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EINLEITUNG:

Im Schatten der Depression

Fast drei Jahre hielt ich durch. Doch dann erwischte es mich. In einer Situation, die ich mir so niemals gewünscht hätte und die mir noch heute, einige Jahre später, unangenehm ist. Es war ein Sonntag im Oktober. Ich war Teil einer ausgelassenen Runde auf einem Fest mit mehr als hundert Gästen. Die Musik schmetterte durch den Saal, es wurde getanzt und viel gelacht. Ich stand mittendrin in dieser fröhlichen Menge – und bekam einen Nervenzusammenbruch.

Wie aus dem Nichts flossen die Tränen. Nicht verstohlen mit feuchten Augen oder mit Tränen, die langsam die Wangen hinabrinnen, sondern mit einer Intensität, als sei eine Druckleitung geborsten. Die Tränen schossen nur so aus mir heraus, begleitet von tiefem Zittern und erfüllt von einem einzigen Gedanken in Endlosschleife: Ich kann nicht mehr.

Ich war hilflos in dieser Situation. Zum Glück erkannte ein guter Freund die Lage und schützte mich vor den neugierigen Blicken. Diese waren unweigerlich auf mich gerichtet: ein erwachsener Mann mit einem Heulkrampf, während drum herum die Feier des Jahres steigt.

Von diesem Tag an änderte sich viel. Ich konnte die Symptome der Erschöpfung, die mich schon seit einigen Monaten aufsuchten, nicht länger ignorieren. Nicht die beklemmenden Gefühle in der Straßenbahn, nicht die Schweißausbrüche in der Schlange an der Supermarktkasse, nicht das nervöse Zittern der Hände, wenn ich auf der Autobahn ansetzte, einen Lkw zu überholen, und auch nicht die zunehmenden Schlafstörungen – das Nicht-einschlafen-Können, weil die sorgenvollen Gedanken einfach keine Ruhe geben wollten. Ich war seit drei Jahren der nahe Angehörige eines Menschen mit depressiven Symptomen, Angst- und Panikattacken – und mit meinen Kräften am Ende. Ich war keine Hilfe mehr, ich brauchte selbst welche.

Um es ausdrücklich zu betonen: Mir ist bewusst, dass die an Depressionen leidenden Menschen in erster Linie betroffen sind. Doch Depression – und erst recht die möglicherweise begleitende Dynamik von Angst und Panik – wirkt sich auf alle Beteiligten aus. Und so kann sich im Schatten der Depression bei nahen Angehörigen ein Zustand entwickeln, der lange Zeit unbeachtet bleibt und der auf seine Art überfordern und krank machen kann.

So wie mir damals geht es vielen Menschen, deren Partner, Eltern, Kinder oder enge Freunde an Depressionen leiden. Heute weiß ich das, früher dachte ich, ich sei mit diesem Schicksal allein. Heute weiß ich auch, dass ich damals die klassischen Phasen durchlebt habe, die fast alle Angehörigen durchmachen. Vor der Diagnose prägen Irritation und Missverständnisse das Zusammenleben. Nach der Diagnose ist die Unsicherheit zwar weiterhin groß, doch meist überwiegt das Verständnis für den geliebten Menschen. Kreative Hilfsbereitschaft geht Hand in Hand mit Unwissenheit und Selbstüberschätzung. Das öffnet die Hinterpforte für den Raubbau an der eigenen Gesundheit. Obwohl man sich als nahestehende Bezugsperson so sehr bemüht und in dieser Rolle so großen Einfluss zu haben scheint, will die Situation einfach nicht besser werden. In seiner Hilflosigkeit reagiert man mit „immer mehr vom selben“: mehr Kampf, mehr Anstrengung, mehr Sorge, mehr Kontrolle, mehr Tun. Die Stimmung leidet zusehends. Gereiztheit und Ungeduld drängen nach vorn und kündigen die Erschöpfung an.

Rückblickend betrachtet, weiß ich um die Fehler, die ich in meinem Wunsch zu helfen begangen und die mich in kleinen Schritten aber dennoch wie auf Schienen in die Erschöpfung geführt haben. Dass ich diese sogenannten Fehler aus Unwissenheit gemacht habe und dass es sich bei ihnen meist um klassische Irrtümer handelte und weniger um ein persönliches Verschulden, versöhnt mich in der Rückschau mit mir selbst, macht das Erlebte aber nicht weniger schmerzhaft.

Fehlendes Wissen über das Wesen der Depression gaukelt Angehörigen vor, sie könnten die Situation kontrollieren. Ein lieber Mensch, dem man sich sehr verbunden fühlt, leidet. Das will man nicht und möchte es ändern. Das ist nachvollziehbar und zutiefst menschlich. Und gleichzeitig sehr kompliziert. Angehörige und Freunde können gewiss eine Zeitlang Stütze sein für einen anderen Menschen und in akuten Situationen Hindernisse aus dem Weg räumen, doch leider hat niemand die Macht, das Leiden eines anderen Menschen aufzulösen. Aus Unwissenheit können enge Bezugspersonen die Symptome der Depression sogar nähren, anstatt das Leid ihrer Lieben zu lindern. Einfach schon indem sie zu viel tun.

