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1. Hintergründe und Problematik der Vorschriften
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Zumindest an zwei Stellen der StPO sind konsensuale Verfahrenserledigungen schon lange vorgesehen oder wenigstens vorausgesetzt. Die Rede ist zum einen von dem schon bei Einführung der StPO existierenden Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff.), das auf das preußische Strafprozessrecht zurückgeht,[1] zum anderen von den Möglichkeiten, Strafverfahren in Anwendung des Opportunitätsgrundsatzes einzustellen (§§ 153 ff.)[2]. Als Ausgangspunkt kann hier der bereits 1924 eingeführte § 153 angesehen werden. In beiden Regelungskomplexen ist jeweils bestimmt, dass unter bestimmten Voraussetzungen, zu denen die Zustimmung der Staatsanwaltschaft sowie – bei den §§ 153a, 407 ff. – auch die ausdrücklich oder zumindest konkludent erklärte Einwilligung des Beschuldigten gehören, das Verfahren ohne vollständige Ermittlung der Verdachtstat beendet werden kann. Im Strafbefehlsverfahren führt das im Ergebnis sogar dazu, dass Strafe verhängt werden kann, ohne dass in einer formalen Beweisaufnahme vor einem Strafgericht der Nachweis der Tat erbracht wurde.
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Innerhalb der Anwendungsbereiche der genannten Vorschriften kann also nach dem Gesetz unter der Bedingung des Vorliegens eines übereinstimmenden und in irgendeiner Form auch zum Ausdruck gebrachten Willens von Verfahrensbeteiligten auf die Durchführung des sonst von der StPO vorgesehenen Strafverfahrens verzichtet werden. Damit verfügen nicht nur Strafgerichte, sondern auch Staatsanwaltschaften, Verteidiger und Beschuldigte seit jeher über Möglichkeiten, die öffentliche Hauptverhandlung, in der im Strengbeweisverfahren Wahrheits- und Rechtsfindung mit dem Ergebnis eines vom zuständigen Gericht alleine auf der Basis seiner „aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ (§ 261) zu fällenden, zu begründenden und zu verantwortenden Urteils betrieben wird, dadurch zu vermeiden, dass man sich auf eine vereinfachte und beschleunigte Verfahrenserledigung einigt oder diese zumindest stillschweigend mit (oder er-)trägt.[3]
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Das zentrale Motiv des Gesetzgebers dafür, neben der Pflicht zu Verfolgung, Aufklärung und Ausurteilung unter der (verschieden ausgestalteten) Voraussetzung der Zustimmung der Verfahrensbeteiligten auch schnellere und einfachere Wege zur Erledigung von Strafverfahren vorzusehen, war dabei stets das gleiche. Seit jeher ging es um die Schonung der Ressourcen der Justiz respektive ein (vermeintlich) angemessenes Verhältnis zwischen ihrer Beanspruchung auf der einen und der Bedeutung der im konkreten Fall verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe auf der anderen Seite.[4] Das hat sich bis heute nicht geändert. Eher lässt sich sagen, dass der schon früher bedeutsame und wirkungsmächtige Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie in jüngerer Zeit rechtspolitisch noch an Bedeutung gewonnen hat. Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahrzehnten mehrfach die in der StPO geregelten Möglichkeiten konsensualer Verfahrensbeendigungen in ihren Anwendungsbereichen erweitert sowie neue Varianten geschaffen.[5]
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Dabei ist ganz offensichtlich, dass die genannten Wege einvernehmlicher Verfahrensbeendigung zumindest in einem Spannungsverhältnis zu wesentlichen, teils Verfassungsrang genießenden Prinzipien des deutschen Strafprozessrechts, wie etwa Unschuldsvermutung, Ermittlungsgrundsatz[6] oder Legalitätsgrundsatz stehen. Die §§ 153 ff. beispielsweise setzen bekanntlich dem Legalitätsprinzip das Opportunitätsprinzip entgegen und schaffen im Ergebnis damit die Möglichkeit, von vollständiger Sachaufklärung abzusehen und trotz weiter bestehenden Tatverdachts das Strafverfahren abzuschließen. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass der Verfolgungszwang hier nicht eingeschränkt, sondern durchbrochen wird. Ein Prinzip, das in allen Fällen ein bestimmtes Vorgehen, nämlich vollständige Sachaufklärung, fordert, wird durch ein Gegenprinzip, das just dieses Vorgehen unter bestimmten Voraussetzungen für überflüssig erklärt, im konkreten Anwendungsfall außer Kraft gesetzt.[7]
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Die soeben angedeuteten Spannungen und Brüche haben wesentlich dazu beigetragen, dass die gesamte Konzeption der § 153 ff. von Anfang an umstritten war; schon die Einführung des § 153 stieß durchaus auf Widerstand.[8] Diese Kritik ist nie wirklich verstummt, und man mag sie als berechtigt ansehen: Das „Mitverfügungsrecht“ Verfahrensbeteiligter[9] über den Verfahrensgegenstand, das die §§ 153 ff. notwendig voraussetzen, ist der StPO ihrer Grundanlage auch nach Einführung des § 257c fremd und dementsprechend problematisch.
