haben – was allerdings nichts bedeutete: Er konnte solches Gerede in Zügen und Flugzeugen oder auch laufende Fernseher in Bars mühelos ausblenden.
Der Straßenarbeiter hatte sich eine der selbst gedrehten Zigaretten hinters Ohr geklemmt und zupfte gedankenverloren daran herum. Immer wieder versuchte er, durch den finsteren Nebel etwas zu erkennen.
»Jetzt bräuchten wir eine Drohne«, murmelte er.
»Warum das?«
»So einen Mini-Hubschrauber mit Kamera.«
»Ich weiß, was eine Drohne ist. Aber wie könnte sie uns helfen?«
»Na, um nachzusehen.« Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger in Richtung Scheibe. »Ich arbeite im Hochbau, wissen Sie? Brückenbau und -sanierung. Die Drohnen prüfen die Brücken auf Risse. Spart uns eine Menge Kletterei.« Er nahm die Zigarette, steckte sie in den Mund. Dann schien er sich bewusst zu werden, wo er war, warf Pellegrini einen verlegenen Blick zu und steckte sie wieder hinters Ohr.
Wider Willen wurde Pellegrini neugierig. »Wollen Sie mir sagen, die Sicherheit der Brücken wird kontrolliert, indem eine Kamera daran vorbeifliegt und Risse fotografiert?«
»Nein, ganz so ist es nicht.« Der Arbeiter lachte, freute sich, endlich die Aufmerksamkeit seines Gegenübers geweckt zu haben. »Sie machen sich keine Vorstellung! Das wird alles über Computer analysiert. Ingenieure überprüfen das. Im Zweifel müssen wir dann natürlich raus und nachsehen. Die Brücken werden auch akustisch kontrolliert und auf Schwingungen, wissen Sie?« Er machte mit den Händen eine Wellenbewegung. »Alle Brücken schwingen, wir merken das natürlich nicht, dabei bewegen sie sich teilweise ganz ordentlich. Und sie machen Geräusche. Wenn sich da was anders anhört als sonst, wissen die Ingenieure, dass irgendetwas nicht stimmt. Dann untersuchen wir das.«
Pellegrini nickte höflich und wurde vom Klingeln seines telefonino abgelenkt. Er zog es aus der Manteltasche.
»Pronto, Ispettrice. Die funicolare steckt fest.«
»Buongiorno, Signor Commissario!«, erwiderte Claudia Spagnoli in zackigem Ton. Dann lachte sie. »Immerhin bist du wach.«
»Geht so.« Pellegrini schätzte es nicht sonderlich, wenn sie die übertrieben gehorsame Befehlsempfängerin mimte. Gerade weil er sie als Kollegin mochte, war es ein schmaler Grat zwischen einem vertrauensvollen Umgang einerseits und der Wahrung des Machtverhältnisses andererseits.
»Wo bist du? Wann bist du da? Ich parke ziemlich ungünstig und kann hier nicht ewig stehen bleiben.«
»Ich bin in der funicolare.« Er schielte auf den bleigrauen Vorhang vor dem Fenster. »Wir stehen auf offener Strecke, und es geht nicht vor und nicht zurück.«
»Ich könnte hier mal nachfragen, was los ist.«
»Mach das.« Er beendete das Gespräch und seufzte genervt. »Ganz gleich, zu was Ihre Drohnen fähig sind, diese Suppe da draußen können sie auch nicht durchdringen.«
Der Arbeiter legte einen Arm gegen die Scheibe und lehnte die Stirn dagegen. »Auch wahr.«
Ein Knirschen unterbrach sie, dann ruckte die funicolare. Sie fuhr rückwärts, zunächst stückchenweise, dann erreichte sie immerhin Schrittgeschwindigkeit. Wenige Augenblicke später rollte sie zurück in die Bergstation.
Die Fahrgäste wurden unruhig, standen von ihren Sitzen auf und stellten sich vor die geschlossenen Türen. Erst nach ein, zwei weiteren Minuten öffneten sie sich, und die Menschen verließen die Kabine.
