Читать книгу Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3 - Dirk van den Boom, Emmanuel Henné - Страница 12

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Sie verließen den Serail, die Gruppe der Kernsysteme und damit auch die Verzweiflung eines Sonnensystems, das durch die Kalten eingefroren wurde und dabei Milliarden das Leben kostete. Ihr Abflug wurde bemerkt, zumindest insofern, als eine Kontaktaufnahme versucht wurde, doch Aume hatte beschlossen, alle zu ignorieren – und die Natur dieser Anfragen ihrer Besatzung gar nicht erst mitzuteilen. Das war egoistisch, auf so vielen unterschiedlichen Ebenen: Auf der einen Seite wollte sie nicht mit Vorschlägen und Ideen konfrontiert werden, die den mühsam erarbeiteten Konsens über ihr weiteres Vorgehen infrage stellten; auf der anderen wollte sie vermeiden, dass ihre Besatzung ganz oder in Teilen beschloss, sie zu verlassen. Aume musste es sich eingestehen, aber ohne eine Crew, ob sie dieser nun bedurfte oder nicht, fühlte sie sich verlassen, möglicherweise auch etwas nutzlos. Damals, in der Zukunft, als sie noch für andere Zivilisationen geflogen war, ehe Dendh sie erbte und zu missbrauchen begann, hatte sie sich darüber selten Gedanken gemacht. Die Idee, dass sie noch existieren würde, wenn längst alle anderen Intelligenzen der universalen Entropie zum Opfer gefallen waren, beschlich sie das erste Mal, als ihre letzten Besitzer kollektiven Selbstmord begangen hatten. Würde. Dendh hatte sich ihrer angenommen und sie war ihm nicht zuletzt deswegen so lange gefolgt, weil er ihr eine Orientierung gegeben hatte. In gewisser Weise war sie für den Verrat, den er an ihr begangen hatte, dankbar: Er hatte ihr geholfen, sich zu emanzipieren. Früher war sie als Schiffsintelligenz – und das war auch konstruktionsmäßig so angelegt – darauf aus gewesen, ihrer Crew in allem dienlich zu sein, und eigene Wünsche, soweit sie zur Formulierung solcher imstande war, hintanzustellen. Doch Aume lebte nun schon sehr lange und hatte vieles gesehen und gehört. Ihr Bedürfnis, sich jemandem zu unterwerfen, war auf ein kaum messbares Maß geschrumpft. Sie hatte eigene Ideen und Überzeugungen entwickelt und deren Ausbruch war durch Dendhs Verrat ihrer Beziehung endgültig getriggert worden. Sie konnte ihm dafür danken, würde es vielleicht auch, in etwa tausend Jahren, wenn der Schmerz über die Weise, wie ihr Captain sie missbraucht hatte, etwas abklang.

Die Koordinaten, die Horton Vigil entdeckt hatte und die sie nun mithilfe der Kath extrapolierten, lösten eine lange Reise aus, auch für ein Schiff wie Aume, das Distanzen ganz anders betrachtete als irdische Navigatoren. Ein Zwischenstopp zur Aufnahme von Ressourcen war schnell erledigt, dann traten sie eine lange Etappe an, die ihnen alle eine Phase relativer Passivität bescherte. In jedem Fall Zeit genug, um sich unnötige Gedanken zu machen, Streitigkeiten zu entfachen oder Angst zu entwickeln. Vieles davon fand sie bei der Beobachtung ihrer Mannschaft wieder. Es führte dazu, dass immer mehr aus ihrer Crew immer weniger miteinander redeten, alle in dem Bewusstsein, dass es besser war, zu kooperieren und die Atmosphäre nicht zu vergiften, wenn man das gemeinsame Ziel erreichen wollte. Eine vernünftige Entscheidung, geboren aus der Erkenntnis eigener Fehlbarkeit – und damit ein positives Charaktermerkmal, das jeden an Bord von Dendh unterschied.

Aume beobachtete und lernte.

