Читать книгу Im Schatten der Depression - Dirk Biermann - Страница 11
ОглавлениеALLES, WAS ICH MACHE, IST FALSCH:
Angehörige und die Ohnmacht der Gefühle
Woran erkennt man eine Depression? Warum entsteht sie? Was hält sie aufrecht? Und wie kriegt man sie wieder weg? Fragen wie diese erhalten in einem durchschnittlich gesunden Leben meist wenig Raum. Warum auch? Das Thema „Depression“ ist dunkel und geheimnisvoll und entzieht sich damit den Alltagswünschen nach leichten, nicht zu tief reichenden Gesprächen. Wenn die Depression an die eigene Haustür klopft oder an die eines nahestehenden Menschen, ändert sich die Situation jedoch grundlegend. Dann führt dieses fehlende Wissen zu einer Menge Leid. Und das oft für lange Zeit. Denn wenn die vielfältigen körperlichen Beeinträchtigungen, die sich meist am Anfang einer depressiven Episode melden, nicht mit den Veränderungen des inneren Erlebens in Zusammenhang gebracht werden, wird die Depression falsch oder gar nicht behandelt. Dies verzögert den Behandlungsbeginn und damit den Heilungsprozess.
Manchmal werden die depressiven Symptome zwar erkannt, aber verschleiert und verheimlicht – aus Sorge, damit persönlich nicht klarzukommen, oder aus Angst vor den Reaktionen der Umwelt. Aus Unkenntnis werden depressive Symptome auch mit Charaktereigenschaften gleichgesetzt. Das macht das zwischenmenschliche Miteinander so kompliziert und anstrengend. Du bist immer so erschöpft, so negativ und gereizt, immer hast du was, ich komme gar nicht mehr an dich heran, monieren Angehörige und wenden sich ab. Dabei sind es die typischen Symptome einer bislang unerkannten Depression, die diesen irreführenden Eindruck bewirken können.
Informationen, wie die Symptome einer Depression das tägliche Miteinander beeinflussen, sind für Angehörige oft entscheidend, um das veränderte Verhalten des depressiv leidenden Partners korrekt einordnen zu können. Das kann verhindern, dass sie Schlüsse ziehen, die sie so nicht gezogen hätten, wenn sie um die Grundregeln des depressiven Erlebens gewusst hätten.
Aufseiten der direkt betroffenen Menschen kann die weitverbreitete Unwissenheit zum Wesen depressiven Erlebens zu einer jahrelangen Odyssee durch Allgemein- und Facharztpraxen führen. Irgendwie müssen die körperlichen Symptome doch erklärbar sein. Der nächste Arzt wird die Antwort kennen. Dass es etwas Psychisches sein könnte, wird häufig nicht erkannt und darüber hinaus nicht gern gehört. Die gesellschaftlichen und auch die eigenen Vorurteile gegenüber einer psychischen Erkrankung sind noch immer enorm.
Anfangs ist das Verständnis groß
Ist eine Depression erst diagnostiziert, sind die Unterstützungsangebote aus der Familie, von Freunden und Kollegen oft verständnisvoll und einfallsreich. Und dabei teils von Selbstüberschätzung geprägt. Wenn mein Partner von allein keine Lebensfreude mehr spürt, dann sorge ich eben dafür. Ein Strauß Blumen, der Sauna-Gutschein oder ein Wochenende in einem Romantik-Hotel auf dem Land haben doch immer geholfen. Mit einem Dicke-Freundinnen-Paket im Wellness-Hotel ist einer Depression aber nicht beizukommen. Eine Urlaubsreise verschärft die Symptome, statt sie zu lindern. Mitleid kommt auf. Und das im wahrsten Sinn des Wortes: Angehörige leiden mit den Betroffenen mit.
Da Angehörige als sogenannte Gesunde über genügend Antrieb und Lebenskraft verfügen – und meist ohnehin nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen –, stürzen sie sich in Aktionen und unterstützen ihre kraft- und antriebslosen Partner auf allen Ebenen. Sie meinen es gut und übernehmen immer mehr Aufgaben. Lass mich machen, komm du erst mal wieder zu Kräften. Gleichzeitig engagieren sie sich emotional und machen ihren Partnern immer wieder Hoffnung.
