Читать книгу Traum aus Eis - Der Kalte Krieg 3 - Dirk van den Boom, Emmanuel Henné - Страница 5

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Und so wurde eine Welt gefressen.

Der expandierende Schirm, kristallklar, kaltweiß, berührte die obersten Schichten der Atmosphäre. Es war ein bemerkenswerter Anblick, wie die Luftmassen milchig wurden, sich immer mehr verdichteten, Wolken wallten, je tiefer der Schirm vordrang. Eis und Schnee begann, zu Boden zu fallen, als die Gase und Flüssigkeiten heruntergekühlt wurden und alles zu Eis wurde, nicht nur das Wasser, sondern auch der Stickstoff, die Edelgase, das Kohlendioxid. Und unten auf dem Planeten, einer dicht besiedelten Welt, die kaum evakuiert worden war, erfasst von einem tödlichen, eiskalten Hauch, der vor nichts und niemandem haltmachte, begann das große Sterben.

Es war nicht wie die Arbeit eines Kollapsars, die dem Imperium wohlbekannt war. Nicht das allmähliche Herunterkühlen, nicht die schrittweise Eroberung, der hinhaltende Kampf mit verbissenem Widerstand, ohne Chance, den Prozess zumindest zeitweise aufzuhalten, zu retten, zu evakuieren, die Katastrophe ein wenig zu mindern und damit die Niederlage nicht absolut werden zu lassen. Es war kein Ringen mehr, es war diesmal ein Naturgesetz. Der Schirm berührte Materie, ob fest oder gasförmig, und kühlte diese in radikaler Geschwindigkeit herunter. Abwehreinrichtungen zeigten Widerstand. Raketen wurden abgefeuert, Energiewaffen ausgerichtet. Explosionen erhellten das Firmament einer sterbenden Welt. Wie auch die Angriffe der Flotte draußen im All waren die Bemühungen sofort und endgültig zum Scheitern verurteilt. Überall stieg die verzweifelte Bevölkerung in die Gleiter, floh auf die andere Seite des Planeten und zögerte damit das unausweichliche Ende nur um kurze Zeit hinaus. Jene Gleiter, die durch die ausgelösten Stürme in der Luft herumgewirbelt, gegen Gebirgsmassen oder die zunehmend vereiste See gestoßen wurden, waren die ersten, die scheiterten. Jene, die sich in der Luft hielten, stürzten erst ab, als die Luft um sie herum gefror und die Maschinen der Fluggeräte keine Möglichkeit mehr hatten zu funktionieren. Mit Glück schafften sie die Landung und dann erfroren oder erstickten die Passagiere, je nachdem, wie gut und sicher ihr Gefährt gebaut worden war. Aber sterben, das mussten sie alle, und aus dem Weltall, unterstützt durch hochauflösende Teleskope, durch noch funktionierende Bildübertragungen von da unten, wurde man Zeuge der Katastrophe, hilfloser, ohnmächtiger Zuschauer eines Genozids von unbeschreiblichen Ausmaßen. Es starben Milliarden. Gigantische Metropolen verendeten in einem umfassenden Eispanzer, nahmen ihre verängstigten und alleingelassenen Bewohner mit in ein ewiges Grab.

Funksprüche der Beobachter klangen wie ein Abgesang. Es wurde gemeldet, mit fester Stimme, dann zitternd, es gab Schluchzen und Wut. Funkdisziplin auf den letzten, den aussichtslos dahintreibenden imperialen Einheiten war eine Angelegenheit der Vergangenheit. Die Reaktionen waren ein Abbild emotionaler Zustände, mühsam überdeckt durch die Reste militärischer Disziplin, vereint in der Erkenntnis, dass der Kalte Krieg in eine neue, endgültige und vernichtende Phase getreten war.