Jetzt, da der kalte Herbstwind hineinwehte, bemerkte Pellegrini, wie die Anspannung von ihm abfiel. Was wäre gewesen, wenn sie noch länger hätten ausharren müssen? Solche Situationen konnten schnell unangenehm werden. Er atmete einmal tief durch und griff nach seinem Trolley. Vermutlich war er um das Schlimmste herumgekommen, doch auch so war das nicht gerade das, was er als einen guten Start in den Tag bezeichnen würde. Er verließ die Bahn. Die Leute standen unentschlossen vor der Station, ein erstes Taxi hielt an der Straße. Der Straßenarbeiter stand etwas abseits, rauchte und telefonierte.
Pellegrini sah sich ratlos um. Weder in der Station noch davor war jemand zu sehen, den er fragen konnte, ob die funicolare in Kürze fahren würde oder nicht. Er entschied sich, Spagnoli zu bitten, ihn in der Bar abzuholen. Immerhin könnte er dann noch einen weiteren caffè trinken und ein wenig mit Paolo reden. Die Aussicht versöhnte ihn etwas.
Er hatte seiner Ispettrice gerade Bescheid gegeben, da sah er einen älteren Mann eine Metalltreppe heraufkommen, die seitlich vom Bahnsteig auf die Trasse führte. Der Mann bemühte sich vergeblich um einen gefassten Gesichtsausdruck, während er die Stufen mit wankenden Schritten heraufhastete und sich dabei ans Geländer klammerte, als müsse er sich aus Treibsand ziehen.
Rasch ging Pellegrini zurück in die Station. Der Mann stand auf dem anderen Bahnsteig, und Pellegrini wagte es nicht, die Gleise einfach zu überqueren.
»Signore, was ist passiert?«
»Bitte?« Der Mann schreckte auf und winkte hektisch ab. »Tut mir leid, ich muss die Polizei rufen. Einen Krankenwagen«, war alles, was Pellegrini verstand.
Im gleichen Augenblick bemerkte er neben der Bahntrasse eine zweite Gestalt, gerade noch so weit entfernt, dass sie als Schemen im Nebel zu erkennen war. Sie stützte sich an der Natursteinmauer ab, die dort an den Gleisen entlangführte, und hielt den Kopf gesenkt. Pellegrini wandte sich wieder an den älteren Mann, der unschlüssig am Ende der Treppe stand und vergessen zu haben schien, was er gerade tun wollte.
»Commissario Pellegrini, Polizia di Stato. Vielleicht kann ich behilflich sein.« Er griff in die Innentasche des Mantels und zog seinen Dienstausweis hervor.
Der Mann nickte und tat nichts weiter.
Pellegrini zwang sich zur Geduld. »Wie komme ich zu Ihnen? Was ist passiert?«
»Selbstverständlich. Verzeihung.« Der Mann ging zu einem Sicherungskasten und drückte ein paar Knöpfe. Die Türen auf beiden Seiten der funicolare öffneten sich, sodass Pellegrini durch die Kabine auf den jenseitigen Bahnsteig gehen konnte. Er stellte den Trolley an einer geschützten Stelle ab und nickte dem Mann aufmunternd zu. Von Nahem sah er noch mitgenommener aus, leichenblass und mit weit aufgerissenen Augen. Doch die Anwesenheit eines Polizisten schien ihm Mut zu machen.
Er wies mit dem Kinn auf die Trasse. »Kommen Sie mit. Ich zeige es Ihnen.«
»Warten Sie. Auf den Schienen, ja? Rufen Sie die Kollegen und einen Krankenwagen.« Da der Mann sich immer noch nicht rührte, schob Pellegrini sich an ihm vorbei. »Ich finde den Weg allein und kümmere mich um Ihren Kollegen da unten.«
Die Erleichterung des Mannes trug nur dazu bei, dass sich seine Vorahnungen weiter verdüsterten. Vielleicht ein Selbstmörder, der sich auf die Schienen geworfen hatte? Er hatte noch nie gehört, dass so etwas hier vorgekommen war, aber was hieß das schon?