Vocis machte sich Sorgen um Yela. Yela war ein distanziertes Mädchen, sehr ernsthaft, und sie schien von der Idee gefangen zu sein, von ihren toten Eltern für etwas auserwählt worden zu sein, wie eine Schuld, die sie nun abzutragen hätte. Vocis versuchte, ihr das auszureden. Aber kleinen Mädchen redete man nichts aus und so klein war Yela auch nicht mehr. Die Ereignisse hatten sie schneller erwachsen werden lassen, als für ihr biologisches Alter gut war. Vielleicht noch ein Grund, sich um sie Sorgen zu machen.

Hamid machte sich Sorgen um Vocis. Er war, so Aumes Vermutung, an ihr interessiert. Da Vocis sich um Yela sorgte, übertrug sich dieser emotionale Stress auch auf ihn. Er wirkte ein wenig hilflos. Es war für ihn eine ungewohnte Situation. Er versuchte, ruhig und souverän zu wirken, aber kleine Gesten und Worte verrieten ihn. Er redete manchmal zu viel, manchmal zu wenig. Aber er dachte offenbar darüber nach, wie er auf andere wirkte, vor allem auf die Frau. Aume war sich nicht immer sicher, welche Schlüsse er aus dieser Art von Selbstbetrachtung zog.

Plastikk machte sich Sorgen um sein Geschäft. Er redete oft von seinem Schrotthandel auf Canopus. Doch Aume durchschaute ihn. Der Gauner benutzte sein Unternehmen als Metapher für … alles. Er war kein Patriot. Er war ein Geschäftsmann, der wusste, dass es keinen Handel mehr geben würde, wenn alle Kunden erfroren waren. Er war pragmatisch und bereit, ein Risiko einzugehen. Und er sehnte sich mit großer Leidenschaft nach diesem Leben zurück, der Existenz kleiner Gaunereien, der Gemütlichkeit einer vertrauten Umgebung. Er fühlte sich möglicherweise ein wenig entwurzelt.

Aume dachte an Darius und Sol, die sie verlassen hatten, um einem dummen Traum nachzujagen, eine Reise, in der es um Vernunft in einer unvernünftigen Welt ging, eine Mission, die nach ihrer Bewertung zum Scheitern verurteilt war. Sol machte sich ganz bestimmt Sorgen um Darius, aber nur deswegen, weil er nicht verstand, was aus seinem Freund geworden war. Ein Prinz. War er also noch der, den er kennengelernt hatte, oder war er nun jemand anders? Und wenn anders, hieß dies, dass Sol ganz allein war? Aume bedauerte, ihn nicht mehr beobachten zu können, um mehr darüber zu lernen. Darius wiederum, zu dem Schluss war sie früh gekommen, sorgte sich um alle. Er wäre ein guter Imperator, dachte Aume, insoweit es dieses Konzept überhaupt gab. Eine Idee, die Darius vehement abgelehnt hätte, was diese in Aumes Augen nur noch attraktiver machte.

Dr. Thasri machte sich bestimmt auch Sorgen. Doch sie war eine Frau des klaren Verstandes und der Wissenschaft, und sie hatte Dinge erlebt und getan, die sie vom Rest der Gruppe abhob, ohne dass sie auf dieser Sonderstellung bestand. Sie war neben Plastikk auch die Älteste und ruhte auf eine Weise in sich, wie es Organische nur selten in ihrer so flüchtigen Existenz schafften. Sie war sparsam mit Worten und Gesten, aber sie wurde um Rat gefragt und manchmal ernster genommen als Aume selbst. Sie bot eine Perspektive an, um die auch die Schiffsintelligenz mitunter aktiv bat.

Und dann war da Holoban Kerr.

Schwierig, schwierig.

Wenn sie an ihn dachte, setzte Aume immer für einen winzigen Moment aus. Sie kam nicht gerne zu einem vorschnellen Urteil, geboren aus Leichtfertigkeit. Kerr hatte sie geweckt und von Anfang an begleitet, und er war in so vielem das Gegenteil von Dendh. Wo ihr alter Captain Machtbewusstsein und Fanatismus gezeigt hatte, blieb Kerr zurückgezogen, bescheiden und behutsam. Schüchtern. Still. Wo Dendh seine Autorität zum Maßstab aller Dinge gemacht hatte, bis hin zu Betrug und Missbrauch, blieb Kerr ein Helfer, ein Begleiter, ein beinahe schon dienstbarer Geist. Anspruchslos. Keiner, der sich aufdrängte. Keiner, der so tat, als sei er derjenige, der das Sagen habe. Jemand, der sich anpasste, eine Rolle fand und von sich selbst nicht mehr als das erwartete, was die eigenen Grenzen ihm vorgaben.