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In jeder Hinsicht als besonders brisant kann dabei die Vorschrift des § 153a gelten. Dieser Norm, die aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stammt,[10] eignet gegenüber dem bis dahin geltenden Rechtszustand insofern eine neue Qualität, als die Anwendung des Opportunitätsprinzips hier von einer Gegenleistung des Beschuldigten abhängig gemacht wird. Das Gesetz fordert also von den Strafverfolgungsbehörden, dass sie die Einstellung des Verfahrens im Rahmen eines Austauschgeschäfts vornehmen. Es ist leicht zu sehen, dass diese gesetzgeberische Entscheidung einen besonders schweren Eingriff in das Gefüge des deutschen Strafprozessrechts darstellte.[11] Sie hatte unter anderem die notwendige Folge, dass in als geeignet angesehenen Fällen gar keine Alternative dazu bestand, zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung außerhalb einer mündlichen, öffentlichen Verhandlung und in diesem Sinne informell Gespräche zu führen, die nicht etwa bloß einzelne Verfahrenshandlungen, sondern die Frage zum Gegenstand haben, ob der Beschuldigte bereit ist, eine bestimmte Leistung zu erbringen, wenn im Gegenzug auf Verfolgung der (Verdachts-) Tat verzichtet wird.[12]
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Der Beschuldigte wird zudem durch diese Möglichkeit der Verfahrensbeendigung häufig in eine Situation gebracht, in der er darüber entscheiden muss, ob ihm der sprichwörtliche Spatz in der Hand lieber ist als die Taube auf dem Dach: Ob er also an der bis zur rechtskräftigen Verurteilung geltenden Vermutung seiner Unschuld und seinem Anspruch auf Freisprechung festhalten oder lieber mit dem Makel der unaufgeklärten Straftat und der schon mit der Führung der Ermittlungen verbundenen, durch das Ausbleiben eines Freispruchs zementierten, wenn auch begrenzten Stigmatisierung dauerhaft leben möchte. Prägnant formuliert: § 153a setzt (häufig tatsächlich, jedenfalls aber kraft Unschuldsvermutung normativ) Unschuldige unter (Entscheidungs-) Druck. Es macht die Sache dabei keineswegs besser, dass die Entscheidung für die Verfahrenseinstellung nach § 153a und damit die Erbringung der Gegenleistung vielfach verfahrensintern und -extern als ganzes oder teilweises Schuldeingeständnis gewertet wird, obwohl für die Betroffenen ebenso oft die Schonung ihrer Nerven, ihrer Geldbeutel[13] und nicht zuletzt auch ihres persönlichen Umfeldes den Ausschlag gibt.
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Diese knappen Bemerkungen mögen genügen, um verständlich zu machen, dass gerade § 153a insbesondere in der Variante der Einstellung gegen Geldauflage vielfach Zielscheibe von Kritik nicht nur aus der Rechtswissenschaft,[14] sondern auch und immer wieder von Seiten der Presse und der Öffentlichkeit geworden ist. Vieles, was heute als „Deal“ bezeichnet, als Reichenrecht oder Klassenjustiz gegeißelt und mit dem Etikett der Mauschelei versehen wird, stellt in Wahrheit eine dem Gesetz und auch dem erklärten Willen des Gesetzgebers entsprechende Anwendung dieser Vorschrift dar.[15]
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Angesichts der verbreiteten Kritik an den §§ 153 ff. und vor allem § 153a verwundert es etwas, dass das Strafbefehlsverfahren gemeinhin auf vergleichsweise hohe Akzeptanz stößt. Immerhin sind die Folgen für den Betroffenen wie auch die Durchbrechung der Grundsätze des Strafprozesses in mehrfacher Hinsicht mindestens ebenso schwerwiegend wie bei den §§ 153 ff. Schließlich wird hier auf bloßen Antrag der Staatsanwaltschaft und schlicht nach Aktenlage unter Verzicht auf vollständige und vor allem unmittelbare Sachaufklärung durch das Gericht die Unschuldsvermutung erledigt, indem Schuld und Strafausspruch in einem schriftlichen Bescheid erfolgen, der außerordentlich knapp gehalten sein kann und dies in der Praxis häufig auch ist, und dessen Beantragung von Seiten der Staatsanwaltschaft nicht einmal die Überzeugung vom Vorliegen der Schuld des Betroffenen, sondern lediglich die Bejahung hinreichenden Tatverdachts, also die Annahme, eine etwaige Beweisaufnahme würde wahrscheinlich mit einer Verurteilung enden, voraussetzt. Nach verbreiteter Auffassung kann sich auch das Gericht bei Erlass des Strafbefehls mit diesem Verdachtsgrad begnügen.[16]
