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Der Verfall der Religion

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Was ist aus der Religion ...

Nein, diese Frage kann wirklich nicht zu Ende gestellt werden. Zu dominant sind im Zusammenhang mit Religion die Eindrücke des Trennens und des gegeneinander Aufbringens und die diesbezüglichen Erfolge der unterschiedlichen Weltreligionen - jahrzehntelange Kriege, Folter, Aberkennung des Menschseins etc. Das Ausmaß an menschenverachtender Kreativität verbindet sich unweigerlich mit der Hoffnung auf ein schnelles Verschwinden des Religiösen. Dabei scheint zumindest eines grundsätzlich festzustehen - die wirklich Grausamen sind immer die anderen.

Eine der großen Fragen der heutigen Zeit scheint entsprechend darin zu bestehen, welche Religionen nun zu Deutschland gehören und welche nicht. Unbestritten ist, dass das Christentum zu Deutschland gehört. Die nachbarschaftliche Kooperation von Staat und christlicher Kirche ist im deutschen Staatskirchenrecht streng nach Zuständigkeiten geregelt. Schließlich kümmert man sich gemeinsam um ein und denselben Menschen, der je nach Verantwortlichkeit einmal Bürger, das andere mal Kirchenmitglied ist. Die konstitutionelle Offenheit untersagt es dem Staat, die Fragen nach Gott, nach Woher und Wohin zu stellen. Für die Antworten dieser ungestellten Fragen ist die Kirche zuständig. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, konkretisiert der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof, dass dies allerdings nicht mit Abstand zum Staat zu geschehen hat und dass selbigem damit auch keine unentschiedene Haltung zum Glauben aufgezwungen wäre.

Ebenfalls unbestritten ist, dass, spätestens in beschämender Erinnerung an das „christliche Verhalten“ im Dritten Reich, nunmehr auch das Judentum zu Deutschland gehört. Beiden gemeinsam sei schließlich der Kampf mit der säkularen Aufklärung und die Hinwendung zu den universalen Menschenrechten. Nach dieser Lesart mussten die Menschenrechte den Kirchen kämpferisch abgerungen werden. Andere Strömungen sehen dagegen im Christen- und Judentum den Ursprung dieser Rechte. So verdanke gerade der freiheitliche Rechtsstaat dem christlich-jüdischen Glauben die geistige Fundierung seines rechtlichen Ursatzes, der Würde des Menschen. Man sollte bei dieser Feststellung allerdings nicht übersehen, dass die katholische Kirche die Menschenwürde mit einer einschränkenden Fußnote versehen hat. So beispielsweise die Ächtung der Homosexuellen. Die „verleumderischen“ Insiderberichte sind zwar schwer einzuordnen, unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit möchte die Amtskirche jedoch sehr wahrscheinlich das Privileg der Homosexualität für ihre eigenen Würdenträger reserviert wissen.

Der Islam hingegen kann unter keinen Umständen zu diesem zivilisierten Verhalten passen. Er habe seit jeher eine philosophische Auseinandersetzung vermieden und dulde keinerlei Kritik. Dabei wären die selbsternannten Tadler durchaus bereit, der verfassungsrechtlichen Religionsfreiheit mehr Gewicht zu geben. Die Gegenseite müsste lediglich auf die Sichtweisen verzichten, die sich nicht mit der Weltauffassung der Kritiker vertragen.

Kollidiert der Islam wirklich grundsätzlich mit den westlichen Vorstellungen? Wie steht es mit der unumstößlich wichtigen und entsprechend immer wieder angeführten Trennung von Staat und Kirche? Im aufgeklärten Europa und den USA wird hier jedenfalls immer deutlich getrennt. Während die US-Amerikaner in der Tradition ihrer Einwanderer vor allem den Einfluss des Staates auf die Freiheit der Religion abwehren möchten, gründet sich der französische Laizismus umgekehrt eher auf die geschichtliche Erfahrung der kirchlichen Einflussnahme auf ihr Staatswesen. In Deutschland hat man, dank der bereits erwähnten eindeutig regulierten Zuständigkeit, weder die eine noch die andere Angst - Hauptsache es bleibt christlich und, Anfeindungen trotzdem nicht ausgeschlossen, auch jüdisch. Die europäischen Monarchien sind hier zugegebenermaßen noch etwas rückständig. Im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland ist Ihre Majestät gleichzeitig Staats- und auch Religionsoberhaupt der Anglikanischen Kirche, die in England Staatskirche ist. Schottland leistet sich mit der Presbyterianischen Kirche eine eigene Staatskirche. Auch das Königreich Norwegen hat den Protestantismus als Staatsreligion in seiner Verfassung festgeschrieben. Problematisch sind diese Konstellationen jedoch deshalb nicht, weil weltweit nur eine Religion nicht mit einem demokratischen Staatswesen vereinbar ist. Man ahnt es bereits - der Islam.

Bedauerlicherweise lässt es sich in einem freiheitlichen Staat nicht verhindern, dass Querulanten dieses stimmige Bild in Frage stellen. So weise keine einzige Religion eine eindeutige Demokratieverträglichkeit auf. Zum Beweis wird den christlichen Kirchen ein Fehlverhalten im ostmitteleuropäischen Umbruchprozess der Jahre 1989/90 vorgeworfen. Dabei ist deren herausragende Rolle im Demokratisierungsprozess ebenso dokumentiert wie das dortige Bedürfnis nach seelsorgerischem Beistand und religiöser Verankerung der neuen Gesellschaft. Trotz polnischstämmigem Oberhaupt ahnte auch in Rom damals niemand, dass selbst diese Menschen ihr Leben eigenverantwortlich gestalten wollten. In undankbarer Weise warf man der Kirche entsprechend vor, sie würde sich nicht nur ungefragt in die Politik einmischen, sondern auch in die Fragen der Kindererziehung und der Sexualmoral. Zwar wurde nach Kräften versucht, neu aufkommende oder auferstehende Glaubensgemeinschaften zu bekämpfen, letztlich musste jedoch die Hoffnung aufgegeben werden, jemals wieder offiziell in den Schlafzimmern der Gläubigen mitmischen zu können. Wenigstens musste der afrikanische Kontinent diesbezüglich noch nicht aufgegeben werden. In Deutschland ist nach neueren Untersuchungen dagegen nicht einmal auf die Kirchgänger verlass. Kollidiert deren Leben mit der offiziellen Lehre, beispielsweise durch eine sündhafte Lebensgemeinschaft, rücken die Menschen lieber von der Amtskirche ab, als reumütig auf den Pfad der Tugend zurückzukehren.