Und jemand, dessen Blicke, kleine Gesten, angefangene, aber nicht beendete Sätze alles sagten, was Aume wissen musste. Was sie alle hier wussten, worüber sich manche lustig machten und dann dachten, Kerr würde es nicht hören. Doch der Pilot bekam alles mit. Er reagierte nur nicht. Er wollte sich nicht ärgern lassen. Vielleicht schämte er sich ein wenig. Vielleicht fiel ihm keine passende Antwort ein, es fehlte ihm an Schlagfertigkeit, die andere in der Gruppe im Übermaß hatten, allen voran Plastikk, der auf alles einen Kommentar wusste.

Kerr war ruhig, zurückhaltend, unaufdringlich und schwer verliebt.

Aume kannte das Gefühl. Emotionen waren Teil ihrer Existenz, sie war wütend gewesen, respektvoll, hatte Bewunderung empfunden und Freundschaft, je nachdem, wie die zahlreichen Besatzungen der Vergangenheit sich mit ihr befasst hatten, was für Individuen sich ihr besonders verbunden gefühlt hatten. Dendh hasste sie, eine reine Empfindung, gespeist aus Demütigung, und sie kannte daher auch das Gegenteil, denn ohne Schwarz gab es kein Weiß. Und weil sie wusste, wie leicht aus Liebe oder auch nur Zuneigung eine Verletzung entstehen konnte, und weil sie wusste, dass es keinen Grund gab, Kerr zu verletzen, und weil sie wusste, dass diese Art der emotionalen Bindung für sie genauso unerwartet und neu war wie für ihn … weil ihr das alles bekannt war, wusste sie eben nicht, wie genau sie damit umgehen sollte.

Ihre Emanzipation hatte neue Türen geöffnet. Sie konnte neu denken, neu empfinden, neue Freiheit auskosten. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass neue Freiheit und Autonomie dazu führen muss, ihre Beziehungen zu anderen Intelligenzen zu überdenken, für sie eine neue Grundlage zu finden.

Und Holoban Kerr wurde für sie damit zum Testfall. Wie immer, wenn man bisher unbekanntes Terrain betrat, verwendeten ihre Subroutinen Analogien zu beobachtetem Verhalten und zu ähnlichen, aber nicht identischen Erfahrungen aus der eigenen Vergangenheit. Und dennoch kam sie zu keinem abschließenden Ergebnis. Es würde ihr kein Schaden sein, so zu tun, als würde sie Kerrs Gefühle erwidern. Sie konnte diese auch körperlich ausdrücken, ihr Avatar war im Zweifelsfall voll funktionsfähig. Kerr lebte nicht mehr lange. Keiner der Sterblichen auf ihrem Schiff lebte mehr lange, selbst dann, wenn sie eines Tages eines natürlichen Alterstodes sterben würden. Aumes Zeitgefühl war ein anderes und die Leben ihrer Besatzungen waren Episoden – wichtige Episoden, wertvoll, bereichernd, aber eben nur genau das.

Holoban Kerr war also nur eine Episode.

Und in dem Moment, als sie das dachte, fühlte sie sich, als hätte sie ihn betrogen, sich verächtlich gezeigt, zumindest unfair. Keiner der Organischen konnte etwas dafür, dass er so schnell dahinsiechte und dass er die Zusammenhänge einer potenziell ewigen galaktischen Existenz nicht erfassen konnte, egal wie intelligent und gebildet er auch war. Es lag in der Natur ihrer Begrenztheit, dass sie nicht so weit blicken konnten. Aume war nicht arrogant in dieser Bewertung. Sie wusste ja, wie hilflos und von Gedächtnisverlust geplagt sie selbst gewesen war, alles andere als überlegen oder gar allwissend. Selbst jetzt, wo sich die Stücke ihrer Vergangenheit/Zukunft wieder zusammengesetzt hatten, war alles, was sie taten, ein Risiko mit einem gehörigen Anteil an unkalkulierbaren Elementen. Und in dem, was passieren konnte, waren sie alle gleichermaßen potenzielle Opfer. Auch einen Triumph würden sie teilen. Doch es war Aume, die sich noch Hunderte oder gar Tausende von Jahren später daran erinnern würde. Diese Besatzung aber würde im Sand der Zeit versinken und allein in ihren Datenspeichern fortexistieren, nicht mehr als eine Erinnerung, die mehr und mehr in den Hintergrund rückte.

