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Der Verfall des Verfalls oder Vom Schein zum Sein
ОглавлениеWas ist aus dem Verfall nur geworden? Zu Beginn der Betrachtung wurde das nahende Ende als einzige verbliebene Gewissheit unserer Zeit identifiziert. Es sind zwar ohne jeden Zweifel Veränderungen innerhalb der Familie, der Arbeit und der Religion auszumachen, auf einen eindeutigen, sauberen Untergang weist dieser Wandel jedoch nicht hin.
Lässt sich denn wenigstens das Ende der Normalität beweinen? Selbige gewährleistete in früheren Tagen, dass nicht jedes Zusammentreffen mit den Mitmenschen die Frage aufwarf, ob man im Leben alles richtig macht.
Die erste Personengruppe, die diese Normalität augenscheinlich zerstört hat, sind die Eltern. Der eigene Nachwuchs war an Schönheit noch nie zu übertreffen. Die fremden Bälger zudem als rückständig zu outen, scheint allerdings besonders befriedigend zu sein. Im Wettlauf um die ersten Schritte, die ersten Worte und natürlich die ersten Fremdsprachenkenntnisse gibt es angeblich immer weniger Kinder, die nicht wissen, wie das Behandlungszimmer eines Therapeuten aussieht. Wenn sie lieber spielen als lernen, liegt offensichtlich eine Konzentrationsstörung vor. Sprösslinge, die dagegen einem Buch mehr abgewinnen können als ihren tobenden Altersgenossen, leiden zweifelsfrei an Depressionen, wenn nicht sogar an Autismus. Die Auffälligkeiten könnten auch für eine verkannte Hochbegabung sprechen. Nach einem Untersuchungsmarathon stellen viele Eltern erleichtert fest, dass sie tatsächlich einen Fehler zu verantworten haben. Sie hatten sich von Wichtigtuern verunsichern lassen, die ihren eigenen Kindern nur dann etwas abgewinnen können, wenn sich diese zur Herabwürdigung anderer Eltern eignen. Einigen Berichten zufolge kehrt mit der Erkenntnis, dass das eigene Kind doch normal zu sein scheint, auch wieder Zufriedenheit und Ruhe in die Familie ein. Eine Abartigkeit im Leben der Heranwachsenden darf hier nicht unterschlagen werden. So stehen die Phantasien der Sittenwächter in keinem Verhältnis zur zügel- und grenzenlosen Sexualität der Jugendlichen: Nicht Orgien, sondern die ausufernd romantische Suche nach Geborgenheit und Liebe bestimmen deren Welt - Skandal!
Was diese Jugendlichen wahrscheinlich nicht mehr erleben werden, ist eine Normalität, in der die wahre Liebe nur durch den Tod geschieden werden kann. Bei dieser Trennung, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, wird von einem natürlichen Dahinscheiden ausgegangen. Alles andere wäre in einer Welt, in der das konfliktfreie Zusammenleben standesamtlich besiegelt und beurkundet ist, ohnehin undenkbar. Mit der Unterschrift des Beamten war die neumodische Frage, ob sich die Partner auf Dauer möglicherweise in ihrer Entwicklung hemmen, abschließend beantwortet. Beim sonntäglichen Spaziergang konnte sich die ganze Welt von der ordnungsgemäßen Harmonie überzeugen. Die Eheschließung beendete für den glücklichen Mann die anstrengende Zeit, in der er auf ein gutes Benehmen und auf sein Äußeres achten musste. Streitigkeiten gab es von Rechts wegen ebenso wenig wie Vergewaltigungen in der Ehe oder häusliche Gewalt. Die Frauen waren früher noch froh, dass die Männer ihnen gesetzlich verordnet die Entscheidung abnahmen, an welchem Verkehr sie teilzunehmen haben. Nur renitente Fälle muteten ihren Gatten zu, die nationale Sicherheit mit dem Gürtel verteidigen zu müssen. Heute schwer vorstellbar, aber dadurch gab es damals auch keine gesellschaftlichen Katastrophen wie Frauen im Straßenverkehr oder im Berufsleben. Die Männer konnten ihrer schweren Arbeit nachgehen und mussten sich nicht um die Entwicklung von elektronischen Einparkhilfen oder um die Einrichtung eines betrieblichen Kindergartens kümmern. Wer hat bei dieser verlorenen Normalität keine Tränen in den Augen?
