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Depression geht alle an
Sie lesen die ersten Zeilen eines Buches, das sich mit dem Thema „Depression“ beschäftigt. Praktisches Interesse mag Sie dazu bewogen haben. Vielleicht, weil Sie ratlos sind und nicht mehr wissen, wie das alles weitergehen soll. „Das“ mit der Depression, mit den Ängsten und der Panik. Vielleicht sind Sie der nahe Angehörige eines Menschen, der an Depressionen oder Burnout leidet, ein Ehe- oder Lebenspartner, ein erwachsenes Kind oder ein Elternteil. Oder ein enger Freund, eine Freundin, eine Arbeitskollegin. Vielleicht beschäftigen Sie sich beruflich mit dem Thema als Berater, Ärztin oder Therapeutin und wollen sich der Situation von Angehörigen depressiv erlebender Menschen noch weiter öffnen. Warum auch immer Sie beschlossen haben, dieses Buch aufzuschlagen und die ersten Zeilen zu lesen: Sie sollten wissen, was Sie hier erwartet.
Allen voran eine Praxisnähe, die mutig genug ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und die auch die unangenehmen Begleiterscheinungen einer Depression beim Namen nennt. Mir ist daran gelegen, dass Sie beim Lesen immer wieder den Eindruck haben: Ja, so ist das bei mir auch. Oder: Ja, das habe ich auch schon beobachtet. Im Umkehrschluss bedeutet das: keine Tipps, die gegen die gefühlte Wucht der Depression keine Chance haben. Keine rosa Decke, die die wichtigen Themen aus Verlegenheit außen vor lässt. Und keine voreiligen Lösungen, die der komplexen Situation nicht gerecht werden können. Angehörige von depressiv leidenden Menschen haben in erster Linie eins: ganz wenig Zeit. Deshalb ist dieses Buch so umfangreich wie nötig und so kompakt wie möglich. Es sollen Gedanken zur Sprache kommen, die wirklich tragen.
Depression kann irritieren, anstrengen und frustrieren. Das gilt für alle, die an diesem Prozess beteiligt sind. Auch Angehörige von depressiv erlebenden Menschen leiden oft unter der Situation, weil sich ihr Leben meist grundlegend wandelt und verkompliziert, wenn der Partner oder ein enger Familienangehöriger in das schwarze Loch der Depression fällt. Die Sorgen um den geliebten Menschen sind rund um die Uhr spürbar und beanspruchen fast die gesamte Energie. Dabei wäre diese so nötig für die Bewältigung des Alltags; gibt es doch plötzlich so viel mehr zu tun, so viel mehr Verantwortung zu tragen und so viel mehr auszuhalten.
Angehörige fühlen sich davon oft überstrapaziert und beginnen zu leiden – nur anders als die primär von der Depression Betroffenen. Bei dieser Aussage geht es ausdrücklich nicht darum, Leid bilanzieren und gegeneinander aufrechnen zu wollen nach der Devise: Wer leidet mehr? Wer leidet warum? Oder gar: Wer ist verantwortlich für wessen Leid? Es geht nicht um Schuld oder persönliches Versagen. Und es geht schon gar nicht um den Versuch, einander gegenüberstehende Lager zu bilden und primär Betroffene und Angehörige voneinander zu trennen. Alle blicken auf dasselbe Thema – wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese gilt es zu erspüren und zu verstehen.
Das Zusammenleben mit einem depressiv erlebenden Partner kann aus vielerlei Gründen belasten. Dies mag dazu führen, dass sich Angehörige mit der Zeit als Opfer der Gegebenheiten fühlen. Das erscheint nachvollziehbar, gründen die eigenen Schwierigkeiten doch ursächlich in den Problemen eines anderen Menschen. Doch gerade dieses „Opfer“-Empfinden lässt viele Angehörige an der Situation verzweifeln – und sie viel länger und intensiver leiden als nötig. Das Gefühl, vom Leben ungerecht behandelt zu werden, kann es erschweren, der Depression und ihren Auswirkungen mit Akzeptanz und Offenheit zu begegnen. Das führt auf Dauer fast zwangsläufig zu Groll – und der wendet sich mit seiner destruktiven Energie irgendwann gegen den Angehörigen selbst und begleitet ihn meist weit über die aktuelle depressive Phase des Partners hinaus.
Bleiben wir also schon aus Eigeninteresse bei dieser Ausgangsthese: Angehörige sind keine Opfer. Aber sie sind Teil einer Dynamik, die keine Rücksicht auf persönliche Grenzen nimmt und die mit ihrer durchdringenden Negativität und Schwere den Alltag von Familien, Partnerschaften und Freundschaften zu durchdringen und auf die Probe zu stellen weiß. Depression hat das Potenzial, Beziehungen und Partnerschaften massiv zu belasten und manchmal sogar zu sprengen. Je unbewusster und unwissender die Beteiligten dieser Dynamik und dem Wesen der Depression begegnen, desto anstrengender und schmerzhafter gestaltet sich das alltägliche Zusammenleben – und damit das Leben der Angehörigen an sich.