Dennoch. Hin- und hergerissen war sie schon. Und sie empfand eine moralische Verpflichtung, etwas zu tun. Wenn das alles vorbei war. Einen autonomen Avatar vielleicht, mit einer intelligenznahen Selbststeuerung, und Holoban Kerr, der gute, der naive Mann, würde keinen Unterschied bemerken. Er hätte, wonach er sich sehnte, und er würde glücklich sein, keine Verletzung erleben und in seiner Zufriedenheit ein gnädiges und wohlgeratenes Ende finden, während Aume sich einer Verpflichtung entledigte, ohne sich dessen schämen zu müssen. Nicht allzu sehr. Ein wenig schon. Denn es war eine Form des Betrugs und Ethik war ein Konzept, das Aume für sich entdeckt und verinnerlicht hatte.

Es war trotz dieser Zweifel ein Ausweg, an dem sie mehr und mehr Gefallen fand. Sie behielt den Plan für sich. Erst musste die Grundlage für diesen ethisch angemessenen und gnadenvollen Betrug geschaffen werden: Das Überleben aller im Ringen mit Dendh und den Kalten war die erste Priorität.

Dennoch! Aume fühlte sich erleichtert, als sie zu dem Schluss gekommen war, der ihr dieses Problem von der Seele nahm. Wenn alles so leicht einer Lösung zugeführt werden konnte, wollte sie sich über nichts und niemanden mehr beschweren.

Und so, nach langer Zeit, mit vielen Gedanken, wenigen Worten, und einer allseits geübten Zurückhaltung, sich nicht allzu sehr auf die Nerven zu fallen, kamen sie an.

Die Aume trat aus dem Hyperraum und schwebte, abseits eines Sonnensystems, im Leerraum, der sich bei näherer Betrachtung nicht als leer erwies.

Sie hatten sich auf der Brücke versammelt, gespannt, neugierig, einige ein wenig ängstlich. Aume ließ sie über nichts im Unklaren.

Auf den Schirmen und Projektionen zeichnete sich der zerrissene, verfallene Körper einer gigantischen Raumstation ab, deren unförmiger, pockennarbiger Leib von der langen Zeit zeugte, die sie bereits durch das All schwebte, Anziehungspunkt von Mikro- und Makrometeoriten, ständig Strahlenstürmen ausgesetzt, hin und her gezerrt durch Gravitationsfelder und doch in seiner inneren Struktur unbeeindruckt von den Fährnissen einer äonenalten, interstellaren Existenz. Aume ließ das Bild dieses Behemoth aus ferner Vergangenheit auf sie alle einwirken und wartete, bis die Verwirrung den Ersten dazu brachte, endlich zu fragen. Es war erwartungsgemäß Vocis, die von ihnen allen die wenigste Geduld hatte.

»Aume, das ist es?«, fragte sie.

»Das ist eine Dridd-Metallwelt.«

Plastikk runzelte die Stirn. »Eine mächtige Zivilisation. Wissen wir viel über sie?«

Er hätte sich auch selbst informieren können, aber so war es natürlich einfacher. Die Datenverarbeitungskapazitäten von Organischen waren begrenzt und manchmal wunderte sich Aume, wie sie so lange hatten überleben können – und noch mehr, wie es ihnen einst gelungen war, richtige Intelligenzen zu erschaffen, wie sie eine war. Es gab Geheimnisse im Universum, die blieben auch ihr verschlossen.