Auch in der Arbeitswelt waren die Fronten eindeutig geklärt. Die resultierenden Vorteile erstreckten sich über das ganze Leben bis hin zu den politischen Parteien. Niemand musste erklären, wo oder wer die Mitte sei - man war links oder rechts, oben oder unten. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft war ebenso in die Wiege gelegt wie die Beamten- oder Akademikerlaufbahn. Stellenbeschreibungen waren gänzlich überflüssig. Jeder wusste, was er zu tun hatte - im Zweifel einfach gehorchen. Zeiterfassung war ein Instrument zur Produktionssteigerung und nicht ein gesetzlicher Zwang, nach Hause gehen zu müssen. Der Gesundheitszustand der Arbeiter spielte allenfalls für die Nachrücker vor den Fabriktoren eine Rolle. Hierarchien wurden weder zu Motivationszielen umgedeutet noch mussten sie auf der Firmenhomepage als nicht existent gepriesen werden. Sie waren Gottes Ordnung auf Erden. Die Bekleidung lieferte die entsprechenden Informationen für den untertänigen oder herablassenden Auftritt und war keine Angelegenheit des Geschmacks. Modische Wechsel von Schnitten und Farben waren ebenso unbekannt wie die lästigen Schwankungen zwischen „in“ und „out“. Repräsentative Hülle und stolzer Träger waren auf Lebenszeit mit dem zugewiesenen Stand verwoben. Entsprechend kam auch niemand auf die irrsinnige Idee, dass ein Arbeiterkind die Intelligenz für einen höheren Bildungabschluss mitbringen könnte oder dass es einem Akademikerkind daran mangelt. Neuere Studien zum Hochschulzugang belegen immerhin noch Spuren dieser Ordnung. Damals war selbst den Frauen klar, dass sie mit ihrem kleineren Gehirnvolumen in Wirtschaft und Politik nicht mithalten können. Vermeintliche Zusammenhänge von Intelligenz und Rasse waren noch nie besonders lustig, müssen nunmehr jedoch selbst von Überzeugungstätern als „statistische“ Späßchen verharmlost werden. Wer weint angesichts dieser Ruinen nicht bitterlich?
Die Welt der Religion war unter normalen Verhältnissen einfach und überschaubar. Der Geburtsort verband sich mit der Gnade des richtigen Glaubens. Um „andere Weltanschauungen“ kümmerten sich Exorzisten. Von wegen gesellschaftlicher Reichtum durch Vielfalt. Wer nicht den gleichen Glauben teilte, war kein Kind Gottes und durch die Vereinigung mit dunklen Mächten auch kein Mensch. Schon damals hatte man verstanden, was heute wieder befürchtet wird. Mehrere Wahrheiten nebeneinander sind für den Einzelnen einfach nicht möglich. Dessen Schädel droht zu platzen, wenn er sich vergegenwärtigen müsste, dass auch andere Weltdeutungen möglich sind. Damit war auch der Dialog der Religionen unproblematisch. Ohne adäquaten Gesprächspartner blieb nur die Bekehrung der Ungläubigen und Sünder hin zum Menschsein. In den meisten Fällen zeigte man sich allerdings großzügig. So wurde die tatsächliche Überzeugung nicht immer überprüft, das Bekenntnis und