Auf der Brücke der Aume hatten sie sich alle versammelt. Alle schwiegen sie. Tani Vocis hielt die Hände ineinander verkrampft. Von ihnen allen war sie diejenige, die einem solchen Vorgang – anders, langsamer, aber vergleichbar – am nächsten gewesen war, auf vielen Welten. Sie hatte eine Ahnung davon, was dort geschah. Wenn ein Kollapsar kam, blieb allerdings tatsächlich oft noch Zeit für die Evakuierung. Eine Vereisung konnte sich über Wochen hinziehen, bei hartnäckigem Widerstand imperialer Truppen sogar über Monate. Es gab eine Chance für die Flucht. Nicht alle ergriffen sie, aus Dummheit oder Trotz, und nicht alle schafften es, aber die Chance bestand. Die Menschen da unten, von den wenigen einmal abgesehen, die man rechtzeitig hatte wegbringen können, hatten nicht einmal diese kleine Chance bekommen. Das war unfair. Krieg war unfair. Dieser hier besonders, denn es gab in ihm keine Gnade und kein Entkommen, egal für wen.

Sie spürte Hamid, wie er sich neben sie stellte, ihr seine Hand auf den Unterarm legte, eine Geste des Trostes, obgleich sie doch sicher hier oben stand, Aume jederzeit verschwinden konnte und ihr Leben nicht in unmittelbarer Gefahr war. Aber was bedeutete das noch, wenn man solch einer Katastrophe ausgesetzt war?

Der Kristallschirm breitete sich langsam aus, aber schnell genug, dass man Zeuge des absoluten Kataklysmus werden konnte. Und je weiter er die Welt, die Atmosphäre und alles Leben in Gefrierzustand versetzte, desto abgestumpfter fühlte sich Vocis, als sei dies ein Katastrophendrama eines überkandidelten Filmproduzenten, mit dem die Fantasie durchgegangen war und der seine Effekte mehr liebte als alles andere. Das Drehbuch war schlecht, dafür gewürzt mit einer unvorstellbaren Grausamkeit.

»Ich erhöhe den Sicherheitsabstand!«, brach die Stimme Aumes durch die erschrocken-andächtige Stille. »Es gibt ohnehin nicht mehr viel zu sehen, befürchte ich.«

Sie hatte recht, doch niemand wollte den Blick von dem Schauspiel abwenden, und auch als die optischen Instrumente bloß noch mit Mühe den Detailreichtum aufrechterhielten und die Übertragungen von der Planetenoberfläche allmählich erstarben, lösten sich die Augenpaare nur mit Widerwillen von den Schirmen. Nicht mehr hinzusehen, das war ein kollektives Eingeständnis von Hilflosigkeit und Scheitern, und sosehr sie sich auch voneinander unterschieden, das war nichts, was einer von ihnen sonderlich schätzte. Bedrückte Stille begrüßte die Entscheidung Aumes, Fahrt aufzunehmen, sich von den Resten der imperialen Flotte zu lösen und dem Rand des Systems zuzustreben.

»Wir müssen das Ding weiter beobachten«, sagte Darius, Prinz des Imperiums, die Stimme brüchig, die Haut erbleicht. »Wir müssen wissen, was es vorhat. Wird es hier bleiben? Was ist das nächste Ziel?«

»Es hebt zum alles entscheidenden Angriff an«, erwiderte Vocis tonlos. »Dem Imperium wird das Genick gebrochen und wir sehen aller einer kalten Zukunft entgegen. Es wird nicht hier bleiben. Es wird jetzt System um System abklappern. So wird es passieren.«

»Es muss doch etwas geben, was die Streitkräfte dagegen tun können«, murmelte Plastikk. Er sah wie betäubt drein, als wäre alle Kraft aus ihm gefahren.

»Gegen einen oder zwei Kollapsare? Ja.« Vocis zeigte auf das Gitternetz an Kollapsaren, das dieses System einfrostete. »Aber das da – das ist nach allem, was wir wissen, absolut unüberwindlich.«

Sie sagte es klar und deutlich und ohne Gejammer, Worte, die allein schon deswegen ihre Wirkung nicht verfehlten.