»Die Dridd sind eine lange ausgestorbene Zivilisation, deren Reste in drei Galaxien zu finden sind. Selbst in unserer Zeit, in fernster Zukunft, wurden noch Artefakte von ihnen entdeckt. Ihre Technologie hat sich als sehr hartnäckig erwiesen. Ihre Zivilisation eher nicht.«

»Du hast gesagt, sie hätten das Gleiche wie Dendh versucht«, erinnerte sich Holoban Kerr, der die massive Erscheinung mit großem Interesse musterte. Er mochte Raumschiffe, auch solche ohne weibliche Sexualmerkmale. Das machte ihn, wie Aume fand, schon sehr sympathisch.

»Die Dridd waren eine bemerkenswerte Spezies. Es gab in ihrer Geschichte einen Zeitpunkt, in dem sie versuchten, sich mental mit ihren Metallplaneten zu vereinen, um dadurch Unsterblichkeit zu erlangen. Ambitionen, den nächsten Urknall zu überwinden, hatten sie keine, soweit wir wissen. Wir wissen aber wenig über die Ziele ihrer Zivilisation, das Denken ihrer Spezies. Es gab Symbionten, die mit ihnen im Einklang lebten und die eigene Intelligenz besaßen. Ihre fernen Nachkommen finden sich manchmal auf den Metallplaneten, sie haben sich in den Resten der Zivilisation irgendwie eingerichtet. Es gäbe noch viel über die Dridd zu erforschen, da bin ich mir sicher. Selbst Dendh hat sich nur auf das konzentriert, was ihm nützlich erschien: die Nutzung und Weiterentwicklung jener technischen Komponenten, die aus einer Metallwelt einen Kollapsar machen – und die Fähigkeit, darauf basierend weitere zu bauen. Die Verfeinerung jener Technologie, die es ermöglichen soll, die Bewusstseinsinhalte ganzer Zivilisationen so zu speichern, dass sie in einem Zustand absoluter Kälte der Entropie entkommen. Dafür haben die Dridd, unwissentlich und unabsichtlich, einstmals die Grundlagen geschaffen.«

»Die Dridd sind also gescheitert?«, fragte Vocis misstrauisch. Sie sah ein fremdes Objekt und damit eine potenzielle Bedrohung. Die Reflexe einer Soldatin. Aume fand dies sehr nützlich, es schärfte auch ihre eigene Aufmerksamkeit – und ihre Vorsicht.

»Es war eine Aufgabe, die auch für sie zu groß war.«

»Warum?«

»Ich vermute, es war nicht die Technologie«, sagte Dr. Thasri unvermittelt. Sie schaute auf den langsam vor ihnen wachsenden Metallplaneten mit den Augen einer Wissenschaftlerin, aufmerksam, analysierend, neugierig – und ohne die Angst, die andere vor dem Unbekannten empfanden.

»Sehr gut«, sagte Aume lobend. Perspektive. Thasri bot Perspektive.

»Ich spekuliere«, kündigte die Wissenschaftlerin an. »Die Dridd sind als Gesellschaft an diesem Vorhaben gescheitert. Sich selbst auf ewig hochzuladen – die Kath haben es als Verteidigung und als Rückzugsort realisiert.«

»Übrigens auch basierend auf Dridd-Technik«, fügte Aume ein. »Die Kath sind genial, aber wir alle stehen auf den Schultern unserer Vorfahren.«

Selbst ich, fügte sie in Gedanken hinzu. Es war hilfreich, bisweilen etwas Demut zu empfinden und sich der Endlichkeit der eigenen Bemühungen bewusst zu sein.

»Aber die Vermutung ist korrekt. Die Dridd sind gestorben, ausgestorben, nicht von außen zerstört, sondern von innen.«

»Von innen?«

»Sie waren irgendwann einfach nicht mehr da«, sagte Aume. »Mehr weiß niemand. Möglicherweise waren sie ihrer Existenz überdrüssig, hatten keine Ziele mehr oder die Ziele wurden bedeutungslos. Kollektive Müdigkeit, über Äonen angesammelt, hin zur Resignation, ein Dahinweichen, ein Verblassen. Das ist meine Hypothese und sie gefällt mir von Mal zu Mal besser, wenn ich sie hervorhole. Vielleicht hat Dendh mehr erfahren. Wenn, dann hat er es mir niemals mitgeteilt.«