die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst reichte völlig aus. Jeder hatte nicht nur seinen festen gesellschaftlichen Platz, auch die Zukunft war mit der jenseitigen Vergeltung der diesseitigen Lasten vorherbestimmt. Der gefestigte Glaube zeigte sich für den einfachen Gläubigen entsprechend durch Leidensfähigkeit und Geduld. Ein Kirchenaustritt war völlig undenkbar und kam dem gesellschaftlichen Suizid gleich. Die Exkommunikation war entsprechend noch ein gefürchtetes Mittel zur Demutserzeugung. Wer von den Sterbesakramenten und einem kirchlichen Begräbnis ausgeschlossen war, konnte auch nicht mehr am katholischen „Payback-System“ teilnehmen. Streng genommen begründet das Sakrament der Taufe eine unauflösbare Gemeinschaft zwischen Täufling und Gott. Wie ein aktueller Blick in die bereits erwähnten katholischen Gemeinden zeigt, liegt auf der Eigenverantwortlichkeit allerdings ein besonderes Gewicht. Kann ein Säugling mit seinem frühzeitigen Ableben die rituelle Aufnahme in den Schoß der Mutterkirche nämlich nicht abwarten, stirbt er ohne je ein Kind Gottes geworden zu sein. Die „Unschuldsvermutung“ gilt generell nur für die Heilige Jungfrau Maria. Angst und Demut, dafür aber einen klaren Kopf und keine Konfrontation mit Fremdem - wen trifft dieser Verlust nicht mitten ins Herz?
Eine Orientierung an diesen Normalitätsvorstellungen kollidiert zunehmend mit dem Freiheitsstreben derer, auf deren Kosten diese Ordnung aufgebaut war. Aber reißt dies wirklich gleich die ganze Welt aus ihrer Verankerung? Die „Welt“ bestand schon immer aus Widersprüchen. Diese Koexistenz wurde jedoch lange Zeit durch wechselseitige Nichtbeachtung oder durch eine verächtliche Herabwürdigung mehr oder weniger ausgeblendet. Es ist einfacher, Toleranz zu üben, wenn gewährleistet wird, dass man nicht mit den „tolerierten“ Weltauffassungen konfrontiert wird. Die „friedliche Koexistenz von Widersprüchen“ in der Weltgesellschaft endet aber nicht damit, dass man sie nach alter Manier einfach nur auf Fähnchen schreibt. Im Zuge der Globalisierung verlieren alte Gestaltungsmonopole ihre Wirksamkeit. Die einzelnen Staaten können nicht mehr ohne schwerwiegendste Folgen als Repräsentanten und Garanten vorsortierter Verhältnisse schalten und walten. Neben diesen treten neue gestaltende Akteure mit jeweils unterschiedlichsten Interessenlagen und Machtausstattungen in einem neuen Kooperationsgefüge gegen- und miteinander an. Die alte Einteilungslogik nach „Eigenem“ und „Fremdem“ und die vielfach einhergehende Wahrung der „eigenen“ Interessen auf Kosten der „anderen“ ist in einer Welt überbrückter geographischer und sozialer Entfernungen nicht mehr möglich. Entscheidungen entfalten in und aus aller Welt Wechselwirkungen, die Berücksichtigung verlangen. Der Einzelne wird dadurch zunächst unweigerlich mit einer „neuen“ Unübersichtlichkeit konfrontiert.