Um den Islam in einem besseren Licht erscheinen zu lassen, werden zudem Beispiele ausgegraben, die nicht nur Tausende Kilometer entfernt sind, sondern Muslime auch noch als Opfer präsentieren. So soll es in Indien ursprünglich zwei Auffassungen von Säkularismus gegeben haben: Auf der einen Seite als klassische Trennung von Staat und Religion, auf der anderen Seite, zurückgehend auf Mahatma Gandhi (1869 bis 1948), als Gleichberechtigung aller Religionen innerhalb des Staatswesens. Letztere setzte sich zwar durch, führte jedoch nicht zum beabsichtigten friedlichen Miteinander zwischen Hindus und Muslimen. Der erstarkende Hindu-Nationalismus verabschiedete sich, laut einer Verhandlungsbeobachterin, vollends von republikanischen Werten und definierte auch die Staatsbürgerschaft fortan nicht mehr territorial, sondern religiös. Dank dieses geschickten Winkelzugs blieb sogar der Toleranz-Anstrich unversehrt. Die hindunationalistische Brutalität war damit lediglich eine Notwehrhandlung der legitimen Staatsbürger gegen die drohende Besetzung durch die Muslime. Auch die Buddhisten in Myanmar bedienen sich dieser bewährten Argumentation gegen die muslimischen Rohingya. Eine Notwehrlage ist allerdings nicht alleine dadurch gegeben, dass sie sich als Rechtfertigung schön anhört. Und wenn sie tatsächlich vorliegt, müsste streng genommen auch noch das mildeste Mittel zur Abwehr gewählt werden. Aber das ist selbst manch zivilisiertem deutschen Staatsbürger zu kompliziert.

Eine allgemeinere Verlaufsanalyse der religiösen Konflikte in Indien, Nordirland und auch dem ehemaligen Jugoslawien kommt zu dem Schluss, dass die unlösbaren Streitfragen nicht der Ausgangspunkt, sondern ein Produkt der Spannungen sind. Hier wird nach Julia Eckert absichtlich eine Endlosschleife erzeugt, die als gemeinschaftsstärkende Dynamik hervorragende Dienste leistet. Spätestens hier müssten selbst dem hartnäckigsten Ignoranten die Vorzüge der friedfertigen deutschen Kultur ins Auge stechen. Auf Konfliktlösung und Harmonie ausgerichtet, sind derartige Entgleisungen in unserem Rechtssystem nicht möglich. Die unbelehrbaren Blasphemiker bestreiten stattdessen sogar den grundsätzlichen Unterschied zwischen einem europäischen, weltlich und demokratisch verfassten Rechtsstaat und einem religiös gestützten, islamischen Gebilde.

Selbst der eindeutig repressiv-autoritäre Charakter des islamischen Staatswesens wird von manchen Analysten argumentativ verwischt. Dieser sei nicht ausschließlich Erbe der islamischen, sondern auch der westlichen Geschichte. So sei der diesbezüglich ungünstige Mangel an politischer Legitimation eine strukturelle Hinterlassenschaft der europäischen Kolonialzeit. Die politische, ökonomische und kulturelle Vormacht der industrialisierten Staaten habe letztlich auch zur Politisierung des Islam geführt.

Diese Beschreibungen rütteln zwar bereits an der alten Gut-Böse-Schablone, unterschlagen jedoch die eigene Entwicklungsgeschichte und die Vielschichtigkeit des Islam. Nicht rigide Strukturen, sondern Widerstand und Aufbegehren prägen von Anfang an die islamische Bewegung. Auch das Glaubensfundament ist facettenreich genug, um gleichzeitig sowohl den Herrschaftsanspruch der Eliten zu untermauern als auch den Widerstand gegen selbige zu legitimieren. Als Zäsur wird der Verwestlichungsverdacht gegen die traditionellen religiösen Führer beschrieben. Im Zuge dieser Auseinandersetzung soll die Scharia erstmals zur zentralen Referenz für die Errichtung eines islamischen Staatswesens geworden sein. Das klassische Verständnis weist dagegen noch eine klare Trennung zwischen einem politischen und einem religiösen Wirkbereich auf. Das religiös fundierte Juristenrecht entstand, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen, grundsätzlich getrennt und jenseits einer staatlichen Setzung. Ist damit das schöne Kernargument entkräftet?

Möglicherweise der westlichen Eitelkeit geschuldet, wird zwar der Ursprung als „europäischer Import“ angegeben, die Beschreibung mancher islamisch verfasster Gemeinwesen lässt jedenfalls tatsächlich keine eindeutige Abgrenzung zum westlichen Aufbau zu. Formen politischer Unabhängigkeit sind für diese Staaten ebenso charakteristisch wie ein auf die öffentliche Hand begrenztes Gewaltmonopol und eine nicht religiös, sondern legal begründete politische Ordnung. Dieser rechtliche Unterbau beruht ebenfalls rechtsstaatstypisch weitestgehend auf formalen, entscheidungsgesetzten Verfahren. Auch wenn die weitere Entwicklung in den nordafrikanischen Umbruchstaaten noch abzuwarten bleibt, muss offensichtlich zumindest ein elementarer westlicher Irrtum endgültig aufgegeben werden. Der Islam steht nicht grundsätzlich für eine unumstößliche Verbundenheit von weltlicher Herrschaft und religiöser Ordnung. Die gegenteilige Behauptung kann sich jedenfalls nicht (mehr) auf eine historische Grundlage stützen.