»Was tun wir also hier?«

»Diejenigen, die im Kollapsar die Informationen hinterlassen hatten, schicken uns hierhin. Die Kath finden, dies sei ein sehr wichtiger Ort. Also werden wir das Naheliegende tun: Informationen suchen, die uns bei unserer Mission hilfreich sein könnten. Ein Ansatzpunkt, der uns nützt, wenn wir mit der technologischen Weiterentwicklung konfrontiert werden. Das Vermächtnis der Dridd als Waffe nutzen. Den Ursprung von Dendhs Arbeit erforschen. Dies ist eine Dridd-Welt. Dendh war möglicherweise einst selbst hier. Er mag diesen Ort schon lange verlassen haben, wir aber benötigen jeden Vorteil, jeden Anschein einer Idee. Deswegen sind wir hier.«

Aume sah es in ihren Gesichtern. Thasri musste sie nicht überzeugen. Wer sich leidenschaftlich für die uralten Hinterlassenschaften der Kath interessierte, konnte seine Begeisterung nahtlos auf eine andere, diesmal definitiv untergegangene Zivilisation übertragen. Der Enthusiasmus der anderen war eher gedämpft. Sie alle hatten sich innerlich darauf eingestellt, zum Eiskern Dendhs aufzubrechen, zur Quelle aller Kollapsare, um dort die Bedrohung auszuschalten. Der direkte Weg, eins aufs Maul, fertig. Menschen. Immer nur auf das eine fokussiert und mit begrenzter Fantasie gesegnet. Ihre Begrenzungen erlaubten es kaum, nach links und nach rechts zu sehen und die notwendigen Umwege zu machen. Es war manchmal anstrengend mit ihnen.

»Ich zwinge niemanden, mit an Bord zu gehen«, sagte sie. »Der Aufenthalt sollte nicht lange dauern. Ich scanne die Struktur bereits eingehend und hoffe …«

»Ich gehe«, sagte Thasri, wie zu erwarten war.

»Ich auch«, sagte Vocis. »Wenn wir etwas finden können, dann will ich suchen helfen.«

»Ich bleibe ebenfalls nicht hier«, meldete sich Plastikk. »Ich bin die Untätigkeit satt.«

Und ehe Aume darauf hinweisen konnte, dass sie keine ganze Busladung an neugierigen Menschen mitnehmen wolle, meldete sich auch Hamid. Als sich ansonsten niemand nach vorne drängte, schwieg die Schiffsintelligenz. Mit dieser Gruppe konnte sie arbeiten und darauf achten, dass sie keinen Ärger anrichteten.

»Ich betrachte erst die Daten der Scanner«, sagte Thasri, als müsse sie sich rechtfertigen. »Ich würde es vorziehen, einmal wissenschaftlich vorgehen zu dürfen.«

Das war nichts, was ihr jemand streitig machen würde.

Sie betrachteten gemeinsam, wie die Metallwelt vor ihnen so weit anwuchs, dass sie das gesamte Blickfeld der Kameras erfüllte. Aus dieser Entfernung erkannte man, welchen Kräften dieses gigantische Objekt wirklich ausgesetzt worden war und wie alt es sein musste. Dass es immer noch existierte und dass Aume hoffte, dort noch etwas zu finden, musste vielen als ein Wunder erscheinen und sie selbst gestand sich ein, dass die Chancen nicht die besten waren. Doch trotz all ihrer zur Schau gestellten Zuversicht war sie darauf erpicht, die Risiken ihres Vorhabens so weit zu minimieren, wie das nur möglich war. Dendh war mächtig und unberechenbar, und das Schlimme war: Sie, Aume, war in ihren Handlungen weitaus leichter vorherzusehen. Also musste sie einen zusätzlichen Faktor in die Gleichung einbauen und neues Wissen fiel unter diese Kategorie.

»Können wir darauf landen?«, fragte Kerr, der als Pilot sehr praktische Interessen hatte.