Die Stufen der Metalltreppe waren nass und rutschig. Vorsichtig stieg Pellegrini hinunter, ging entlang der Gleise weiter bergab. Dabei war er erstaunt, wie steil diese Trasse war. Nach wenigen Metern näherte er sich der Gestalt an der Mauer. Der junge Mann lehnte keuchend und mit geschlossenen Augen an der Wand, mit der linken Hand umklammerte er eine Taschenlampe. Sein kreideweißes Gesicht mit der spitzen Nase und dem vergeblichen Versuch, sich einen Bart wachsen zu lassen, ließ ihn noch jünger aussehen, als er vermutlich war.
»Buongiorno, Signore. Ich bin Commissario Pellegrini. Ihr Kollege verständigt einen Arzt, es dauert nur noch einen Moment. Kann ich etwas für Sie tun?«
Da er keine Antwort bekam, machte er einen großen Schritt über die Lache Erbrochenes auf den jungen Mann zu. Säuerlicher Atem schlug ihm entgegen. Unruhig blickte Pellegrini sich um, doch der Nebel offenbarte ihm nichts. Das Licht der Lampen am Bahnsteig reichte gerade noch bis zur Brücke, der Hang unter ihnen lag in grauschwarz wabernder Dunkelheit.
Die Augenlider des Mannes flatterten. »Carabiniere«, murmelte er heiser und rülpste. »Verzeihung.« Er schlug die Hand vor den Mund.
Pellegrini runzelte die Stirn. »Nein, ich bin kein Carabiniere. Polizia di Stato, ich komme von der Questura in Como.«
Er hatte noch nie erlebt, dass jemand die beiden Polizeiorgane verwechselte. Die Carabinieri waren militärisch organisiert, den Rang eines Commissario gab es bei ihnen nicht, das wusste jedes Kind.
Der Mann versuchte vergeblich, seinen Blick auf Pellegrini zu richten. Er faselte vor sich hin, das einzig verständliche Wort war Uniform. Pellegrini unterdrückte den Impuls, an sich hinabzuschauen, ob sein Mantel den Eindruck vermittelte, zu einer Uniform zu gehören. Er verstand weder, was daran so wichtig sein sollte, noch, was dem armen Kerl derart auf den Magen geschlagen war. Seine Neugier wuchs, doch auch auf mehrmaliges Nachfragen erhielt er nur unzusammenhängendes Gestammel. Ein letztes Mal blickte er sich um, dann fasste er einen Entschluss. Sanft packte er den jungen Mann an der Schulter und zwang ihn mit freundlichem Nachdruck, die wenigen Schritte bis zur Station zu gehen.
»Enrico! Komm, gib mir deine Hand, ragazzo.« Der ältere Mann tauchte auf der Metalltreppe auf, beugte sich zu ihnen und streckte eine Hand aus.
Enrico blieb am Fuß der Treppe stehen. Seine Unterlippe zitterte. Pellegrini gab ihm einen Schubs, doch vergeblich.
Fluchend kam sein Kollege die Treppe herunter.
»Nun mach schon, der Commissario hat nicht den ganzen Tag Zeit, mit dir Händchen zu halten. Gleich kommt ein Arzt. Ich habe oben eine Decke, du bekommst einen Grappa, und dann vergessen wir das alles. Los!«
Dabei schob er seinen apathischen Kollegen die Treppe hinauf, der es gerade so schaffte, die Füße hoch genug zu heben, um die Stufen zu nehmen, ohne hinzuschlagen.
Der Ältere achtete nicht länger darauf.
»Tut mir leid, dass wir solche Umstände machen, Commissario«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Enrico arbeitet noch nicht lange hier. Hat so was noch nicht erlebt. Ich auch nicht. Madonna mia.«
Pellegrini zwang sich zur Geduld, was ihm zunehmend schwerer fiel. Die gesamte Situation war vollkommen absurd, er kam sich allmählich vor wie in einem schlechten Horrorfilm. Außerdem würde Spagnoli bald an der Bar eintreffen.