Ob nun also das Christentum oder der Islam die Erfindung der Unterordnung der Frau für sich beanspruchen darf, muss wahrscheinlich ebenso durch das Patentamt überprüft werden, wie die Urheberschaft der psychischen Schädigung der Kinder. Experten sind sich hier zumindest uneinig, ob die Zwangsverheiratung nach der Vorstellung mancher Muslime oder dann doch der sexuelle Missbrauch nach dem Vorbild einiger Vertreter der aufgeklärten katholischen Kirche die effektivere Variante ist. Strittig bleibt letztlich sogar, ob die Freiheit der Bürger und die Autonomie der Politik überhaupt nur durch eine strikte Trennung von weltlichem und spirituellem Bereich erreichbar ist. Die fortschreitende Säkularisierung ist zwischenzeitlich jedenfalls bei der Sorge angekommen, ob eine demokratische Gesellschaft ohne religiöse Grundlegung überhaupt überlebensfähig ist. Dabei zeichnet sich ein Fundament ab, dass für ein recht umfängliches Gesellschaftsgebäude spricht. Nach Recherchen der Boulevardpresse verleugnen zwar ausgerechnet traditionsbewusste Innenpolitiker aus Herrschsucht regelmäßig ihren eigenen Urgroßvater. Einzelheiten über die gemeinsame Kindheit von Christen, Juden und Muslimen sind jedoch den Berichten über Abraham zu entnehmen. Die Verwirrung vieler Beobachter dürfte dadurch allerdings nicht unbedingt aufgelöst werden. Eigentlich war man davon ausgegangen, dass die zunehmende Ausbreitung des rational-empirischen Erkennens eine Ursachenzuschreibung auf eine Gottheit überflüssig werden lässt. Dann zeigte sich, dass die Religion nicht verschwand, sondern nur unsichtbar wurde. Inzwischen ist sie immerhin wieder sichtbar, dafür aber privatisiert. Wie lässt sich denn nun feststellen, ob wir heute in einer säkularisierten, post-säkularen oder bereits wieder in einer resakralisierten Gesellschaft leben?

„Säkularisierung“ - für die einen der Himmel auf Erden, für die anderen eine eindeutige Machenschaft des Teufels. Es ist also naheliegend, dass diese Einschätzung die Spreu vom Weizen, die Leugner von den Gläubigen trennt. Der einzige Unterschied, der sich hier allerdings herauskristallisiert, liegt im jeweils unterschiedlichen Verständnis dessen, was Säkularisierung eigentlich bedeutet.

Nach einer Ansicht bezeichnet diese die Trennung von staatlichem Gemeinwesen und Religion. Die Befürchtung bzw. die Hoffnung, dass die jeweilige Kirche den Ausschluss von der verfassungsrechtlichen Macht nicht überlebt, beschränkte sich auf Europa. In den USA war dieser Prozess für die Kirchen geradezu ein Segen. Die Säkularisierung führt nach diesem ersten Verständnis letztlich also lediglich zu einem weltanschaulich neutralen Staat.

Ähnlich, aber mehr auf das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften gerichtet, ist das Verständnis, das mit Säkularisierung eine Pluralisierung der Weltanschauungen bezeichnet. Zwar entstehen dabei auch neue Glaubensrichtungen, die teilweise diesen oder jenen Aspekt mehr oder weniger betonen als die bereits bestehenden Institutionen. Das Hauptaugenmerk gilt hier jedoch dem Abbau ehemaliger kirchlicher Monopolstellungen auf dem Weg zum anschauungsneutralen Staatswesen.

Andere wiederum bezeichnen mit Säkularisierung eine Lockerung bzw. einen Bindungsverlust des Einzelnen zu religiösen Werten und Institutionen. Säkulare Humanisten räumen der jüdisch-christlichen Tradition zwar einen gewissen Beitrag auf dem Weg zu den Menschenrechten ein, der völlige Verzicht auf eine religiöse Perspektive führe ihrer Meinung nach jedoch zum besseren Leben. Die Gegenseite hält ein solches Unterfangen nur dann für möglich, wenn die menschliche Neigung zum Spirituellen neurochirurgisch entfernt wird. Bei dieser Säkularisierungsdebatte werden ausnahmsweise einmal die individuellen Bedürfnisse thematisiert.

Meist völlig unbeachtet bleibt das letzte Verständnis von Säkularisierung. Der Beginn wird bereits auf das 11. Jahrhundert datiert. Damals versuchte die katholische Kirche unter Papst Gregor VII (Pontifex von 1073 bis 1085) sich von der „staatlichen“ Macht zu lösen. Das Ziel war, eine autonome Institution mit eigener Gesetzgebung zu etablieren. Bekannt ist Papst Gregor VII vor allem durch sein inniges Verhältnis zu Kaiser Heinrich IV (1050 bis 1106), damals noch König. Erst belegte der Papst den König mit dem Kirchenbann. Dann wanderte der König 1077 nach Canossa, wo nach dreitägiger Buße der Bann wieder aufgehoben wurde. Dafür setzte der König im Jahr 1080 den Papst ab und etablierte mit Klemens III einen Gegenpapst. Dieser dankte dem König wiederum, indem er ihn zum Kaiser krönte. Erwähnenswert ist noch, dass Papst Gregor VII auch die Durchsetzung des seit Längerem bestehenden Zölibats einleitete. Seine Auslegung, dass ein kirchenrechtliches Verbot auch das praktische Sexualleben der Geistlichen prägen sollte, stößt bis heute in manchen Kreisen auf Unverständnis. Die von ihm angestoßene Säkularisierung ist dagegen seit der endgültigen Erlangung der staatlichen Souveränität der Vatikanstadt im Jahr 1929 abgeschlossen.