Mit einer hip inszenierten Imagevorlage ist, trotz garantiertem Applaus, bei dieser Gemengelage erst recht kein Land mehr in Sicht. Wer auf bewährtem Boden stehen bleiben will, muss sich auch aktiv und engagiert mit diesem befassen. Die Angehörigkeit qua Geburt ist nicht mehr der Abschluss, sondern der Beginn von Familien- und Gemeinschaftsbildung. Anschauungen und Beziehungen verlieren damit in erster Linie ihren Charakter der Unumstößlichkeit. Dadurch ändert sich auch das Verständnis von Gesellschaft. Diese kann nicht mehr als statischer und klar abgegrenzter Rahmen für die in ihr lebenden Gemeinschaften verstanden werden. Gesellschaft bezeichnet unter diesen Vorzeichen vielmehr den Prozess wechselseitiger Auseinandersetzung und wechselseitigen Austausches. Die einhergehende Wählbarkeit der Beziehungen ist entsprechend auch nicht gleichbedeutend mit einer Bindungslosigkeit. In vielen Bereichen des Lebens ändern sich lediglich die Formen des wechselseitigen Umgangs - genauer, die Art und Weise der einhergehenden Konsequenzen. In allen gesellschaftlichen Feldern hing die Entscheidung, ob eine Beziehung eher oberflächlich oder tiefgründiger geführt wird, schon immer von den Beteiligten selbst ab. Allerdings war vielfach der Ausweg für die leidtragende Seite nicht bzw. nur unter übelsten Bedingungen gegeben.
Den Menschen und ihren Institutionen wird erstaunlicherweise jedoch grundsätzlich meist relativ wenig bis gar nichts zugetraut. Die entsprechenden Beschreibungen füllen ganze Bibliotheken. Sie handeln vom Verschwinden der „Familie“ durch die neue Wählbarkeit und vom Vergessen der eigenen Herkunft und Tradition durch die Eröffnung eines Fastfood-Restaurants. Die Menschen lassen sich aber größtenteils nicht einfach von irgendwelchen Einflüssen überrollen. Die Möglichkeiten der vermeintlichen wirtschaftlichen Homogenisierer beginnen und enden mit der Bereitschaft, deren Angebot anzunehmen oder es abzulehnen. Auch kulturelle Besonderheiten bestehen oder verfallen nicht einfach aus heiterem Himmel. Deren traditionsbewusste Pflege und Weitergabe hängt nicht von internationalen Konzernen, sondern von jedem Einzelnen ab. Was richtig oder falsch, erhaltenswert oder überflüssig ist, ließ sich noch nie an der Anzahl der Vertreter ablesen. Die Vereinheitlichungstendenzen der Globalisierung treffen hier gerade nicht auf einen desinteressierten Spielball irgendwelcher Mächte. Die Individualisierung geht mit einem räumlich erweiterten Orientierungsrahmen einher, der die Errungenschaften der ganzen Menschheit in den Blick nimmt. Im Zuge dessen lässt sich nicht zuletzt auch die eigene Herkunftskultur besser verstehen. Die als sinnvoll angesehenen Überlieferungen werden weitergetragen, andere nicht. Sollen die teilweise durchaus bedauerlichen Nebenwirkungen vermieden werden, muss lediglich abwartend zugelassen werden, dass der tiefere Sinn von Demokratie und Menschenrechten in Vergessenheit gerät.
Sucht man einen allgemeingültigen Rahmen für gesellschaftliches Denken und Handeln, bleibt nur die Weltgesellschaft. Das bedeutet allerdings nicht, dass unter der Akzeptanz aller in ihr vertretenen Auffassungen überhaupt nichts mehr gilt. Vielmehr bietet die Weltgesellschaft zunächst schlicht ein vielfältiges Angebot an Deutungen, Auffassungen und Orientierungen. Damit bleibt niemand mehr alleine, wenn die im engeren Umfeld vertretenen Antworten die individuellen Fragen nicht befriedigend lösen können. Weltvergesellschaftung wäre bis zu diesem Punkt also die Nutzung eines an Vielfalt gewinnenden Angebots. Befänden wir uns in der Kolonialzeit, wäre mit dem einhergehenden Wohlstandsgewinn der Sachverhalt größtenteils geklärt. Es finden sich teilweise auch durchaus Bestrebungen, die die Freiheit des allgemeinen Marktes nach diesen VIP-Denkmustern verstanden wissen wollen. Ob die entsprechenden Zutrittskarten nun gefälscht sind oder nicht, die Mitgliederzahl im Club der relevanten Akteure ist sprunghaft angestiegen. Eine Verschärfung der Mitgliedschaftskriterien nach bisheriger Logik mit anschließender Abstimmung würde unter den neuen Zahlenverhältnissen sehr wahrscheinlich zum Ausschluss der Alt-Mitglieder führen. Es ist also angeraten, im eigenen Interesse die alte geographische und soziale Ausgrenzungslogik hinter sich zu lassen. Die neue Ordnung ist jedoch nicht, wie vielfach geunkt, „keine Ordnung“. Ohne die altbekannte grobe Vorsortierung kann vielfach erst zum Vorschein kommen, dass Gleichgesinnte und Mitstreiter für die eigene Sache buchstäblich global zu finden sind.