»Also?« Darius sah Aume auffordernd an. »Also?«

Alle Augenpaare folgten seinem Blick. Hoffnung, Aufforderung, vielleicht sogar etwas Anklage. War sie nicht einst Dienerin von Dendh gewesen? War sie nicht, irgendwie, mitverantwortlich? Vocis hielt das für absurd, aber das musste ja nichts bedeuten. Dennoch, als hätte Aume ihre Gedanken gelesen, ging sie sofort auf das Thema ein.

»Wir müssen Dendh stoppen, meinen alten Kapitän«, erklärte die Schiffsintelligenz, ohne mit ihrem Tonfall um Entschuldigung zu bitten. »Das war von Anfang an die einzige Möglichkeit. Wir müssen den Eiskern oder das Hauptquartier finden, von dem aus er agiert, wo er die Kollapsare und die Geher und alles herstellen lässt und damit diese Galaxis überflutet. Wir müssen in die Höhle des Löwen und wir müssen uns damit beeilen.«

»Wo ist das?«, wollte Vocis wissen.

»Wir haben die Daten ja, wenn das stimmt, was Horton Vigil auf dem Bruchstück gefunden hat«, gab Aume unumwunden zu. »Ich gehe davon aus, dass dies die Position von Dendhs Operationsbasis ist. Oder zumindest ein Ort, an dem wir nachsehen sollten. Und wenn nicht Dendhs Basis, dann könnte uns diese Spur immerhin näher an die wahren Koordinaten heranführen. Wir müssen uns bewegen. Wir dürfen nicht abwarten. Stehen bleiben wäre fatal, denn Dendh hat seinen Zug gemacht.«

»Also fliegen wir einfach in die Richtung?« Vocis machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen. »Mit diesem Schiff? Bist du mächtig genug dafür? Kann Dendh uns nicht aufhalten? Schmeißen wir Bomben auf ihn drauf?«

»Ich kann mich einem Kollapsar nähern, ohne gleich entdeckt zu werden. Ich weiß nicht, ob das auch für Dendhs Hauptquartier gilt. Natürlich: Wenn ich angreife oder gar ein Enterkommando absetze …« Aume ließ den Satz in Stille verklingen, alle wussten auch so, was sie sagen wollte.

»Es gibt jene, die vielleicht mehr wissen«, sagte Darius nach einem Moment der Stille. »Die über Insiderinformationen verfügen, die uns sehr nützlich sein können.«

»Wen?« Holoban Kerr sah den Prinzen an, immer noch mit jener verhaltenen Ehrfurcht vor kaiserlichem Geblüt, das aus ihm ebenso schwer herauszubekommen war wie bei Vocis und Hamid, die einst heilige Eide auf ihre Treue zum Kaiserhaus geschworen hatten. Nein, es war etwas anders. Kerr war naiver. Vocis und Hamid begannen, in Darius den Menschen zu sehen, der unter dem royalen Heiligenschein tatsächlich existierte.

»Erinnern wir uns noch einmal für einen Moment an die Beobachtungen, die der Agent Horton Vigil in dem auseinandergebrochenen Kollapsar gemacht hat«, sagte der Prinz langsam, so als müsse er seine Gedanken selbst noch daraufhin prüfen, ob sie tatsächlich in dieser Situation Sinn ergaben. »Eine Aufzeichnung eines Wissenschaftlerteams, das in den Anfangsjahren des Kalten Krieges verschwunden ist, als verschollen gilt, spurlos. Wie kann es sein, dass eine solche Nachricht in einem Kollapsar verewigt wurde – und kann dies nicht auch bedeuten, dass diese Menschen noch am Leben sind?«

»Das ist viele Jahre her. Sie müssen Greise sein, falls sie überhaupt noch leben«, sagte Vocis. »Ich finde diese Geschichte … fantastisch, um es mal vorsichtig zu sagen.«

»Sie trauen Vigil nicht?«, fragte Kerr.