So unterschiedlich diese Auffassungen von Säkularisierung auch sind, als gemeinsamer Nenner bleibt jeweils die Befreiung von bevormundenden Anweisungen in Glaubensfragen. Normen sind immer dann im Spiel, wenn mehrere Menschen eine gemeinsame Richtschnur brauchen. Wie erklärt sich aber diese Verbindung von Gesellschaft und Religion?

Viele Gesellschafts- und Staatstheoretiker gehen davon aus, dass die Vernunft das Wesen des Menschen ausmacht und haben trotzdem oder gerade deshalb auffallend häufig Angst vor dem Individuum. Die genauere Beleuchtung dessen führt unter der Leitung des Religionswissenschaftlers Alexander-Kenneth Nagel zurück ins 17. Jahrhundert. Damals ging die Aufklärung von England aus und erreichte im 18. Jahrhundert über Frankreich auch den Rest Europas. Dabei sollten die Menschen grundsätzlich von der Tyrannei der christlichen Tradition befreit und zu einer religiösen Toleranz geführt werden.

Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 bis 1679) gehört mit zu den bekanntesten Angsthasen. Relativierend sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass er sich immerhin „als unbequemster politischer Denker Englands“ mit allen seinen Zeitgenossen anlegte. Im „Naturzustand“ herrscht seiner Ansicht nach der reine Egoismus und der Kampf aller gegen alle. Der berühmte Satz „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ hat nicht nur dem damaligen Ansehen von Thomas Hobbes selbst, sondern bis heute auch dem der Wölfe geschadet. Jedenfalls mache dieser zerstörerische Naturzustand den Gesellschaftsvertrag notwendig. Inhaltlich begründet dieser Vertrag die absolute Gewalt des Staates über alle Bürger. Der Staat, bei Thomas Hobbes „Leviathan“ genannt, ist Garant und Hüter der Sicherheit, damit niemand auf falsche Gedanken kommt. Entsprechend bestimmt die Krone auch über die Einzelheiten des Glaubens, so dass dem Untertan im Gottesdienst zugleich die weltliche Macht bewusst wird. Nur auf diesem Weg könne das engstirnige tradierte Weltbild der Christen überwunden werden. Dabei konnte sich Thomas Hobbes eine erfreuliche Vorarbeit der katholischen Kirche aus dem Mittelalter zunutze machen. Dank dieser liegt der Ausgangspunkt der Religion nicht nur in der Furcht, sondern zudem auch noch in der Verehrung des Gefürchteten. Auf diesem Weg lassen sich auch die Herrschaftsansprüche des Staates vortrefflich absichern.

Bei den Franzosen konnte man sich mit der Beschreibung des negativen Naturzustandes von Thomas Hobbes nicht so wirklich anfreunden. Schließlich lebte zu dieser Zeit Gott höchstpersönlich noch in Frankreich. Der französische Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) gilt entsprechend zugleich als Vertreter und Überwinder der Aufklärung. Der Naturzustand ist durch Glück charakterisiert - also zurück zur Natur und der Souveränität des Volkes! Gerüchten zufolge war Jean-Jacques Rousseau auch der erste Träger der später so berühmt gewordenen modischen Jute-Taschen. Er unterscheidet drei Arten von Religion: 1. „Religion des Menschen“, 2. „Religion des Bürgers“ und 3. „Zivilreligion“. Die „Religion des Menschen“ zielt auf die Innerlichkeit und Moralität. Auf religiöse Institutionen kann damit gänzlich verzichtet werden. Hier taucht allerdings wieder das altbekannte Problem auf, dass niemand genau weiß, was der Einzelne daraus macht. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass dieser sich vom Staat entfremdet und die Moralität sich eben nicht an den Werten der staatlichen Gemeinschaft orientiert. Dieses Problem lässt sich jedoch relativ einfach lösen. Die „Religion des Bürgers“ besteht aus einer Reihe von Lehrsätzen und Kulthandlungen, die einzig und alleine vom Staatsoberhaupt festgelegt werden. Damit verschwindet zwar das Problem der „Religion des Menschen“, gleichzeitig taucht allerdings ein völlig neues Problem auf. Die „Religion des Bürgers“ begründet und fördert kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Völkern. Die gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten dieser beiden „Religionen“ können jedoch mit der „Zivilreligion“ von vornherein überwunden werden. Alle Menschen sind in brüderlicher Liebe vereint und für das Vaterland bleibt auch noch genug Zuneigung übrig. Auf einen integrierenden übermächtigen Staat kann somit verzichtet werden. Dieser konnte die gemeinsamen Spielregeln des Miteinanders sowieso bestenfalls nur in den Köpfen verankern. Die „Zivilreligion“ verankert die Regeln der liberalen Demokratie nicht nur in den Köpfen, sondern vor allem auch in den Herzen der Bürger. Jeder Einzelne wird durch seine Liebe zum Garanten der wechselseitigen Integration. Die zur Umsetzung dieser ehernen Ideale ab 1789 entfachte blutige Metzelei und die erfindungsreich rückwärtsgewandte Selbstkrönung Napoleon Bonapartes (1769 bis 1821) im Jahr 1804 musste Jean-Jacques Rousseau nicht mehr miterleben. Wahrscheinlich hätte er sich in suizidaler Absicht seine Jute-Tasche über den Kopf gestülpt.

