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Zwei entscheidende Prozesse

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Die wirtschaftliche Skrupellosigkeit reißt im Zuge der Globalisierung ungehindert die Weltherrschaft an sich, vernichtet die identitätsstiftenden kulturellen Besonderheiten und schert sich einen Dreck um die Bedürfnisse der einfachen Menschen.

Durch die Individualisierung zudem bestialisch auseinandergetrieben, bleibt den vereinzelten Gesellschaftsmitgliedern, in ihrer obligatorischen Traditionsarmut, nur der rücksichtslos befriedigte Konsumrausch.

Den hier versammelten Essays liegt entsprechend die Erkenntnis zugrunde, dass sich der Weg, hin zu einem fruchtbaren Miteinander in der Weltgesellschaft der Individuen, aus der Verbindung dieser beiden zerstörerischen Prozesse ergibt.

Diese auf den ersten Blick ebenso unplausible wie unkonventionelle Sichtweise ergibt sich aus einem Analysekonzept, das im Rahmen der Arbeit „Globalisierung - bleibt das Individuum auf der Strecke?“ entwickelt worden ist. Es orientiert sich schlicht an den hier einleitend prägnant zugespitzten Befürchtungen. So simpel die resultierende Gliederung ist, vermag sie dennoch, der allseits bemängelten zunehmenden Unübersichtlichkeit ein gutes Stück entgegenzuwirken.

Unter der Leitfrage, womit der Einzelne durch die Globalisierung genau konfrontiert ist, beginnt die Betrachtung mit der Suche nach den gestaltenden Akteuren. Da deren Handeln typischerweise jenseits alter Raumvorstellungen angesiedelt ist, muss der Detektor anschließend auf vereinheitlichende Eingriffe in die kulturelle Unabhängigkeit eingestellt werden. Ergänzend ist im Fortgang nach Anhaltspunkten für eine Weltgesellschaft Ausschau zu halten. Während ein Teil der Sozialwissenschaften diese zum letztverbliebenen Handlungsrahmen erklärt, bestreitet ein anderer alleine schon die Möglichkeit einer solchen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die weiterführende Frage, woran sich der individualisierte Mensch eigentlich orientiert. Bei der Suche nach Einbindungsformen drängt sich zunächst eine strikte Abgrenzung zwischen einem unreflektierten Nachahmen von Individualitätsmustern und der eigentlichen Individualisierung auf. Dieser Spur folgend, erscheint selbst der kränkelnde Umgang mit Überlieferungen in einem aufschlussreichen Licht. Letztlich wirken sich die Eigenschaften des individualisierten Kompasses auch auf das ewige Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Belangen und persönlicher Selbstverwirklichung aus.

Für das Gesamtbild können die Ergebnisse der für beide Prozesse jeweils dreigliedrigen Vorgehensweise zu einem, hier exemplarisch skizzierten, Zopf verflochten werden. Ausgehend von den betrachteten Akteuren, bricht die Globalisierung mit den zuvor als unumstößlich geltenden Ordnungsstrukturen und Gestaltungsmonopolen. Auf der Weltbühne ringen bei Weitem nicht mehr nur juristische und natürliche Personen mit Rang und Namen um ihre jeweiligen Interessen.

Die sortierende Auseinandersetzung mit der einhergehenden Vielfalt ist ein wesentlicher Bestandteil der im Rahmen der Individualisierung an Umfang zugelegten Eigenverantwortlichkeit. Während frühere Einbindungsformen ein desinteressiertes, passives Mitschwimmen ermöglichten, sind mit diesem Verhalten bei der heutigen Strömungslage heftige Turbulenzen zu erwarten. Der Verlust von Selbstverständlichkeiten mutet jedem Einzelnen zu, sich seinen Lebensthemen und Beziehungen bewusst zuzuwenden und diese aktiv zu pflegen.