Und doch besteht Anlass zu Hoffnung und Zuversicht. Denn Angehörige müssen trotz all der Schwierigkeiten, die ihr Leben nun für sie bereithält, nicht über Gebühr leiden. Allerdings sollten sie dafür die Bereitschaft entwickeln, den Blick immer wieder auf sich selbst zu lenken, auf die eigenen Überzeugungen, Denkgewohnheiten und automatischen Verhaltensweisen und nicht allein auf die Situation des hilfsbedürftigen Gegenübers. Wenn Angehörige den Kontakt zu sich selbst wahren, zu ihren Bedürfnissen, Empfindungen und Kraftquellen, spüren sie wahrscheinlich den feinen Grat, der Mitgefühl von Mitleid unterscheidet. Und auch die Grenzen ihrer Verantwortung. Daran können sie sich orientieren und ihr Handeln ausrichten: im Tun, Nichttun und Akzeptieren.
Warum helfe ich? Wie helfe ich? Was bewirkt meine Hilfe? Und vor allem: Wie geht es mir dabei? Das bewusste Wahrnehmen und Hineinspüren in eine Situation, ohne vorschnell zu urteilen und zu verurteilen, kann erfolgversprechend sein in Zeiten der Depression. Wenn Angehörige diese Umgangsweise für sich zulassen, sie kultivieren und sich dabei mit Geduld und Nachsicht begegnen, erkennen sie vielleicht, dass niemand vor seinem Schicksal bewahrt werden kann. Denn jeder meistert sein Leben auf seine eigene Weise, mit seinen eigenen Lösungen und in seinem eigenen Tempo. Was wiederum ausdrücklich für alle gilt, auch für die Angehörigen.
Auf Basis dieser inneren Haltung bestehen reelle Chancen, dass Angehörige depressiv erlebender Menschen das sein können, was sie so sehr sein wollen: eine Stütze für einen geliebten Menschen, der in Not geraten ist.
Dirk Biermann, im Herbst 2018
PS: Als ich mich den menschlichen und den zwischenmenschlichen Dimensionen der Depression zuwandte, führte mich das recht schnell zur Frage der exakten Formulierung. Wie benennt man eigentlich einen Menschen, der an einer Depression leidet? Der Kranke? Die Depressive? Der Gestörte? So als hätten die Symptome der Depression Besitz vom Wesen des Menschen ergriffen?
Die Depression ist eine behandlungsbedürftige Erkrankung – und doch unterscheidet sie sich erheblich von einer Lungenentzündung, einer Bronchitis oder einem Rückenleiden. Sie ist in ihrem gesamten Wesen verwirrend vielfältig und damit schlecht greifbar. Depression äußert sich körperlich und ist dennoch weit mehr als ein organischer Defekt. Sie äußert sich auf der seelischen Ebene und ist dennoch weit mehr als eine psychische Störung. Eine einheitlich für alle geltende Behandlung sucht man vergeblich. Eine vorschnelle und unreflektierte Einordnung der Menschen, die unter Symptomen einer Depression leiden, kann in meinen Augen deshalb drei unheilvolle Auswirkungen haben:
1. Sie steckt den Menschen in die Schublade mit der Aufschrift „psychisch krank“. Eine konkrete Beschreibung von Krankheitsbildern ist hilfreich, denn das schafft Klarheit und ermöglicht eine zielgerichtete Behandlung. Die Bezeichnung „psychisch krank“ halte ich im Zusammenhang mit Depression jedoch für viel zu ungenau. Sie reduziert ein komplexes und in den Anfängen sogar natürliches Zusammenspiel innerer und äußerer Vorgänge auf zwei Wörter, denen in unserer Gesellschaft nach wie vor ein Makel anhaftet. Mit erheblichen sozialen Folgen: Viele Menschen haben ein Leben lang mit der Zuschreibung, „psychisch krank“ zu sein, zu kämpfen und leiden teils erheblich darunter. Sie strengen sich an und kommen doch nicht wieder heraus aus dieser ihnen einmal zugewiesenen Schublade.