In dieser Phase leben Angehörige und Freunde permanent in einer Zwickmühle. Ärzte und Psychologen warnen zwar ausdauernd davor, eine therapeutische Rolle einzunehmen, doch als direkte Bezugspersonen sind sie meist derart intensiv an der Dynamik der Depression beteiligt, dass sie unversehens in diese Position hineinrutschen. Dabei nimmt die Unterstützung oft schleichend einen destruktiv gefärbten Charakter an, meist im Sinn eines Ich weiß besser, was gut für dich ist.
Konkrete Hilfe wird vom depressiv leidenden Partner zwar gewünscht, zugleich aber abgelehnt und manchmal sogar geblockt. Das irritiert, und oft wissen sich die Angehörigen nicht anders zu helfen, als das Kontrollnetz immer enger zu knüpfen. Hält sie sich an meine Tipps? Nimmt er seine Medikamente? Und schon verstricken sie sich in der unübersichtlichen Dynamik der Depression mit ihren typischen Nähe-Distanz-Problemen.
Zwei Faktoren machen es so schwierig:
1. Angehörige möchten ihren Partnern, Freunden oder Kollegen gern helfen und gleichzeitig der depressiven Stimmung am liebsten entfliehen.
2. Depressiv leidende Menschen suchen und fordern die Unterstützung ihrer Mitmenschen, hauptsächlich die der direkten Partner; sie scheinen jedoch alle Vorschläge abzulehnen.
Auf dem Boden der Hilflosigkeit gedeihen die ersten Zweifel
Der Verlauf einer beginnenden Depression kann dazu führen, dass sich die helfenden Angehörigen zunehmend hilfloser fühlen. Der eigene Anspruch an ein allgegenwärtiges Verständnis kann immer weniger aufrechterhalten werden, und irgendwann flüstern die ersten Zweifel: Kann er nicht, oder will er nicht? Spielt sie mir was vor? Hat er sich im Nichtstun eingerichtet und fühlt sich damit im Grunde ganz wohl? Will sie nur mein Mitleid und genießt es, dass ich für sie springe?
Anfangs finden diese Fragen in einem inneren Monolog statt und diskreditieren schleichend die Glaubwürdigkeit des Partners. Dann ist es oft nur noch ein kleiner Schritt, bis konkrete Vorwürfe auf den Tisch kommen: Reiß dich endlich zusammen! Mach mir nichts vor, das ist doch alles Theater! Raff dich doch wenigstens dieses eine Mal auf! Du könntest, wenn du nur wolltest. Denk doch mal an die Kinder!
Vorwürfe dieser Art sind unfair und werden der Realität der Depression mit ihrer grundlegenden biologischen und psychischen Verankerung nicht gerecht. Aber fast jeder Angehörige wird bestätigen, dass Gedanken wie diese irgendwann gedacht oder ähnliche Vorwürfe geäußert wurden. Nicht aus Bosheit, sondern weil die Situation so unübersichtlich und anstrengend ist. Vorwürfe wie diese sind Zeichen der inneren Not.
Hier zum Verständnis einige weitere ungeschminkte Zitate von Angehörigen:
• Er ist mir so fremd geworden.
• Diese wortlosen Stimmungswechsel sind furchtbar.
• Manchmal fing die Klagerei schon frühmorgens an, und ich war den ganzen Tag auf Trab, um ihn zu umsorgen. Dann wieder der totale Rückzug. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.
• Ich muss alles dafür tun, dass es keinen Rückfall gibt. Noch eine Episode halte ich nicht aus.
• Es war so anstrengend, immer so zu tun, als hätte ich alles im Griff und wäre gut gelaunt. Das war ich aber nicht. Doch was sollte ich tun? Einer musste doch die Stimmung aufrecht halten.
• Ich habe Angst, dass er sich was antut.
• Und immer wieder musste ich Termine absagen, weil es ihr plötzlich nicht gutging. Irgendwann hatte ich gar keine Lust mehr, mich überhaupt noch zu verabreden.
• Ich weiß nicht, woher ich noch die Kraft für Verständnis nehmen soll.
• Mit der Zeit habe ich gelernt, dass seine Reaktionen und die ständige Ablehnung nichts mit mir zu tun haben, aber es ist so anstrengend, nichts auf sich zu beziehen. Und stimmt das überhaupt? Oder mache ich mir damit etwas vor?