Allerdings scheint schon das Wörtchen „global“ nicht primär alte Ketten, sondern in erster Linie die Vorstellungskraft zu sprengen. Man könne zwar unter dem Vorzeichen der Gleichzeitigkeit global kommunizieren, es sei aber nicht möglich, so ein verängstigter Philosoph, im Globalen zu wohnen. Wie wohnt man denn nicht im Globalen? Eine Stadt wird auch nicht dadurch bewohnt, dass sich jemand gleichzeitig in allen Wohnungen, allen Häusern oder allen Stadtvierteln aufhält. In einer solchen zu wohnen verlangt auch nicht, alle Angebote zur selben Zeit nutzen zu müssen. Man bewohnt diese auch nicht, indem man grundsätzlich alles und jeden kennt oder jederzeit über alles und jeden informiert ist. Niemand könnte alle physischen, psychischen, intellektuellen und sonstigen Wechselwirkungen innerhalb einer Stadt - zwischen den Bürgern, den Behörden, der Wirtschaft, der Umwelt etc. - auch nur ansatzweise aufzählen. Trotzdem würde niemand ernsthaft bezweifeln, dass man in einer Stadt wohnen kann. Wer behauptet im Ausland nicht, dass er sogar „gleichzeitig“ in einem ganzen Land lebt?
Genau besehen kann man nicht nicht im Globalen wohnen. Jede einzelne Entscheidung findet in diesem Rahmen statt und entfaltet hier auch ihre Wirkung. Während die Berücksichtigung der Folgewirkungen ehemals auf einen geographischen Raum begrenzt war, sorgen nunmehr staatliche und zivilgesellschaftliche, inklusive wirtschaftlicher Akteure aus allen Teilen und Ebenen der Welt dafür, dass dergleichen zumindest nicht mehr unbehelligt geschieht. Im Zuge dessen entwickeln sich in der Weltgesellschaft sogar Unterstützungsmechanismen, die man ursprünglich nur in einem rechtsstaatlichen oder sozialstaatlichen Rahmen als möglich erachtet hatte. Hoheitliche Zwangsmaßnahmen stehen zwar nach wie vor nur den Staaten zu. Die Wirkung weicherer Druckmittel darf jedoch nicht unterschätzt werden. So ist es zunehmend unmöglich, beispielsweise massiv gegen die Menschenrechte zu verstoßen, ohne dass sich diese Praxis in einer enormen Geschwindigkeit durch die Netzwerkarrangements verbreitet. Wird ein börsennotiertes Unternehmen auch nur indirekt mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht, steht mit dem Imageschaden nicht selten die Hälfte seines Gesamtwertes auf dem Spiel. Derart unmittelbare Konsequenzen haben Staaten mit eigenwilliger Menschenrechtsauffassung nicht unbedingt zu befürchten. Die Behauptung, dass deren „großzügige“ Regulierungen für Firmen unwiderstehlich sind, übersieht, dass eine fehlende Rechtssicherheit selbst für Kapitalisten keine besonders fruchtbare Planungsgrundlage darstellt. Entsprechend finden sich Beispiele dafür, dass die Unternehmen im eigenen Interesse die Stärkung bzw. Einführung von Rechts- und Sozialstandards vorantreiben. Auch finanzielle Unterstützungsmaßnahmen kommen ohne jeglichen Zwang aus allen Bereichen der Zivilgesellschaft. Hinter diesen Beispielen verbirgt sich jedoch nicht nur der beruhigende Teil der Weltvergesellschaftung, sondern auch eine teilweise unbequeme und anstrengende Aufgabe für jeden Einzelnen.