Der globalisierte Einheitsbrei bleibt nicht zuletzt deshalb aus, weil sich die Attraktivität des lokal Bekannten nicht in der einst konstruierten Alternativlosigkeit erschöpft. Zudem fördert ein wechselseitiger Lern- und Austauschprozess zutage, dass die Kerninteressen der Menschheit in etlichen Bereichen gar nicht derart weit auseinander liegen. Der gegenteilige Eindruck wurde im Rahmen der Nationenbildung abgrenzend bewusst herbeigeführt und findet sich bis heute im Dienst einer örtlich begrenzten Solidaritätserzeugung.

Das Ideal eines passiven Untertans liegt denn auch der Diagnose einer vermeintlich individualisierungsbedingten Verachtung von Traditionen zugrunde. Hier findet sich jedoch vielmehr ein ebenso fundierter wie kritischer Umgang mit dem kulturellen Erbe, der sich durch eine räumliche Offenheit auszeichnet und der von einem individuellen Verantwortungsbewusstsein getragen ist.

Dieses globale Verantwortungsgefühl zeigt sich gerade bei der zivilgesellschaftlichen Beteiligung. Beginnend beispielsweise beim individuellen Verzicht auf klimabelastende Annehmlichkeiten, ist den Unternehmen alleine schon aus rein wirtschaftlichen Erwägungen heraus an der Verbreitung rechtsstaatlicher Prinzipien gelegen. Und selbst bei der Fortentwicklung des Völkerrechts sind die Beamten des auswärtigen Dienstes nicht mehr unter sich. Mit der veränderten inter-nationalen Kooperation wird auch die Staatsangehörigkeit zur Ausgangsbasis für die weltgesellschaftliche Mehrebeneneinbindung jedes Einzelnen - als Gemeinde-, Landes-, Bundes-, Unions- und Weltbürger.

Seine persönliche Entfaltung in der Auseinandersetzung mit den Belangen und dem Facettenreichtum der ganzen Menschheit suchend, kann sich der selbstverwirklichte Mensch offensichtlich nicht passiv fordernd hinter einer Teilgruppierung verstecken. Die zugrunde liegende Haltung lässt sich durch den Unterschied zwischen Nationalgefühl und Verfassungspatriotismus dahingehend konkretisieren, dass auch „fremde“ Weltdeutungen nicht seelenlosen Kollektiven, sondern Mitmenschen zugeschrieben werden. Wenn eigene Beschwernisse entsprechend als wertvoller Beitrag für das globale Miteinander und nicht als Niederlage gewertet werden, erklärt sich daraus die vermeintlich widersprüchliche Verbindung aus aktivem Einsatz für die Weltgesellschaft und individuellem Genuss.

In der Gesamtschau erweist sich die Globalisierung als Prozess, der das Korsett aus „Selbstverständlichkeiten“ aufbricht und jeden Einzelnen mit einer überwältigenden Vielfalt konfrontiert. Selbige eigenverantwortlich zu durchdringen, sich dabei der Besonderheiten des Eigenen bewusst zu werden und diese im fruchtbaren Austausch lebendig zu halten, stellt den Kern der Individualisierung dar und qualifiziert diese als Gegenstück zur Globalisierung.

Bedauerlicherweise steht jeder noch so schönen Theorie die Praxis entgegen. Ein theoriekonformes positives Meinungsbild zu den beiden Prozessen lässt sich nur dann präsentieren, so die überdeutlichen Hinweise aus der breiten Bevölkerung, wenn sich die Stichprobenziehung auf die Villenviertel dieser Welt beschränkt. Damit werden jedoch nicht nur die gestalterischen Möglichkeiten, sondern auch die unzähligen tatsächlichen Aktivitäten derjenigen unterschätzt, die nicht zu den Spitzenverdienern gehören.