»Was ist passiert?«, fragte er, so ruhig er konnte.
Die beiden Männer hielten auf der Treppe inne. Der ältere wandte sich um, betrachtete ihn grübelnd und entwand dann dem jüngeren die Taschenlampe, um sie Pellegrini zuzuwerfen.
»Es ist schwer, in Worte zu fassen, Signor Commissario. Schauen Sie selbst, ungefähr fünfzig Meter hinter der Brücke. Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«
Pellegrini fing die Taschenlampe und ging ohne ein weiteres Wort die Bahntrasse hinab. Nachdem er unter der Straßenbrücke hindurch war, wurde es stockfinster. Der Lichtkegel der Taschenlampe reichte kaum zwei Meter weit. Vorsichtig tastete er sich voran. Er hatte auf einmal das Gefühl, vollkommen allein auf der Welt zu sein, um ihn herum nur Stille und graues Nichts. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wenn das hier wirklich ein Horrorfilm wäre, tat er gerade genau das Falsche. Er erinnerte sich sehr genau an solche Momente, in denen er am liebsten vom Kinosessel auf- und in die Leinwand hineingesprungen wäre, um den Filmhelden davon abzuhalten, allein loszuziehen, um die Welt zu retten und stattdessen dem unvorstellbaren Grauen zu begegnen.
Pellegrini lachte laut auf, um sich Mut zu machen. Der Nebel dämpfte den Schall, und es verfehlte seine Wirkung. Sich einen Idioten schimpfend, umklammerte er die Taschenlampe fester. Auf dem Metallgehäuse schlug sich die Feuchtigkeit nieder.
Dann sah er neben den Schienen plötzlich einen Finger. Pellegrini hockte sich hin. Zweifellos, vor ihm lag einer der mittleren Finger einer kräftigen, vermutlich männlichen Hand. Er war routiniert genug, den Fund nicht zu berühren. Sein Unbehagen war wie weggeblasen, machte konzentrierter Aufmerksamkeit Platz. Ohne sich von der Stelle zu rühren, leuchtete Pellegrini die Trasse entlang.
Die Standseilbahn wurde, wie der Name schon sagte, über ein Drahtseil den Berg hinaufgezogen, während sich die zweite Bahn, unterstützt durch den Hangabtrieb, nach unten bewegte. Das Seil verlief in zwei parallelen Strängen zwischen den Schienen, dick wie ein Kinderarm. Pellegrini erinnerte sich sehr gut daran, wie fasziniert er als kleiner Junge von der Bahn gewesen war. Er war zehn gewesen, als seine Eltern aus Deutschland nach Brunate zurückgekehrt waren, und er hatte häufig auf der Brücke vor der Bergstation gestanden, auf die Schienen gestarrt und dem gleichmäßigen Surren des Seils gelauscht, bis die Bahn lautlos in die Station einfuhr, nur um sie wenige Minuten später wieder zu verlassen.
Jetzt fragte er sich, was er sehen würde, könnte er bei besserem Licht und klarer Sicht von der Brücke aus auf die Schienen blicken. Dabei glaubte er, ein Stück weiter hangabwärts einen Arm in einem dunklen Kleidungsstück zu sehen, und hoffte, dass der Eindruck, es wäre nur ein einzelner Arm, ein Trugbild des Nebels war.
Er beugte sich tiefer über das Seil, das still und unbewegt dalag, und leuchtete daran entlang. Winzige Stofffetzen klebten am Metall, dunkle Flecken. Zwischen den Gleisen entdeckte Pellegrini eine Fingerkuppe, mehrere verbogene Metallstücke. Er erhob sich, jeder weitere Schritt fiel ihm schwer. Der Nebel hatte ihn nicht getrogen, dort lag ein einzelner Arm.