Ganz auf der Linie Jean-Jacques Rousseaus sieht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch Emile Durkheim den Zusammenhalt nur durch ein „soziales Band“ gewährleistet. Allerdings scheint der Einzelne nicht mehr ganz so gefährlich zu sein, wird sein Verhalten in der Gesellschaft doch von einem allgemeinen Kollektivbewusstsein bestimmt. Emile Durkheim ging es auch nicht um eine politische, sondern vielmehr um die „soziale Integration“ und Religion ist nun einmal der „Inbegriff des Sozialen“. Die sozialmoralische Gesellschaftsgrundlage ist durch den „Kult des Individuums“ gegeben. Dabei müssen zwei grundsätzliche Arten des Individualismus unterschieden werden. Der Egozentrismus, wie er heute vielfach mit der Individualisierung in Verbindung gebracht wird, ist damit gerade nicht gemeint. Es gibt vielmehr einen Ansatz, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt, ohne dass eine destruktive und anarchistische Ellenbogen-Mentalität befürchtet werden müsste. Wie bei Immanuel Kant (1724 bis 1804) bildet sich hier im Individuum die gesamte Menschheit ab. Das zugrunde liegende Ideal geht dabei soweit über die Nutzenfrage des Utilitarismus hinaus, dass diese Orientierung am Individuum und gleichzeitig an der gesamten Menschheit gefühltermaßen nur religiös sein kann. Denn das, was den Einzelnen antreibt, ist nicht Egoismus, sondern eine tief empfundene Sympathie mit der ganzen Menschheit. Dem Menschen kommt in dieser Religion also eine Doppelrolle zu. Er ist nicht nur Gläubiger, sondern gleichzeitig auch Gott. Damit dies auch zweifelsfrei funktioniert, wird der Mensch bei Emile Durkheim in zwei Naturen gespalten. Auf der einen Seite ist er als individuelles Wesen ein Organismus. Auf der anderen Seite ist er als gesellschaftliches Wesen eine Persönlichkeit. Den einen Kritikern fehlt hier eine Vermittlungsinstanz. Sie denken beispielsweise, in Anlehnung an Sigmund Freud, an eine zu berücksichtigende Ich-Identität. Andere sehen in der „Sakralität der Person“ zwar verhindert, dass sich das egozentrische Individuum selbst sakralisiert, damit sei jedoch noch nicht bewiesen, dass diese Heiligkeit auf den Menschen selbst und nicht auf einen Gott zurückgeht.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor greift die Verknüpfung zwischen dem Festhalten an Gott und der Zugehörigkeit zum Staat auf und bezeichnet dies als „durkheimianisch“. Er unterscheidet dabei eine „paläo-durkheimianische“, eine „neo-durkheimianische“ und eine „post-durkheimianische“ Phase.

Mit „paläo-durkheimianisch“ bezeichnet er das Gefühl einer Abhängigkeit des Staates von Gott. Durch diese Verbindung ist die Gesellschaft praktisch deckungsgleich mit der Zugehörigkeit zur Kirche. Obwohl dem Namen nach anscheinend bereits überwunden, findet sich dieses Verständnis auch heute beispielsweise noch in einigen katholischen Gemeinden des Schwarzwalds.

Das „neo-durkheimianische“ Verständnis ist etwas freier. Gott ist alleine schon deshalb allgegenwärtig, weil sich die Organisation der Gesellschaft letztlich doch an nichts anderem als dem göttlichen Plan orientiert. Welcher Konfession man letztlich beitritt, bleibt völlig der freien Wahl des Einzelnen überlassen. Erwartet wird jedoch, dass man auf jeden Fall einer Konfession beitritt, weil sich daraus wiederum die Integration in das politische Gemeinwesen herleitet. Das Verständnis von „Kirche“ ist hier zwar umfassender und weniger greifbar, bezeichnet werden soll jedoch auch nicht weniger als das ganze Volk Gottes. Die US-Amerikaner sind nicht nur das Musterbeispiel dieser Auffassung, sie zeigen der Welt auch eindrucksvoll, was es heißt, der göttlichen Vorsehung gemäß aufzutreten. Es kann jedoch nur dringend davon abgeraten werden, dieses Verständnis auch in den eben bereits erwähnten katholischen Gemeinden praktizieren zu wollen. Dort gehören jedenfalls seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648) schon die Protestanten zu den gesellschaftlich Geächteten. Ganz zu schweigen von anderen Religionen oder den Menschen, die mit Charles Taylor glauben, heute in der „post-durkheimianischen“ Phase zu leben.

Unter diesen Vorzeichen hat die gesellschaftliche oder politische Loyalität gänzlich nichts mehr mit dem Sakralen zu tun. Die entsprechend frei wählbare Religion muss nunmehr allerdings nach individuellen Maßstäben auf Sinnhaftigkeit überprüft werden. Das ist eindeutig eine der anstrengendsten Bedingung bei allen verschiedenen Religionsverständnissen überhaupt. Dieses „eigene Verständnis“ muss nämlich im Zuge einer spirituellen Entwicklung erst geschaffen werden.

Fraglich ist hier also, ob sich wirklich jemand diese Last auferlegt und zudem auch noch mit einem nicht vorgeschriebenen Personenkreis in einen konstruktiven Austausch tritt. Kommt letztlich vielleicht doch die Systemtheorie zur einzigen richtigen Schlussfolgerung? Nach deren Erkenntnis geht von Religion keinerlei integrative Kraft aus. Ausgerechnet ein pluralistischer Ansatz eines Zeitgenossen von Emile Durkheim kommt diesbezüglich jedoch zu einem überraschend positiven Ergebnis.

Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 bis 1918) geht davon aus, dass soziale Gruppen rein zufällig und aus verschiedensten Elementen entstehen. Genau genommen bestehen diese Kreise nur in der jeweiligen Trägerschaft der einzelnen Mitglieder. Die Individualität jedes Einzelnen besteht wiederum aus der Mitgliedschaft in den verschiedensten Kreisen. Die jeweilige Zusammengehörigkeit kann sich aus feststehenden Eigenschaften, beispielsweise Jahrgangsclique oder Frauenverein, oder aus wählbaren Merkmalen, beispielsweise Sportclub oder Umweltschutzgruppe, ergeben. In der modernen Kultur sind genügend derartige Kreise vorhanden, um für jeden Einzelnen die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund kann nun festgestellt werden, dass die Religion ihren gesellschaftlich zentralen Stellenwert eindeutig verloren hat. Umso bemerkenswerter ist es jedoch, dass diese, trotz unendlich vieler anderer Möglichkeiten, immer noch eine eigene Interessensphäre begründet. Nach Alexander-Kenneth Nagel gleicht der Ansatz von Georg Simmel der „Religion des Menschen“ von Jean-Jacques Rousseau. Allerdings sieht Georg Simmel bei jedem Individuum eine angeborene Integrationsfähigkeit. Damit fallen die negativen Begleiterscheinungen der „Religion des Menschen“ weg und die Religion ist einfach ein weiterer von vielen sozialen Kreisen, die die Gesellschaft stabilisieren. Eine zunehmende Komplexität und die absolute Freiheit der Individuen führen also nicht grundsätzlich zu einem gesellschaftlichen Zerfall, ganz im Gegenteil.

Diesem Grundkanon folgend, verzichten heutige Demokratietheorien weitestgehend auf die Einbeziehung der Religion. So liege dem gesellschaftlichen Miteinander zwar ein Minimalkonsens zugrunde, nach Michael Minkenberg und Ulrich Willems wird allerdings bewusst offen gelassen, wo dieser Konsens herrührt. Die hierfür angeführten Werte wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Mitbestimmung sind bezüglich ihres Ursprungs also grundsätzlich nicht festgelegt. Sie lassen sich sowohl als säkulare Werte, wie auch als christliche, jüdische oder sonstige religiöse Werte verstehen. Damit bleibt zwar ebenfalls offen, ob diese Werte aus heterogenen Kontexten und Hintergrundüberzeugungen heraus inhaltlich ähnlich verstanden werden. In ihren elementarsten Lebensbedürfnissen sind sich die Menschen jedoch letztlich ähnlicher, als man aus manchen konflikttaktisch generierten Gegnerschaften vielleicht annehmen könnte. Damit stellt sich aber die weiterführende Frage, was die Individualisierung für die Religion selbst bedeutet.

Primär betroffen ist hier allerdings gar nicht die Religion, vielmehr geraten die Kirchen in Bedrängnis. An deren unverzichtbarer Notwendigkeit wird jedoch schon seit Langem gezweifelt. Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842 bis 1910) warnt sogar davor, Religion über die Kirchen zu definieren. Für ihn stehen individuelle, lebendige religiöse Erfahrungen, Gefühle und Handlungen im Mittelpunkt. Diese werden, in Abgrenzung zu anderen Erlebnissen, dadurch zur Religion, dass sie, in einem Rahmen völliger Abgeschiedenheit, von der jeweiligen Person als in Beziehung zum Göttlichen angesehen werden. Er nennt dies die Erfahrung der Selbsttranszendenz. Der Selbstbezug, teilweise sogar in der Form einer Fixierung auf das Selbst, wird dabei völlig überwunden. Diese Erfahrung reißt die ergriffene Person buchstäblich über ihre eigenen Grenzen hinaus. Das darauf aufbauende religiöse Leben wird zwar von dieser Erfahrung abgeleitet und kann durchaus im Rahmen einer kirchlichen Gemeinschaft stattfinden. Die Kirchen spielen aber nur eine sekundäre Rolle. Greifen diese nämlich die erfahrbare individuelle Inspiration auf, um sie zu vermitteln und weiterzutragen, bleibt von dem einstigen Hochgefühl häufig nicht mehr viel übrig. Der statt diesem vermittelte graue Abklatsch könne jedoch nicht wirklich jemanden hinter dem Ofen vorholen. Tatsächlich verhaltensbestimmend sind nach William James nicht die rationalen, rechtfertigenden und definitorischen Formulierungen, wie sie von den Kirchen präsentiert werden, sondern das reale Erleben. Nicht der Kopf und der Intellektualismus, sondern das Herz soll entsprechend für die Religion leitend sein.

Ausdrücklich nicht aus der bereits mehrfach erwähnten Region stammt die Kritik, als Protestant komme William James über seinen Individualismus nicht hinaus. Als Abtrünnigem blieben ihm natürlich unweigerlich auch die Segnungen des Katholizismus fremd. In der römisch-katholischen Gemeinschaft gehe nämlich ein Mitbruder auch dann nicht leer aus, wenn er bisher noch kein reales Erlebnis haben durfte. Selbst wenn also auf dem Weg der kirchlich institutionalisierten Weitergabe etwas verloren ginge, sei dies immer noch mehr, als überhaupt keine religiöse Erfahrung gemacht zu haben. Einige Kritiker meinen sogar, dass es ohne eine vorherige Schulung des Glaubens gar nicht zu einem individuellen Kontakt mit dem Dreifaltigen kommen könne. Dieser gebe sich mit Vorliebe durch die Gemeinschaft derer zu erkennen, die nach seinen Geboten leben. Die dafür notwendige Kenntnis des kanonischen Rechts und des entsprechenden Fachvokabulars könne sich niemand im Alleingang aneignen. Folglich sei nur mit klerikalem Beistand die selbsttranszendente Erfahrung möglich, Freude, Zweifel und Leid vor Gott darbringen zu können und seiner Hilfe teilhaftig zu werden.