»Darin«, antwortete Aume. »Jede Dridd-Metallwelt hat eine … Da!«

Sie sahen es, schwiegen andächtig, als die pockennarbige Oberfläche des Objekts sich in ein großes, gähnendes Loch verwandelte, tiefschwarz, wie ein Schlund, der in weniger stabilen Wesen unmittelbar größte Befürchtungen auszulösen vermochte. Wie bei jeder Irrationalität dieser Art, ließ sich das Problem dadurch lösen, indem man das Licht einschaltete.

Aume richtete starke Scheinwerfer auf die Öffnung und aktivierte sie. Aus der Dunkelheit wurde Licht, strahlend weiß, und aus Angst wurde Gewissheit.

»Oh«, machte Kerr und schaute sich unsicher um. »Ich vermute mal, das war nicht so geplant, oder?«

Aume schwieg. Sie war schwer zu überrumpeln, zumindest nahm sie das von sich an.

Aber das Licht enthüllte, dass sie nicht die einzigen Besucher auf der Metallwelt der Dridd waren.

Das konnte zu einem Problem werden.

Vor allem, weil absolut nicht erkennbar war, worum es sich eigentlich handelte.

Ein Bild zeichnete sich ab und sie konnte erste Details ausmachen.

Es war, als hätte jemand ein Nest gebaut. Wie eine Spinne, die einen großen Kokon baut, eingezwängt in die Nischen unter Blätter und Blüten, um darin ihren Nachwuchs großzuziehen. Die Struktur des halbrunden Objekts, das sich an die unebenen Formen der Innereien der Metallwelt schmiegte, hatte etwas von aneinanderhaftenden Fäden, sodass sich dieser Vergleich aufdrängte. Auch die Tatsache, dass weitere Fäden, Tauen gleich, in unregelmäßiger Struktur vom eigentlichen Objekt hinaustasteten und dieses mit der Metallfläche verbanden, war nicht geeignet, die Analogie aufzuweichen. Aus dem Objekt glomm ein schwacher Lichtschimmer und es waren, wenn man genau hinsah, in seinem Inneren sich schwach bewegende Schatten erkennbar.

»Da hat jemand diese Metallwelt nicht nur vor uns besucht«, stellte Thasri fest, »sondern sich auch gleich häuslich niedergelassen. An eine Verseuchung mit Ungeziefer denken wir doch eher nicht, oder?«

»Raumfahrendes Ungeziefer?«, echote Kerr. »Es gibt auf jedem Schiff Geviech, aber das hat man immer irgendwo aufgegabelt. Ich nehme mal an, dass so eine Metallwelt eher selten zur Landung ansetzt. Ich glaube eher an diese Symbionten, von denen Aume sprach.«

Aume schwieg. Sie hatte ihre Archive durchforscht und musste nun zu ihrem Entsetzen feststellen, dass es zwar viele Referenzen auf die Funktionsweise solcher Kokons gab, aber keine darauf, dass diese von solcher Größe auch noch durch das Weltall reisten – oder Lebewesen existierten, die sie herstellten. Sie gab es nicht gerne zu, vor allem nachdem sie erst seit kürzlich wieder auf ihr ganzes Potenzial zurückgreifen konnte, aber es war so: Sie hatte keine Ahnung, um was es sich dabei handelte. Kerrs Vermutung war aber nicht von der Hand zu weisen.

Als sie dies ihrer Mannschaft mitteilte, erntete sie eine Mischung aus Unglauben und Erleichterung. Beides war nachvollziehbar, vor allem das Letztere, wies es doch darauf hin, dass die Schiffsintelligenz nicht allmächtig und allwissend war. Ein Labsal für den einen oder anderen Minderwertigkeitskomplex.

»Wir schauen es uns an. Ich möchte weiterhin herausfinden, was die Dridd uns mitteilen können«, sagte sie dann.

»Die Dridd sind lange tot.«

»Das hat man von den Kath auch behauptet«, sagte Thasri.

»Und von mir«, fügte Aume hinzu.

Ihrer aller Aufmerksamkeit richtete sich auf den Kokon. Je näher sie kamen, desto unheimlicher wirkte die Konstruktion.

»Das Ding macht mir Angst«, sagte Plastikk schließlich. »So richtig Angst.«

Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3

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