Einige Meter weiter fand er den Körper des Unglückseligen zwischen den Schienen verkantet. Die Bahn hatte ihn erfasst und einige Meter bergab geschoben, bis der Körper die Weiterfahrt endgültig blockiert hatte – was durchaus beachtlich war, denn der Hang war steil, und die Bahn hatte ordentlich Schub. So oder so, es war nur zu hoffen, dass derjenige zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen war.
Einen abgerissenen Finger konnte ein Mensch überleben, einen abgerissenen Arm vielleicht auch noch. Aber das hier? Die Person lag auf dem Bauch, Pellegrini konnte ihr Gesicht nicht sehen. Das silbergraue Haar am Hinterkopf war blutverkrustet. Pellegrini schluckte gegen das Gefühl an, keine Luft mehr zu bekommen. Er verstand, warum der junge Bedienstete der Bahn sich hatte übergeben müssen. Pellegrini konnte seine Übelkeit normalerweise ganz gut in Zaum halten, doch er hatte sich bis heute nicht an den Anblick verstümmelter Leichen gewöhnt, obwohl er schon einige schreckliche Unfälle gesehen hatte. Nicht erst, seitdem er für die glücklicherweise eher seltenen Morde in Como zuständig war, vielmehr hatte seine Zeit bei der Verkehrspolizei ihm alles abverlangt.
Allmählich konnte er wieder durchatmen. Er leuchtete die gespenstische Szenerie mit der Taschenlampe ab. Und dann begriff er mit einem Schlag, warum der junge Mann »Carabiniere« gesagt hatte. Das Opfer trug die dunkelblaue Uniform der Einheit. War das hier ein tragischer Unfall oder steckte mehr dahinter?
Pellegrini blickte sich um. Immer noch war die Welt um ihn herum still und verlassen. Hier konnte er nicht mehr viel ausrichten. Das war Sache der Spurensicherung und der Rechtsmedizin. Dennoch nahm er sich, wie es seine Gewohnheit war, einen Moment und blickte intensiv auf den Toten, versuchte, ihm die Achtung entgegenzubringen, die jedem Menschen gebührte. Versuchte zu verstehen, wieso dieses Leben auf tragische Weise früher als nötig zu Ende gegangen war. Die Uniformjacke war zerrissen und dreckig. Der Statur nach war das Opfer eindeutig männlich, aufgrund der ergrauten Haare vermutlich schon älter. An seinem verbliebenen Arm trug er eine Uhr, deren Zifferblatt zerbrochen war. Pellegrini verharrte und schaute genauer hin. Er kannte diese Uhr, oder nicht?
Seine Beklemmung kehrte zurück. Aber nicht, weil die Szenerie ihn abermals an einen Horrorfilm erinnerte, sondern weil er etwas vorhatte, für das die Spurensicherung ihn vermutlich vierteilen wollen würde. Allerdings hatte die Bahn, die den Körper vor sich hergeschoben und teilweise überfahren hatte, schon mehr Schaden verursacht, als er jemals anrichten konnte. Der ursprüngliche Unfallort lag etliche Meter weiter oben am Hang. Pellegrini musste Gewissheit haben, und zwar sofort. Er gab sich einen Ruck und beugte sich über den Körper. Unendlich vorsichtig schob er zwei Finger unter den Aufschlag der Uniformjacke.
Wenn Pellegrini sich nicht irrte, trug der Mann für gewöhnlich ein paar lose Münzen in der Hosentasche, mit denen er seinen caffè an der Theke der Bar della Funicolare zahlte. Sein Portemonnaie steckte in der linken oberen Brusttasche, vermutlich seit über vierzig Jahren und damit länger, als Pellegrini alt war.
Seine Fingerkuppe streifte brüchiges Leder. Er zog das Portemonnaie vorsichtig heraus und klappte es auf. Ein Dienstausweis. Ein altes Foto, der Mann darauf gut zwanzig Jahre jünger, als er heute war – zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war.
Pellegrini ließ den Kopf hängen. Das Portemonnaie entglitt seinen Händen und fiel neben den toten Salvatore Bianchi. Warum es dort lag, würde er später erklären.