An dieser Stelle muss die Religionsdefinition von Emile Durkheim vervollständigt werden. So blieben bisher vor allem die Aspekte unberücksichtigt, die er aus seiner Beobachtung des Totemismus bei Ureinwohnern ableitete. Religion ist hiernach zunächst ein von heiligen Überzeugungen, Praktiken und Dingen geprägtes solidarisches System mit einer besonderen Autorität. Die Heiligkeit begründet sich daraus, dass es sich dabei nicht nur um abgesonderte, sondern teilweise auch verbotene Aktivitäten handelt. Vorschnell könnte man hier an den kollektiven Drogenkonsum bei weihrauchgeschwängerten katholischen Messen denken. Emile Durkheim schwebt bei seiner Betrachtung von Religion aber nicht ein Götterglaube oder etwas Übernatürliches vor. Er zieht seine Schlussfolgerungen zwar aus der Beobachtung des Totemismus. Als Ursprung des Heiligen identifiziert er aber nicht irgendwelche mythischen Gestalten aus dem Dies- oder Jenseits, auch die charakteristische Verehrung von Tieren und Pflanzen fallen als Ursprung weg. Wie William James stellt er vielmehr auf eine reale Erfahrung ab. Bei ihm geht es allerdings nicht um eine simple individuelle, sondern um eine gemeinschaftliche Ekstaseerfahrung. Als „kollektive Efferveszenz“ bezeichnet er das Erleben des Selbstverlusts bei gleichzeitiger Wahrnehmung einer außerordentlichen Kraft, die die Anwesenden mit- und in eine andere Welt hinüberreißt. In der rückblickenden Deutung erschiene es zu profan, dies als bloße Wechselwirkung der Anwesenden zu deuten. Also müssen am Ort der Versammlung zur gleichen Zeit auch übernatürliche Mächte anwesend gewesen sein. Hilfsweise lässt sich dies in einem Fußballstadion oder bei einem Rockkonzert ausprobieren.

Diese Ekstase lässt sich augenscheinlich allerdings relativ einfach auch ohne die Anwesenheit von anderen herbeiführen. Die Technik stammt zwar wieder einmal aus dem Islam, scheint aber durchaus auch breiter anwendbar zu sein. So tanzt sich der Derwisch, ein islamischer Bettelmönch, durch ständiges Drehen ebenfalls in Ekstase. Eventuelle Risiken und Nebenwirkungen sollten sicherheitshalber allerdings vor einem Selbstversuch abgeklärt werden.

Kann man sich auf diese Art und Weise einfach seine individuelle Religion zusammenbasteln? Kann man also je nach eigenem Geschmack die gefallenden Bestandteile aufgreifen und andere, die unangenehm erscheinen, weglassen? Genau das verstehen viele Menschen in der heutigen Zeit unter Religion. Während diese für den Einzelnen ungebrochen bedeutsam bleibt, verlieren religiöse Institutionen an Einfluss. Als Orientierungshilfe und Ideengeber bleiben sie jedoch weiterhin hoch im Kurs. Nach Allensbacher Erkenntnissen ist die Religion nach der Jahrtausendwende auch nicht aus der Erziehung verschwunden. Fest in einer Glaubensgemeinschaft verwurzelte Eltern halten diese Bindung in unsicheren Zeiten ohnehin für unverzichtbar. Aber selbst Kinder aus nicht verankerten Elternhäusern werden an einen offenen Umgang mit Religion herangeführt. Den Nörglern geht es dabei zu sehr um handlungsorientierte Inhalte und zu wenig um religiöse Werte. Dass sich die Menschen nicht einfach komplett aus dem Religiösen zurückziehen, reicht ihnen nicht. Dabei ist für die Glaubenspraxis, so William James, zunächst ausschlaggebend, dass man sich zum Glauben entscheidet. Diese Offenheit ist der Schlüssel für ein religionstypisches Begreifen und den charakteristischen Beistand. Die wenigsten verstehen sich allerdings als unwürdige Diener Gottes, die seine Forderungen gemäß der Offenbarung zu erfüllen haben. Entgegen der apokalyptischen Prophezeiung und zum Leidwesen der Amtskirche finden sie in ihren privaten Praxisvariationen dennoch den gesuchten Halt.

Mit dem kleinsten theologischen Unterbau kommt seit jeher das Gebet aus. Dieses Zwiegespräch stille nach William James das Verlangen nach einem idealen Gegenüber, das unter den Mitmenschen jedoch vergeblich gesucht werde. Die Liturgie, der rituelle Handlungsvollzug der heiligen Messe, ist dagegen nur mit entsprechendem Rüstzeug tiefer zu durchdringen. Ob nun bis ins theologische Detail verstanden oder als „primitives heiliges Ritual“, jedenfalls zeigt sich empirisch, dass auch der Kirchgang für viele Menschen wieder an Bedeutung gewinnt. Als „Auslöser“ konnten verschiedene Lebensereignisse ausgemacht werden. So steigt die Kirchganghäufigkeit beispielsweise, wenn die Menschen heiraten, wenn sie Kinder im schulpflichtigen Alter haben, wenn der Partner stirbt oder wenn sie in den Ruhestand treten. Der gemeinschaftliche Aspekt ist im Zuge der Individualisierung also nicht verschwunden. Sie steht allerdings auch für selbstgebastelte Glaubensformen und Wanderungen durch verschiedene Religionen.

Die Fachwelt scheidet sich angesichts dessen nicht nur an der Notwendigkeit korrigierenden Eingreifens, sondern auch an der besten Ausgangslage. So vertritt eine Richtung die Auffassung, dass sich eine Kirche umso besser durchsetzen könne, je größer ihre rechtlichen und finanziellen Vorteile seien. Ein verbissener Ableger behauptet sogar, dass eine Pluralisierung von religiösen Traditionen zu einer wechselseitigen Relativierung und Unterminierung des jeweiligen Wahrheitsanspruchs führe. Dagegen helfe nur ein aktiv herzustellendes Umfeld aus gleichgelagerten religiösen Überzeugungen. In die genau entgegengesetzte Richtung geht ein Ansatz, der die wirtschaftspolitische Seite unterstreicht und die besten Überlebenschancen auf einem freien Markt des Religiösen sieht. Der Konkurrenzkampf zwischen gleichberechtigten Anbietern erhöhe nicht nur die Mobilisierungsfähigkeit religiöser Gemeinschaften, von einem nachfrageorientierten Eigeninteresse angetrieben, steige auch die Qualität des Angebotes. Anders als bei den Homogenisierungstheoretikern belebe die Pluralisierung nicht nur das Geschäft, sie gewährleiste auch, dass jeder das für ihn passende Produkt findet. Der Gläubige wählt nach dieser Vorstellung also nach rationalen Kriterien die für ihn richtige Religion aus.