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Die normative Legitimation der Spannungen und Brüche mit zentralen Verfahrensprinzipien, die mit der Existenz der genannten Verfahrensweisen verbunden sind, sollte und soll bis heute – von Sonderfällen wie etwa § 153d abgesehen – nicht nur aus der Forderung nach Verfahrensökonomie, sondern aus zwei weiteren Überlegungen abgeleitet werden. Zum einen soll, so jedenfalls die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers, dem Opportunitätsprinzip Vorrang vor dem Legalitätsprinzip nur in Fällen von Bagatellstraftaten zukommen, wo der Verzicht auf Klärung der Taten wohl eher erträglich erscheinen soll.[17] Dies kommt heute zumindest im Ansatz noch durch die Bezugnahme auf das als „gering“ einzuschätzende oder zumindest nicht wegen seiner Schwere entgegenstehende Maß der Schuld und das Fehlen eines öffentlichen Interesses in den §§ 153 ff. zum Ausdruck. Ganz Ähnliches gilt für das Strafbefehlsverfahren, das (eigentlich) nur relativ einfach gelagerte Sachverhalte mit geringem Unrechtsgehalt zum Gegenstand haben und entsprechend geringe Strafen ermöglichen sollte.[18] Zum anderen soll durch die teilweise voneinander abweichend gestalteten Zustimmungserfordernisse – gegen den Willen der Staatsanwaltschaft kann die Einstellung nie erfolgen, die Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten ist für die gewichtigeren Entscheidungen ebenfalls erforderlich – sichergestellt werden, dass in anderen als ganz geringfügigen Fällen nicht einseitig über den „staatlichen Strafanspruch“ disponiert werden kann. Bei der wichtigsten und heikelsten Vorschrift dieses Regelungskomplexes, nämlich § 153a[19], indes wird die Zustimmung des Beschuldigten auch und vor allem wegen der damit für ihn verbundenen Belastungen, also der verhängten Auflage und auch deswegen benötigt, weil mit der Sachaufklärung sein Anspruch auf Rehabilitierung durch einen Freispruch oder (wenigstens) die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 verloren geht. Auch das Strafbefehlsverfahren beruht nicht zuletzt auf dem Gedanken, die Zustimmung des Betroffenen[20] könne die Bestrafung unter Verzicht auf richterliche Sachaufklärung in einer Hauptverhandlung, also auf regelmäßig schwächerer Tatsachengrundlage, rechtfertigen.[21]
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Ganz gleich, ob diese und andere Begründungsansätze überzeugen oder nicht, ist heute zu konstatieren, dass der Gesetzgeber ungeachtet der insbesondere gegen § 153a vielfach von Seiten der Strafprozesswissenschaft vorgebrachten Einwände auch in den letzten Jahrzehnten sehenden Auges durch weitere Reformen den §§ 153 ff., aber auch dem Strafbefehlsverfahren ständig steigende praktische Bedeutung verliehen hat.[22] Die tatbestandlichen Voraussetzungen etwa der §§ 153 ff. sind vielfach gelockert worden. Die entsprechenden Einstellungsmöglichkeiten reichen heute bis weit in den Bereich der mittleren Kriminalität hinein.[23] Dies geschah regelmäßig sogar mit dem erklärten Ziel, die praktische Bedeutung dieser Arten der Verfahrenserledigung weiter zu erhöhen und die Praxis zu ihrer Durchführung zu animieren.[24]
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In gewisser Weise ist und war dabei auch in der Vergangenheit ein durchaus ambivalenter Umgang der Politik mit dem Strafrecht und dem Strafprozessrecht zu beobachten. Zum einen besteht seit langem eine Tendenz zur ständigen Erweiterung des materiellen Strafrechts durch Ausweitung bestehender oder Schaffung neuer Strafnormen, zum anderen hält der Gesetzgeber die personelle und materielle Ausstattung der Strafjustiz notorisch für nicht hinreichend, um auch eine gleichmäßige und effektive Ahndung der sich schon aufgrund dieser gesetzgeberischen Aktivitäten ständig vermehrenden Straftaten zu gewährleisten[25]. Es zeigt sich seit langem eine erstaunliche Kontinuität in der Gesetzgebung darin, ständig bis dahin zwar (vielleicht) rechtswidrige, aber nicht strafbare Verhaltensweisen zu kriminalisieren, gleichzeitig den Staatsanwaltschaften und Gerichten aber umfassende Möglichkeiten an die Hand zu geben, von der Verfolgung dieser Taten abzusehen.[26]