Jedem Vorhaben, ob mit oder ohne erkennbarem Globalisierungsbezug, sind bereits unzählige standardisierte Hindernisse gratis beigegeben. Diese reichen von den schwerwiegenden Folgen der grundsätzlich nicht optimalen Kindheit, über die generell vorliegende unsichere Finanzausstattung bis zur ständig ungünstigen politischen Weltlage. Die allgemeinen Vorzeichen deuten überwiegend darauf hin, den individuellen Vorstoß besser gleich bleiben zu lassen. Verfestigt sich der Eindruck zermürbender Machtlosigkeit, tendieren die Bewältigungsstrategien erwiesenermaßen zum Selbstschutz. Die Belange der Mitmenschen werden unter diesen Bedingungen weitestgehend ausgeblendet. In penetranten Fällen wird die Gefahr jeglicher Empathie einfach durch die Abwertung betroffener Personenkreise vermieden. Die eigene Opferrolle lässt jedenfalls eine Selbstsicht als verantwortlicher Teil der Weltgesellschaft nicht zu.

Auf der konstruktiven Seite müssen dagegen alle noch so kleinen Mosaiksteinchen mühsam selbst zusammengetragen werden. Um die jeweiligen Umstände betrachtend in deren Wesensbestandteile zerlegen zu können, muss zunächst das entsprechende Wissen vorliegen. Mit dem Bildungselement kann auf der Seite der allgemeinen „Verwirklichungschancen“ zwar bereits ein Plus verbucht werden, als nächstes tritt jedoch ein störanfälliges Wechselspiel mit psychischen Puzzleteilen in den Vordergrund. So lassen sich konkrete Veränderungsmöglichkeiten nur dann deutlich erkennen, wenn der Betrachter zugleich davon überzeugt ist, mit seinen Fähigkeiten die angestrebten Effekte auch erfolgreich herbeiführen zu können. In Anlehnung an den kanadischen Psychologen Albert Bandura nährt sich diese entscheidende Kombination aus objektivem Können und subjektiver „Selbstwirksamkeitserwartung“ nicht nur aus dem eigenen Erleben, sondern auch aus der inspirierenden Beobachtung anderer oder aus mitmenschlichem Zuspruch. Bei einer stichprobenartigen Gepäckkontrolle wurde motivierenderweise entdeckt, dass der erspähte eigene Einfluss prinzipiell ein gesteigertes Selbstvertrauen und eine widrigkeitentrotzende Tapferkeit mit sich führt.

Derart vorteilhafte Persönlichkeitsmerkmale beschränken sich folglich nicht auf einen prädestinierten Personenkreis. Wenn sich diese Eigenschaften nach empirischen Befunden stärkend beeinflussen lassen, ist allerdings auch die Kehrseite dieser Medaille zu berücksichtigen. Über zeitliche Belastungsgrenzen der psychischen Puffer ist noch wenig bekannt. Andauernde Angriffe auf Beteiligungsformen und Lebensqualität einer Person werden aufgrund ihrer früher oder später auftretenden zermürbenden Wirkung jedoch nicht umsonst als Psychoterror bezeichnet. Die subtilere Schwarzmalerei wird verkannterweise dagegen dem Realismus zugerechnet.

Zugegebenermaßen liegt es auf der Hand, dass Individualisierungsbefürworter mit dem prognostizierten Verfall von Familie, Arbeit und Religion nicht aus der Ruhe zu bringen sind. Aber weshalb stoßen die Untergangspropheten in diesen Halt und Orientierung bietenden Lebensbereichen nicht allgemein auf mehr Widerspruch?

Wer eine paradoxe Vielfalt mag, wird die lagergeprägten Bestandsaufnahmen aus der Familienforschung lieben. In ihnen spiegeln sich die unterschiedlichsten Vorstellungen zum Aussehen und Funktionieren des familialen Zusammenlebens wider. Die entsprechende Bandbreite an gesellschaftlichen Erwartungen stellt Frauen, Männer und Kinder buchstäblich auf eine Zerreißprobe. Der makellose Grundaufbau der naturbelassenen Normalfamilie aus Vater, Mutter und leiblichem Nachwuchs lässt bis heute jede andere Form im Lichte mehr oder weniger problemgenerierenden Versagens erscheinen. Der partnerschaftliche und erzieherische Bruch wird selbst bei den verständnisvollen Varianten zum bezeichnenden Merkmal der ausgebesserten Familienform. Wie können ausgerechnet diese schmuddeligen Boten der sozialen Abwärtsspirale zu Leuchttürmen für das weltgesellschaftliche Miteinander werden?