Der spirituelle Lebensbereich der Menschen dürfte sich dagegen nicht auf die zwei Alternativen Bevormundung oder marktförmige Bedürfnisbefriedigung nach wirtschaftlichen Kalkülen beschränken. Schließlich geht es hier um die Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes, die an Bedeutung sogar wieder gewonnen haben. Die Kirchen sollten es, so der deutsche Soziologe Hans Joas, in ihrem eigenen Interesse jedenfalls tunlichst unterlassen, sich der moralischen Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung der Menschen entgegenzustellen. Diese suchen in der Religion Antworten auf ihre spezifischen Fragen und keinen Lehrgang über die kirchliche Weltanschauung oder deren Vorstellungen zum Intimleben. Auch ein Dauerabonnement oder eine Clubmitgliedschaft wird eher in den selteneren Fällen wirklich gewünscht. Nach empirischen Erkenntnissen wirkt es auf die Gläubigen entsprechend befremdlich, wenn sie ein zu enges Verhältnis zwischen staatlichem und kirchlichem Handeln ausmachen.

Die Kirchen mögen sich unter Umständen nur schwer damit abfinden, den Gläubigen nicht mit akademisch anspruchsvollen, strikt einzuhaltenden Glaubensverpflichtungen zu begegnen. Wenn sie ihr einstiges Deutungsvorrecht jedoch nicht engstirnig zu verteidigen suchen, besteht auch und gerade im Zuge der Individualisierung kein Grund zum Pessimismus. Die bewusste aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben, der eben nicht als alleingültige Wahrheit daherkommt, dürfte zu einer tieferen Überzeugung führen als eine angeborene und erduldete Mitgliedschaft. Die erzwungene Konformität früherer Tage war, wie Charles Taylor bemerkt, jedenfalls ein fruchtbarer Boden für eine gefühlsarme, vorgetäuschte Gläubigkeit, die sich auch im Klerus häufig auf Machtinteressen beschränkte.

Ein genereller Verfall der Religion lässt sich also nicht ausmachen. Die zunehmende Nichtbeachtung der ehemals erzwungenen Konformität spricht eher für eine Stärkung der religiösen Gemeinschaften. Woher kommt also die heute augenscheinlich an Zustimmung gewinnende Auffassung des Verfalls der Gesellschaft? Sind gesellschaftliche Werte wirklich nicht attraktiv genug, um sie ohne Zwang als Orientierung zu wählen? Die um sich greifende Angst vor der religiös motivierten Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung darf hier ergänzend also nicht unterschlagen werden. Eine Unterscheidung zwischen einzelnen Weltanschauungen ist hier offensichtlich nicht mehr notwendig, denn radikale Gruppierungen finden sich in so gut wie jeder Glaubensrichtung. Diese fundamentalistischen Bewegungen haben wiederum eines gemeinsam, sie versprechen die Unübersichtlichkeiten und Widersprüchlichkeiten der heutigen Zeit aufzulösen. Der diesbezügliche Lösungsweg ist so alt wie einfach und stammt in einer harmloseren Variante ursprünglich eigentlich aus dem Judentum - ein Sündenbock muss her. Der diesbezüglichen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nur eines muss unter allen Umständen vermieden werden, in der Gruppe der erklärten Schuldigen noch die Menschen zu sehen. Genau hier scheint häufig auch die Grenze zwischen der Gesinnung von Selbstmordattentätern und einfachen Integrationsdebattierern zu verschwimmen. So manche Integrationsdebatte lässt jedenfalls von den Menschen, über die im Zuge dessen hergezogen wird, nicht mehr viel übrig.

Eine Forschergruppe verrät, dass es hierbei definitiv nicht um die vielbeschworene Anpassung und die Ablegung von unüberbrückbaren Differenzen geht. Bei der Suche danach, wann jemand als „deutsch“ bezeichnet wird, zeigte sich empirisch zunächst schon kein Unterschied zwischen einem französischen und einem türkischen Herkunftsbezug. Ginge es also wirklich um kulturelle Unterschiede, so sind diese zur „französischen Kultur“ sicherlich nicht identisch mit denen zur „türkischen Kultur“. Bemüht sich zudem auch noch jemand aktiv, sich tatsächlich an die „deutsche Kultur“ anzupassen, erreicht er bezüglich der Aufnahmebereitschaft das genaue Gegenteil. Obwohl von den friedliebenden Deutschen einstimmig gefordert, lösen derartige Bemühungen eher Skepsis aus und die Wahrscheinlichkeit sinkt drastisch, dass diese Person als zugehörig eingestuft wird. Integrationsbemühungen kann man sich vor diesem Hintergrund also sparen.

Passt man eigentlich selbst in unsere demokratische, diskurs- und beteiligungsorientierte Gesellschaft, wenn man die freundlichen Menschen wieder wegschickt, die an der Haustür lediglich offen über Gott sprechen wollten? Wer darf denn nun wen mit welcher Weltanschauung behelligen?

Diese Frage führt abschließend interessanterweise zu einem sehr vertrauten Kreis von Mitmenschen. Die jährlichen Feiertage, die traditionell die Familien in einem erweiterten Rahmen zusammenbringen, sind stets aufschlussreiche Ereignisse bezüglich der geteilten Werte, der gemeinsamen Weltdeutung und Weltanschauung. Von einer schlichten wechselseitigen Behelligung kann hier allerdings in manchen Fällen nicht mehr gesprochen werden. Teilweise wird sogar von der Notwendigkeit polizeilichen Eingreifens berichtet - obwohl es dabei ursprünglich um Feste mit friedvollem Hintergrund ging. Ganz zu schweigen von mehr oder weniger traurigen Familienfeierlichkeiten mit anschließender Erbauseinandersetzung.

INDIVIDUUM

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