Nun muss sich nicht jeder Einzelne „gleichzeitig“ auf den Weg machen, die ganze Welt zu retten. Es kann sich jedoch niemand darauf zurückziehen, dass er nicht im Globalen wohnen würde oder nur ein unbedeutender Teil desselben sei. Derartige Formen der Passivität gibt es in der Weltgesellschaft nicht. Die grundsätzliche Freiheit der Wahl beinhaltet letztlich eine Eigenverantwortlichkeit, die sich nicht mehr nur auf die direkten und unmittelbaren Folgen für das Selbst beschränkt. In der Praxis ist die resultierende Aufgabe gar nicht so schwer. Sie besteht nämlich nicht darin, die Schuld der Welt auf seine Schultern zu laden und überwältigt zu kapitulieren. Bemerkenswertes ist schon erreicht, wenn die sich beiläufig eingeschlichene Gedankenlosigkeit reduziert wird. Eine anschauliche Konkretisierung findet sich beispielsweise im Prinzip der CO2-Rechner. Niemand verursacht und verantwortet im Einzelnen einen Klimawandel. Ein Hin und Her von Schuldzuweisungen half jedoch ebenfalls noch nie weiter. Jeder kann sich nun aber vergegenwärtigen, wo sein Beitrag zur Umweltverschmutzung liegt und findet vielleicht sogar Möglichkeiten, diesen zu kompensieren.
Die aktive und eigenverantwortliche Wahl aus der Fülle der Möglichkeiten im Rahmen der Weltgesellschaft verlangt von niemandem mehr, als die tagtäglichen Entscheidungen etwas bewusster zu fällen. Selbstverständlichkeiten sind nicht verschwunden, sondern geben auch heute noch Halt und Orientierung. Enthaltene Neuschöpfungen sind nicht weniger nachvollziehbar als bewährte Traditionen. Einseitige Forderungen lassen sich allerdings nicht mehr einfach in sie hineininterpretieren. In diesem Sinn sind sie nunmehr das, worauf sich alle Beteiligten selbst verständigt haben. „Weltbewusstheit“ sprengt also nicht den Denkapparat. Sie relativiert lediglich das „unumstößlich Richtige“ und befreit das Dasein damit von einer vermeintlichen Alternativlosigkeit. Genau darin besteht im Kern das Potential für die zwischenmenschlichen Beziehungen aus der Verbindung von Globalisierung und Individualisierung. Die Globalisierung reist Grenzen nieder. In vielen Bereichen zeigt sich dadurch, dass die Interessen der vorher kategorisch getrennten Menschen gar nicht so unterschiedlich sind. In anderen Bereichen zeigen sich wiederum Alternativen und Anregungen, die vorher unbesehen ausgeschlossen wurden. Die Individualisierung geht zunächst mit der Einsicht einher, dass die gemeinnützige Vorsortierung für den Einzelnen nicht unbedingt die „richtigen“ Möglichkeiten übrig lässt. Damit ist nicht gesagt, dass in der Geburtsgemeinschaft grundsätzlich keine Erfüllung zu finden ist. Es wird auch niemand aus dieser herausgerissen. Im besten Fall erfährt die traditionelle Lebensform sogar eine Aufwertung, weil sich ihre Mitglieder bewusst füreinander entschieden haben. Dieser positive „Wahleffekt“ setzt alternative Lebensformen voraus, die eine Gegenüberstellung von Vor- und Nachteilen erlauben. Selbige stellen also nicht nur für diejenigen eine Bereicherung dar, die ihr Glück unter den bisherigen Verhältnissen noch nicht gefunden hatten.