»Er ist ein Agent der Krone. Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendetwas gibt, was er sagt, das man nicht auf die Goldwaage legen muss.«

Darius ließ das nicht gelten und überging die Diskussion einfach. »Aber sie sind offenbar keine völlig hilflosen Gefangenen, wenn sie noch am Leben sind. Noch einmal weiter gedacht: An Bord des Kollapsars fand Vigil so etwas wie eingefrorene oder konservierte Lebewesen. Wir wissen nicht, welche Funktion sie erfüllten. Aber dass einfach nur Leichen transportiert wurden, das will ich bezweifeln. Also leben sie auf gewisse Weise, existieren zu einem genauen Zweck. Wenn das so ist, warum sollten dann jene, die den Hilferuf formuliert haben, nicht auch noch existieren, auf ähnliche Weise? Wenn es eine Hibernationstechnologie ist, dann spielt das biologische Alter nur eine untergeordnete Rolle.«

»Gut«, sagte Plastikk. In dem einen Wort lag eine Menge Gefühl, vor allem ein tiefer Unglaube und die lauernde Überzeugung, dass der Prinz vielleicht doch nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. »Und nehmen wir an, das wäre so: wie nehmen wir mit diesen potenziell tiefgefrorenen Greisen aus der Vergangenheit Kontakt auf, ohne dass Dendh uns auf die Schliche kommt und dem gleichen Schicksal zuführt? Mindestens.«

Darius nahm den Unterton des Schrotthändlers mit Gleichmut hin. Er war von seiner eigenen Idee überzeugt, das sah man ihm an. Vocis selbst, die schweigend zuhörte, war ein wenig hin- und hergerissen. Sie hatte in letzter Zeit viele fantastische Dinge gehört und gelernt. Da erschien ihr die Hypothese des Prinzen auch nicht absurder als alles andere.

»Wenn wir nahe genug herankommen und ich recht habe und diese Leute bei Bewusstsein sind, dann gibt es eine Möglichkeit, wie Sie wissen, egal in welchem Aggregatzustand sie sich befinden.« Jetzt schaute Darius Plastikk bedeutungsvoll an. Mit dem Schrotthändler ging eine bemerkenswerte Veränderung vor sich. Er holte tief Luft, war mit einem Male etwas blass um die Nase.

Vocis sah ihn an. Ein kühler Luftzug blies in ihren Nacken. Sie drehte sich irritiert um, doch die Gitter der Luftumwälzung waren weit weg. Vielleicht nur ein Gefühl, ausgelöst durch die emotionale Reaktion Plastikks, der offenbar nun an etwas erinnert wurde, was ihm sichtlich unangenehm war.

»Es sind Leute von … damals«, sagte er mit einem Aufstöhnen. »Das habe ich ganz vergessen. Es kann sein … ach verdammt, ich bin mir sicher, dass sie die Kontrollkapsel im Kopf haben. Ich habe nicht mehr daran gedacht.« Er tastete sich an den eigenen Schädel. »Sie haben die Narbe gesehen, mein Prinz.«

»Darius reicht. Ja, ich habe sie gesehen. Die Kapsel wurde bei Ihnen entfernt, als der Imperiale Gerichtshof damals seine Entscheidung fällte. Sie waren im letzten Jahrgang, die sie noch bekam, richtig?«

»Ja«, bestätigte Plastikk heiser und rieb sich immer noch die gleiche Stelle unter seinem Haar. »Wurde nie benutzt, ich habe nichts gemerkt, aber … ja. Ich habe sie noch vor Ende meiner Dienstzeit herausoperiert bekommen. Und diese Leute … damals hatte es noch nicht einmal die Klage gegeben!«

»Vielleicht kann mich jemand aufklären, worum es hier geht?«, fragte Sol, der etwas verwirrt wirkte und fragend von einem zum anderen schaute. Sein alter Freund Darius beeilte sich, die Verwirrung zu beseitigen. Doch ehe er das Wort erheben konnte, mischte Plastikk sich ein.