Auch ich war von dem innigen Wunsch getrieben, dass alles wieder gut sein soll. So wie früher. Und dass ich es „in Ordnung bringen“ kann. Ich müsse mich nur genügend anstrengen, lautete die Überzeugung, die mein Tun und meine Lösungswege steuerte. Dass es nicht an mir liegt, irgendetwas bei einem anderen Menschen wieder in Ordnung zu bringen oder zu reparieren, lernte ich erst mit der Zeit. Ebenso, wie heilsam und stärkend das Zusammenspiel von Mitgefühl und Selbstfürsorge wirken kann und dass Akzeptanz keineswegs mit Gleichgültigkeit und Egoismus zu verwechseln ist.

Die Ausführungen in diesem Buch basieren im Kern auf eigenen Erfahrungen. Und doch ist es weit mehr als eine persönliche Lebensgeschichte. Entstanden ist es nach Gesprächen mit depressiv erlebenden Menschen und ihren Angehörigen, ergänzt um Gedanken und Impulse zu verschiedenen Aspekten der Gesundheits- und Krankheitslehre, der Seelenkunde und der Lebensführung. Tragende Säulen sind die Anregungen einer auf Achtsamkeit, Mitgefühl und Selbstfürsorge basierenden Haltung dem Leben gegenüber. Entsprechend sind die hier aufgeführten Beispiele keine persönlichen Erlebnisse, die ich exakt so gemacht habe, sondern beschreiben generelle und oft geschilderte Erfahrungen, die sich wie diverse rote Fäden durch die Erlebnisberichte von Angehörigen ziehen – und die auch ich meist sehr gut kenne.

Mein besonderer Wunsch ist es, mit diesem Buch die zwischenmenschlichen Ebenen des Miteinanders zu beleuchten und den Blick dabei bewusst auf die Rolle der Angehörigen zu lenken. Dies wird meiner Meinung nach bislang immer noch unzureichend getan. Wie erlebt ein Mensch die anspruchsvolle Lebensphase einer Depression aus seiner individuellen Sicht tatsächlich? Als naher Angehöriger, als Partnerin, als Freund? Wie wirkt sich das depressive Erleben im Kontakt miteinander aus? Wie verändert es den Alltag? Wie prägt es den Umgang zwischen Lebenspartnern und in der Familie? Warum ziehen sich Freunde nach einer ersten Welle der Hilfsbereitschaft häufig erschreckt und ratlos zurück? Und warum sind Tipps von der Stange, wie man als Angehöriger zu sein hat und wie nicht, zwar gut gemeint, aber oft wenig hilfreich und manchmal sogar zusätzlich belastend?

Um Antworten auf Fragen wie diese zu erhalten, schildere ich in den Kapiteln von Teil 1, wie sich der Alltag in Zeiten der Depression gestaltet, verändert und was daran konkret so schwierig sein kann. Also eine Art ungeschminkter Blick auf die subjektive Lebensrealität von Angehörigen, um auf dieser Basis tragfähige Möglichkeiten zu beschreiben, die helfen können, mit der schwierigen Situation zurechtzukommen.

Gedanken zu grundlegenden inneren Einstellungen gegenüber Krankheit und Leid prägen Teil 2. Ich verstehe diese Ausführungen als Einladung für einen offenen und mutigen Blick auf das, was wir „Depression“ nennen. Dabei geht es auch um die Praxis der Achtsamkeit und darum, was sie bewirken kann. Ein vergleichsweise kurzes Kapitel trägt den Titel „Ein bedeutsamer Unterschied: Warum Mitgefühl heilsam wirkt – und Mitleid nicht“. Es ist vielleicht das wichtigste.

In der Praxis erprobte Gedanken münden in Teil 3 im Kapitel „Vom Tun-Können und Besser-bleiben-Lassen: Ideen für den Alltag“. Vielleicht nehmen Sie beim Lesen dieser Anregungen das ein oder andere Augenzwinkern wahr. Das ist gewollt.

Ist dieses Buch damit ein Ratgeber? Vielleicht auch. Vorrangig aber geht es um die Idee, dass Angehörige ihrem Selbstverständnis mehr Aufmerksamkeit schenken, wie sie mit der Not des „anderen“ und mit ihrer eigenen Not umgehen wollen. Und Depression auf dieser Grundlage als eine Erkrankung verstehen, die behandelt werden kann und unbedingt behandelt werden sollte, aber diese nicht allein als einen medizinischen Defekt betrachten, für den es eine sofortige Reparaturlösung gibt. Depression beschreibt in der Summe aller Symptome ein vielschichtiges und sich ständig veränderndes menschliches Erleben, das für seine Heilung Verständnis und Zeit benötigt und vielleicht sogar eine gesunde Funktion sowie einen Sinn haben könnte. Oder hatte – bevor es erstarrte.

Damit können die hier geschilderten Gedanken auch als eine Einladung verstanden werden, das depressive Erleben des Partners nicht ausschließlich als ein externes Problem eines anderen Menschen zu sehen. Depression ist ausgesprochen komplex, es ist auf Ursachenebene individuell und in den Auswirkungen stets auch ein soziales Phänomen. Es ist eine Dynamik, die wenig lässt, wie es ist, die den Wandel und die Aufforderung zum persönlichen Wachstum in sich trägt. Depression berührt die Persönlichkeit aller Beteiligten. Bewusst oder unbewusst. Ob man sich dafür öffnen mag oder nicht.

Im Schatten der Depression

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