• Und das Schlimmste ist: Alles, was ich mache, ist falsch.
Deutlich wird in diesen Aussagen die subjektiv erlebte Lebensrealität und wie vielschichtig die Themen, Gefühle und Gedanken sein können. Zusammenfassend kann man sagen, Angehörige haben in Zeiten der Depression viel zu tun, viel zu geben und viel auszuhalten:
• Viel zu tun: mehr Aufgaben im Haushalt und in der Familie, weil sich der Partner wegen seiner Schwächegefühle und seines Antriebsverlusts zunehmend zurückzieht. Hinzu kommen die Pflege der Außenkontakte, die Übernahme von Verantwortung für Familienangelegenheiten oder partnerschaftliche Belange sowie die Notwendigkeit, immer mehr Entscheidungen allein treffen zu müssen.
• Viel zu geben: zuversichtlich und verständnisvoll sein; motivieren und aufmuntern. Sich immer wieder der Unsicherheit stellen, ob man zu viel Unterstützung gibt oder zu wenig.
• Viel auszuhalten: die gedrückte Stimmung und die wortlosen Stimmungswechsel, überhaupt das wortlos-brütende Ausklinken des Partners aus dem gemeinsamen Leben; die Negativität und das Klagen; die Interesselosigkeit allgemein und auch an der Person des Angehörigen; die depressionstypische Ichbezogenheit; Suizid-Andeutungen oder gar ein konkret unternommener Suizid. Letztlich müssen Angehörige die Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten und Gefühle der Hilflosigkeit aushalten – und das auf Basis fast allgegenwärtiger Sorgen um den Partner, um die eigene Zukunft und die der Familie.
In der Summe kann dies zu Überforderung, Resignation und Erschöpfung führen – auch wenn natürlich nicht alle diese Aspekte gleichzeitig präsent sind und in jeder Beziehung gleich intensiv zum Tragen kommen. Und natürlich wurzeln Verhaltensweisen wie Gleichgültigkeit, Ichbezogenheit und Egozentrik nicht in der Person des Betroffenen selbst. Deshalb sind sie in diesem Zusammenhang keineswegs als Vorwurf zu verstehen. Es sind vielmehr Folgen eines Erlebenszustands, der immer mehr um sich selbst kreist und den Blick dabei zunehmend enger werden lässt. Depressiv erlebende Menschen sind nicht gleichgültig, ichbezogen und egozentrisch im Sinne einer Charaktereigenschaft, sie können sich infolge ihres depressiven Erlebens aber so verhalten. Dies gilt es unbedingt auseinanderzuhalten, um die Verbindung zueinander zu wahren.
Irritation auf allen Ebenen
In der Anfangsphase einer Depression sind Angehörige häufig unsicher. Alles, was dem depressiv leidenden Partner während dieser Phase hilft, kann für sie selbst zu einem Problem werden: da zu sein, obwohl wenig oder nichts darauf schließen lässt, dass die Anwesenheit und die Hilfe erwünscht ist; unterstützend zur Seite zu stehen, obwohl viele Vorschläge ablehnend bewertet werden oder überhaupt keine Reaktion kommt. Im Zusammenleben mit einem depressiv erlebenden Menschen gibt es leider niemanden, der einem sagt, was richtig und was falsch ist. Was an einem Tag gut klappt und verlockend glänzt wie der Stein der Weisen, kann am nächsten Tag schon wieder grundverkehrt sein. Versuch und Irrtum bestimmen die Tagesordnung.
Wobei die Irritationen und die Unsicherheit in der Anfangsphase der Depression nicht allein im Außen in der ungewohnten Hilfsbedürftigkeit des nahestehenden Menschen gründen. Die Diagnose Depression konfrontiert Angehörige mit unbequemen Wahrheiten im Innern: mit den eigenen Vorurteilen und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit psychischen Abweichungen. In diesem Buch ist zwar durchgehend von depressiv erlebenden Menschen statt von „den Depressiven“ die Rede, die emotional geprägten Gedanken klingen aber oft anders. Bewusst überspitzt formuliert: Plötzlich ist man ein Angehöriger eines Menschen, der nicht mehr wie gewohnt funktioniert und am Leben teilhaben kann. Angst vor Stigmatisierung kann hochkommen und sich mit eigenen Vorurteilen mischen. Gegenüber psychischen Abweichungen und Krankheiten generell, aber auch gegenüber einer therapeutischen Behandlung. Man hat zwar meist wenig Wissen darüber, was bei einem Psychologen oder Psychotherapeuten genau passiert, aber im Hinterkopf meldet sich das nebulöse Bild einer Wegsperr-Psychiatrie von vor fünfzig Jahren. Bloß nicht ins Krankenhaus, fordert die innere Stimme der Angst. Was werden bloß die die Nachbarn sagen oder die Familie?