Der schwierige Teil besteht jedoch nicht darin, sich mit den „neuen“ Möglichkeiten auseinanderzusetzen und die Alternativen abzuwägen. Größte Probleme haben die Menschen offensichtlich damit, sich festzulegen. Ein absicherndes Ausprobieren ist nur selten möglich. Es gibt immer etwas zu verpassen. Darunter sind auch Möglichkeiten, die vielleicht erfolgsversprechender, wichtiger oder nur interessanter gewesen wären. Wer sich allerdings nicht entscheidet oder seinem Ergebnis nicht traut, versäumt alles. In Restaurants lässt sich das anschaulich beobachten, wenn jedes Gericht, das an anderen Tischen serviert wird, offensichtlich den Genuss am gewählten Menü in Frage stellt und letztlich unmöglich macht.
Entscheiden zu müssen ist zweifellos eine Zumutung. Jedem einzelnen wird zugemutet, Fehler zu machen. Diese sind jedoch die wesentlichen Bestandteile des Weges, der nicht selten erst rückblickend als der „richtige“ bezeichnet wird. Ist es also wirklich eine wünschenswerte Alternative, diese anstrengende Freiheit wieder aufzugeben und zu dem früheren Verständnis von Sicherheit und Geborgenheit zurückzukehren? Zurück in eine Welt, in der mehr Wert auf die konforme Fassade als auf die Eigenschaften und Bedürfnisse der Mitmenschen gelegt wurde? Übersichtlichkeit zum Preis der Selbstverleugnung?
Die Hoffnung, dass sich die weltweite Verständigung im Zuge der Globalisierung verbessern würde, hatte schon einmal deutlich mehr Anhänger. Neben der breit geteilten Meinung, die Globalisierung diene nur den Wohlhabenden, findet sich in weiten Teilen der Bevölkerung allerdings auch eine Alltagsgestaltung, die deutlich auf den Vorteilen der Weltgesellschaft aufbaut. Bildung spielt bei der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung sicherlich eine wesentliche Rolle. Allerdings enden viele Ansätze bei dieser Allerweltserkenntnis und vernachlässigen dabei einen nicht unbedingt neuen Aspekt. Die objektivierbaren Fähigkeiten sind relativ wenig wert, wenn sie nicht von der Überzeugung begleitet werden, dass man „wirksam“ ist. Diese individuelle Selbstwirksamkeitserwartung, dass man eine Aufgabe oder Rolle auch erfolgreich bewältigen kann, ist wiederum nur auf den Feldern ausschlaggebend, die als beeinfluss- und veränderbar wahrgenommen werden. In vielen Bereichen kann die diesbezügliche Einschätzung jedoch nicht auf eigenen Erfahrungen beruhen. Bereits das Handeln politischer und rechtlicher Institutionen auf nationaler Ebene muss überwiegend medienvermittelt eingeschätzt werden. Dies gilt erst recht bei supranationalen Organisationen wie der Europäischen Union oder internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen mit ihren unzähligen Unterorganisationen und Gremien. Wenn es selbst ausgewiesenen Experten schwerfällt, den Überblick zu behalten, ist es nicht unbedingt verwunderlich, dass Laien dieses Feld nach Möglichkeit meiden. Die undurchsichtiger gewordenen Strukturen deuten jedoch weder auf eine abnehmende Zuverlässigkeit noch auf einen nahenden Kollaps hin. Diese sind vielmehr der zunehmenden Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Akteure geschuldet, die sich der historisch einzigartigen Gestaltbarkeit aller Lebensbereiche widmen.