»Eine Erklärung ist notwendig. Aber nicht ohne Vorbemerkung«, sagte der ältere Mann und schaute den Prinzen zwingend an. »Sie dauert nicht lange und lautet in etwa so: Das Imperium wird von Arschlöchern regiert. Arschlöcher, die meinen, mit jenen, die ihnen freiwillig dienen, die patriotisch denken und fühlen und ihr Leben riskieren, umgehen zu können wie mit irgendwelchen Sklaven, Kriminellen oder jenen, die es zu erobern gilt. Ich war einer von diesen Menschen.« Er sah Darius an. »Ein Patriot bin ich seitdem nicht mehr.«

Der Prinz nickte. Er war offenbar nicht verärgert, ganz im Gegenteil. Ein Teil des Schmerzes, der in Plastikks Worten gelegen hatte, fand sich in seinem Gesicht widergespiegelt. Er seufzte, als würde ihn eine schwere Last niederdrücken, wartete noch, ob der Mann etwas hinzufügen wollte, doch alles schien von seiner Seite aus gesagt zu sein.

»Das ist richtig«, erklärte Darius nun leise. »Es sind Dinge, Entscheidungen und Irrungen wie diese, die mich auf den Konfrontationskurs gegen meinen Vater geführt haben. Ich rechtfertige nichts von dem, was getan wurde, auch wenn ich damals noch ein Kind war und nicht einmal davon wusste. Ich entschuldige es nicht. Ich entschuldige aber auch mich nicht. Ich repräsentiere diese Art von Vorgehensweise nicht, das habe ich wohl unter Beweis gestellt.«

Plastikk widersprach nicht, obgleich es ihm sichtlich schwerfiel. Darius wandte sich an Sol.

»Für lange Zeit wurde Rekruten der Streitkräfte sowie Zivilpersonal im Militäreinsatz eine kleine Kapsel unter die Schädeldecke implantiert. Man erzählte den Betroffenen damals, es handele sich um eine medizinische Vorsichtsmaßnahme, die vor allem gegen Infarkte helfen würde, und tatsächlich haben die meisten Soldaten nie mehr etwas mit der Kapsel zu tun gehabt, weder im Bösen noch im Guten. Die meisten dürften sie irgendwann vergessen haben.« Er sah Plastikk an. »Wie war es bei Ihnen?«

»Ich wurde daran erinnert, als das Verfahren vor dem Gerichtshof publik wurde.«

»Plastikk benutzte das Wort ›Kontrollkapsel‹«, erinnerte sich Sol. »Ist es das, was ich mir darunter vorstelle?«

»Nein, nicht ganz«, erwiderte Darius. »Es war nicht so, dass damit das Bewusstsein seiner Träger kontrolliert wurde oder sein Körper oder sonst etwas. Es war keine direkte Kontrolle, sondern vor allem ein Abhörgerät. Es wurde alles aufgezeichnet, was jeder im Dienst sagte und hörte – permanent. Ohne vorherige Einwilligung. Ohne Kenntnis. Befand sich die Person in der Nähe einer Flotteneinrichtung oder einer administrativen Einheit der Zivilverwaltung, wurde der Speicher runtergeladen und alle Informationen landeten beim Geheimdienst, wo KIs ihn permanent auswerteten. Ein absolut vollständige und umfassende Überwachung. Natürlich zum Schutz gegen Terroristen oder Korruption.«

»Was geschah?«, wollte Sol wissen. Er machte große Augen. Natürlich hatte er, der nie in Diensten des Imperiums gestanden hatte, von der Geschichte nichts mitbekommen.

»Es kam raus. Es ging vor Gericht. Die Rechtslage war klar. Es wurde verboten. Es wurden dann keine neuen Kapseln eingepflanzt und diejenigen, die noch da waren, mussten beseitigt werden. Es gab großzügige Entschädigungszahlungen, die den Aufruhr unter Kontrolle hielten. Ein paar Sündenböcke waren auch schnell gefunden und wurden wegbefördert oder in den vorzeitigen Ruhestand entlassen. Dann wuchs Gras über die Sache.« Darius nickte Plastikk zu. »Nur die Narben blieben – und mit ihnen die Erinnerung bei den Betroffenen.«

»Wir fühlten uns alle plötzlich sehr …« Plastikk suchte für einen Moment nach dem richtigen Wort. »… nackt. Ja, das trifft es wohl am besten.«

»Was hat das mit unserem Problem zu tun?«, fragte der immer noch irritierte Sol, bei dem man derzeit nicht mehr erreicht hatte, als seine wahrscheinlich ohnehin zynische Haltung zum Imperium noch zu bestärken.