Unbequeme innere Vorbehalte wie diese sind mit dafür verantwortlich, warum das Problem oft nicht nach außen getragen werden soll und schon die beginnende Depression beispielsweise zum Familiengeheimnis erklärt wird. Eine langwierige Rückengeschichte wirkt allemal weniger bedrohlich als die vermeintlich wissenden Blicke von Nachbarn und Kollegen. Dieses Verschleiern kostet viel Energie und macht einsam. Wer stets verheimlicht, hat für seine eigenen Sorgen selten ein natürliches Ventil. Dabei könnte das entlastende Gespräch unter vertrauten Freunden viel Positives bewirken.
Allerdings haben viele Menschen kaum Routine darin, über verändertes psychisches Erleben oder über psychische Krankheiten zu sprechen. Dabei zeigt die Erfahrung immer wieder: Wenn ich mich offenbare, offenbaren sich andere auch. Und da Depressionen – und auch Burnout – viel verbreiteter sind als angenommen, ist die Chance sehr groß, auf jemanden zu treffen, der damit bereits Kontakt hatte oder gerade hat. Der Mut, über die eigene Situation zu sprechen, kann das Stigma aufbrechen.
Leichter geschrieben als getan
Informationen über das Wesen der Depression können helfen, mit den ungewohnten Belastungen besser umgehen zu lernen. Doch gerade in der Anfangsphase der Depression stehen viele Angehörige vor einem alltagspraktischen Problem: Zeitnot erschwert es, dass sie sich mit den nötigen Informationen versorgen. Angesichts der vielen zusätzlichen Aufgaben bleibt kaum Luft für ein ausgiebiges Literaturstudium. Zudem wenden sich Informationen über Depressionen überwiegend an Betroffene. Literatur, die bewusst die Situation der Angehörigen beleuchtet, steht sehr viel seltener in den Regalen der Buchhandlungen. Und wer im Internet auf einer der zahllosen Seiten zum Thema „Depression“ recherchiert, stößt meist auf die identischen Tipps: Grenzen setzen, soziale Kontakte pflegen, den Kranken nicht überfordern, aber auch nicht unterfordern. Diese flüssig formulierten Aussagen treffen zwar durchaus den Kern der Situation, aber sie sind deutlich leichter geschrieben als getan. Denn wann setze ich als Angehöriger Grenzen? Und wann ist es angemessener, zugunsten des Partners zurückzustehen? Kann die Verabredung mit den Freunden eingehalten werden, obwohl es dem Partner plötzlich nicht so gut geht? Das Zusammenleben mit einem depressiv leidenden Menschen gleicht einer Gratwanderung, auf der es keinen zuverlässigen Wegweiser gibt.
Angehörige geraten aus dem Blick
Im dynamischen Prozess der Depression wird die Situation der Angehörigen noch immer vernachlässigt. Sie geraten mit ihren eigenen Nöten, Sorgen und Belastungen schnell aus dem Blickfeld von Ärzten und Therapeuten, aber auch von anderen Familienmitgliedern und Freunden. Die Ansprüche lauten: Funktioniere, sei da, unterstütze, übernimm Verantwortung. Besonders von den direkten Angehörigen wird verlangt, stark zu sein, immer zur Verfügung zu stehen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Warum auch nicht, möchte man meinen, denn die Angehörigen sind ja gesund, der Partner ist „der Kranke“. Was viele Angehörige in diesem Prozess jedoch konkret erschöpfen lässt, ist, dass sich plötzlich alles nur noch um die Depression und das Befinden des Partners dreht. Sie haben für den erkrankten Partner da zu sein – wie sie das im Alltag schaffen sollen, bleibt außen vor und ihnen überlassen.