2. Es trennt die Menschen voneinander und festigt Rollenerwartungen. Hier „die Gesunden“, dort „die Kranken“, hier „die Helfer“ dort „die Hilfsbedürftigen“. Der Einfluss des alltäglichen Miteinanders bei der Aufrechterhaltung und Verschärfung depressiver Symptome wird mit diesen Formulierungen schlicht ignoriert. Ebenso, dass eine Depression immer auch soziale Aspekte hat und dass diese in vielen Fällen sogar Auslöser für eine Depression sein können. Zum Beispiel bei lang anhaltendem Beziehungsstress oder Mobbing. Die systemische Sicht auf die Dynamik der Depression lehrt uns, den Blick weiter werden zu lassen – und so den „Erkrankten“ als Symptomträger eines ins Ungleichgewicht geratenen Systems zu verstehen, zum Beispiel der Partnerschaft, der Familie oder auch des Unternehmens. Dies gilt für die Auslöser, aber besonders für die Aufrechterhaltung und Chronifizierung depressiver Symptome. Unreflektierte Zuschreibungen verlagern das Problem aller radikal auf den Einzelnen. Zudem versorgen nicht hinterfragte Rollenzuschreibungen die Depression mit immer neuer Nahrung – sogar lange Zeit nach Abklingen der akuten Symptome.
3. Es begünstigt den psychologischen Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung und kann dauerhaft das Selbstbild eines scheinbar unvollkommenen, nicht genügenden und problembehafteten Menschen prägen. Es ist eine grundlegende menschliche Eigenart, die Wahrnehmung der Realität auf Grundlage der persönlichen Überzeugungen und Selbstbewertungen zu filtern und im weiteren Verarbeitungsprozess entsprechend zu denken und zu fühlen. Je unbewusster dies stattfindet, desto unheilvoller können die Auswirkungen sein. In Zeiten der Depression erhält diese Dynamik eine durchgehend destruktive Färbung. So liegt es auf der Hand, inwiefern Zuschreibungen wie „die Depressiven“, „die Kranken“ oder „die Gestörten“ das Selbstbild beeinflussen und den Heilungsprozess behindern oder sogar lahmlegen können.
Depression ist ein Zustand von unbestimmter Dauer und wechselnder Intensität, der sich auf verschiedene Aspekte des menschlichen Erlebens und Empfindens auswirkt sowie auf viele Körperfunktionen. Das Denken ist zäher, die Konzentration eingeschränkter und der Antrieb reduzierter. Schwere und Verlangsamung prägen die körperlichen Vorgänge und die Gefühlswelt. Viele dieser Aspekte beschreiben ein verändertes Erleben der äußeren und inneren Wahrnehmung. Wir Menschen neigen zu einem solchen Erleben, wenn wir mit gewissen Situationen konfrontiert sind. Manchmal initiiert es unser Organismus auch ganz von allein und vollzieht damit eine beeindruckende Anpassungsleistung, um das Gleichgewicht eines aus dem Takt geratenen Systems wiederherzustellen. Anfängliche depressive Symptome sind in ihrem Ursprung und von ihrer grundsätzlichen Bedeutung keine Krankheit, sondern eine Antwort auf ein organisches Ungleichgewicht oder die Reaktion auf eine akute psychische Ursache. Deshalb sollten wir dringend unterscheiden lernen: erstens zwischen einer depressiven Stimmung, die von allein entsteht als Ergebnis dieser natürlichen Anpassung an eine schwierige psychische oder körperliche Situation. Und zweitens den tief ins menschliche System hineinreichenden komplexen und behandlungsbedürftigen Vorgängen einer mittelschweren oder gar schweren Depression mit ihren chronisch gewordenen Symptomen.
Verallgemeinernd können diese Vorgänge selbstverständlich in ihrer Gesamtheit als krankhaft bezeichnet werden, und es würde die Lesbarkeit eines Textes wohl erleichtern, doch die geschilderten Tendenzen zur Stigmatisierung wiegen zu schwer. Zudem zementiert es einen Zustand, der von seinem Wesen und in seiner Intensität unstet ist. Deshalb vermeide ich vereinfachende Zuschreibungen wie der „Depressive“ und nutze durchgehend die Umschreibung „Menschen mit einem depressiven Erleben“.
Angst und Panik können nahe Verwandte des depressiven Erlebens sein. Sie entwickeln sich manchmal in der Folge einer Depression oder sind deren Ursache und stehen im Grunde im Mittelpunkt des Erlebens. Um die Lesbarkeit des Textes auch in dieser Hinsicht zu wahren, belasse ich es bewusst beim allgemeinen Begriff „Depression“. Wohl wissend, dass Angst- und Panikstörungen ihre ganz eigenen Herausforderungen mit sich bringen.
Der Begriff „Angehörige“ bezieht sich je nach geschilderter Situation auf Ehe- oder Lebenspartner, Eltern, Kinder, Großeltern, Freundinnen oder Arbeitskollegen. Jeder sollte sich so angesprochen fühlen, wie es inhaltlich passt. Wenn an einer Stelle des Buches zum Beispiel vom Partner die Rede ist, kann damit der direkte Lebenspartner gemeint sein, aber auch die Freundin oder ein Elternteil. Stets alle erdenklichen Rollen aufzuzählen brächte zu viel Durcheinander in den Text.