Skandale und Katastrophen erregen zwar Aufmerksamkeit, mobilisieren aber nicht unbedingt Unterstützung für diese gestalterische Aufgabe. Der Anblick von Leid erzeugt in erster Linie kein Mitgefühl, sondern Distanz. Wird dagegen die Arbeit der engagierten Helfer gezeigt, fühlen sich die Beobachter, wie die psychologische Forschungsgruppe um Simone Schnall kürzlich belegte, zur Nachahmung animiert. Dieser Antrieb geht dann sogar weit über das Feld hinaus, aus dem die ursprünglichen Eindrücke stammen. Motivierende Beispiele finden sich vom nachbarschaftlichen Nahbereich bis hin zu den Vereinten Nationen. Unspektakulär und deshalb meist unbemerkt arbeiten tagtäglich unzählige Freiwillige an der Berücksichtigung der Belange ihrer Mitmenschen. Mit der Überzeugung, etwas verändern zu können, trotzen diese Helden des Alltags mit kleinsten Schritten den größten Schwierigkeiten und Rückschlägen. Beharrlich gegen die Resignation ankämpfend, gelingt am Ende nicht selten das angeblich Unmögliche.
Hier zeigen sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine soziale Identifikation, die ebenfalls jenseits des bislang denkbaren liegen. Die Hintergründe für eine Selbstverortung in der alle Menschen umfassenden Weltgesellschaft sind wissenschaftlich zwar noch nicht untersucht. Vergleicht man die eben beschriebenen Aspekte jedoch mit Erkenntnissen aus der Organisations- und Personalpsychologie, scheint eindeutig klar zu sein, was diese Menschen antreibt - eine bemerkenswerte Selbstwirksamkeitserwartung.
Wer dagegen unentwegt davon überzeugt wird, dass er gegen die gnadenlose internationale Konkurrenz nicht einen Hauch von einer Chance hat, wird sich mit den mitmenschlichen Lebensumständen erfahrungsgemäß als Letztes befassen. Es scheint folglich wenig zweckmäßig zu sein, die Individuen einander näher bringen zu wollen, indem jeder als möglicherweise Bedürftiger von morgen dargestellt wird. Weltvergesellschaftung setzt dagegen vielmehr auf die Stärken und Potentiale, die jeder Einzelne in seiner individuellen Weise hat. Sie bietet die Möglichkeiten, diese auszuprobieren und zu verwirklichen. Selbstverwirklichung im Zuge einer entsprechenden Individualisierung meint also nicht das Anhäufen von Statussymbolen. Vielmehr umschreibt sie die individuelle Auseinandersetzung mit den je eigenen Stärken und Schwächen. Diese eigentliche Form der Selbstverwirklichung erfolgt nicht nur nach gänzlich individuellen Maßstäben, sie führt, wie Abraham Maslow schon in den 1950er-Jahren bemerkte, zu einer tief empfundenen Verbundenheit mit sich und der gesamten Menschheit.
Die vorherrschende Verunsicherung und Angst hat mit den Menschen aus fremden Ländern und Kulturkreisen offensichtlich wenig bis gar nichts zu tun. In allen durchwanderten Bereichen waren jedoch die selbsternannten „Berater“ aus den eigenen Reihen anzutreffen, die ungefragt das Leben und die Entscheidungen ihrer Mitmenschen beschlechtachten. Wenn deren provozierte Panik völlig unerwartet zu einer „Rette-sich-wer-kann-Haltung“ führt, haben die Untergangspropheten wenigstens ein neues Szenario. Dabei erwies es sich quer durch die Betrachtung als lohnenswert, den Risiken und Chancen der heutigen Zeit mit etwas mehr Zuversicht und Mut zu begegnen. Damit schließt sich der Kreis zu den eingangs erwähnten Visionären mit einem zwar allgemein bekannten, aber gerade im Zweifelsfall eher selten beherzigten Zitat des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan (1938 bis 2018):
„Die Welt besteht aus Optimisten und Pessimisten. Letztlich liegen beide falsch. Aber der Optimist lebt glücklicher.“