Vocis verstand ihn. Sie fühlte sich ebenfalls aufgewühlt. Sie hatte diesem Staat lange gedient, und keinesfalls unwillentlich. An diese Dinge erinnert zu werden … Unwillkürlich zitterte sie. Es war kalt auf der Aume, daran bestand kein Zweifel.

»Wenn man in Reichweite ist, kann man die Kapselinhalte abrufen«, erinnerte ihn Darius. »Wir könnten also alles erfahren, was diese Leute mitbekommen haben – und das könnten exakt die Informationen sein, die wir brauchen. Es gibt sogar eine Möglichkeit, die Kapseln zu befragen, wenn ihre Träger längst tot sind. Glaube ich. Ich bin kein richtiger Experte, muss ich zugeben. Es gibt dabei nur ein kleines Problem – oder vielmehr zwei: Das eine ist die Distanz. Man muss auf unter 50 Kilometer heran.«

»Da kann ich helfen, wenn Dendhs Hauptquartier so reagiert – oder nicht reagiert – wie ein Kollapsar«, sagte Aume.

»Das zweite Problem: Wir brauchen den Aktivierungscode der Kapseln. Der ist Staatsgeheimnis gewesen. Ich weiß nicht, wo diese Sachen noch gespeichert werden, und ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch gespeichert sind. Die Codes sind individuell nach Träger, es gibt keinen Zentralschlüssel. Eindeutige Identifizierung der Informationsquelle war das Diktat jener Zeit.«

»Ich kann da helfen.«

Alle drehten sich um, als Thasri nach vorne trat, Darius zunickte und damit alles bestätigte, was dieser bisher vorgetragen hatte. Sie tippte sich an den Kopf. »Agenten des Geheimdienstes hatten auch so ein Ding, übrigens auch noch, als der Gerichtshof den Einsatz bei den Truppen verboten hatte. Keine Angst, ich habe nach meinem Ruhestand sehr sorgfältig darauf geachtet, dass es entfernt wird.« Sie sah Plastikk verständnisvoll an. »Nackt ist gar kein Ausdruck.«

Dann wandte sie sich an die Runde.

»Ich kenne die Architektur der Codes. Ich werde Aume alles darüber sagen und sie …«

»… wird in kürzester Zeit jede mögliche Kombination ausprobiert haben«, vervollständigte die Schiffsintelligenz den Satz. »Es gibt keinen Code, den ich nicht knacken kann. Und wenn Sie mir helfen, wird es noch schneller gehen.« Sie sah von einem zum anderen. »Also, haben wir einen Plan? Wir fliegen zu den Koordinaten, und suchen nach Dendh, einem Signal der Kontrollkapseln und der Rettung des Universums?«

»Es ist ein Scheißplan«, sagte Plastikk. »Spätestens wenn wir auf dem Ding landen, das die Kollapsare ausspuckt, sind wir Gefrierfleisch.«

»Egal wer, sie erkennen mich nicht.«

Alle Köpfe drehten sich um. Und neigten sich um eine Nuance. Yela sah sie an, eine Hand in der von Vocis, die andere in die Hüfte gestemmt, und sie wirkte so entschlossen, wie kleine Mädchen nun einmal entschlossen sein konnten.

»Meine Eltern haben dafür gesorgt. Ist doch so, oder?«

Gegen ihren Willen musste Vocis nicken. Niemand kommentierte das.

Über diese Brücke wollte keiner von ihnen gehen.

Aber möglicherweise hatten sie keine Wahl.

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