In der international umkämpften Arbeitswelt sind tatsächlich nur noch die Ruinen einstiger Stabilität zu erkennen. Ohne das stützende Bild des flankierenden Heimchens, der stupide kopierenden Asiaten und der faulen Drittweltler lässt sich nicht einmal mehr auf Anhieb beantworten, was richtige Arbeit eigentlich ausmacht. Ist mit dem Verlust der Strukturen, die am männlichen Leistungsträger orientiert waren, der Irrweg im Erwerbsleben vorprogrammiert? Hätte man auch ohne die Consultants bemerken müssen, dass auf dem Arbeitsmarkt wirklich alle außer der erworbenen Fähigkeiten gefragt sind?

Noch weit Schlimmeres lässt der Blick auf die Welt der Barmherzigkeit erwarten. Von Rationalisierung und Säkularisierung anscheinend unbeeindruckt, treffen hier die Vorstellungen zum richtigen Weg bekanntermaßen mit voller Grausamkeit aufeinander. Ist zwischenzeitlich wenigstens einwandfrei geklärt, welche Interpretation der göttlichen Nächstenliebe mit demokratischen Grundwerten vereinbar ist? Wieso landet die Suche nach der Weltauffassung, die den respektlosesten Bekehrungseifer an den Tag legt, ausgerechnet bei den traditionell friedlichen Zusammenkünften der Verwandtschaft?

Genau besehen muss am Ende tatsächlich der Verfall der letzten verbliebenen Sicherheit verkündet werden. Der gesellschaftliche Untergang rückt mit dem Verschwinden der alten Normalität bedrohlich weit aus dem Blickfeld. Fraglich bleibt, ob die Schnappatmung bei den Schwarzsehern eher durch den Abschied von der liebgewonnenen Katastrophe oder aufgrund ihrer eigentümlichen Vorstellung vom Wohnen im Globalen ausgelöst wird. Ist Letzteres tatsächlich möglich, ohne dass die Konfrontation mit einer Unmenge verworrenster Sachverhalte den Schädel irgendwann zum Bersten bringt? Und was hat das eigene Zutrauen in die selbständige Urteilsfähigkeit mit der großen Weltgesellschaft zu tun?

Das Leben wäre bereits wesentlich einfacher, wenn die Mitmenschen höflicher wären und sich zu benehmen wüssten. Eigentlich müsste das breite, umsatzstarke Interesse an geschliffenen Umgangsformen und am gekonnten Auftritt bei Tisch das Zwischenmenschliche deutlich entlasten. Bevor die Freunde der Finsternis hier neuerliche Beweise für den gesellschaftlichen Niedergang wittern, sei umgehend auf den Zivilisationsprozess verwiesen. Die Tischsitten dienten auf dem Weg zum friedlichen Miteinander nicht unbedingt und nicht in erster Linie dem wechselseitigen Respekt. Die altehrwürdige Philosophie distanziert sich, angewidert vom unappetitlichen Ende der Geschichte, gleich komplett von allem, was auch nur im Entferntesten mit Nahrungsaufnahme zu tun hat. Wer naiverweise annimmt, die Wahl des Leibgerichts gehe ausschließlich auf sinnliche Erfahrungen zurück oder hinter der intensiven Beschäftigung mit Speisenfolge und Tafelmanieren stecke vornehmlich die Begeisterung am Formvollendeten, übersieht die unritterlichen Motive der speziellen Parteigänger des Freiherrn Knigge. Jedes kleine Detail lässt sich vorzüglich auch in einem selbstherrlichen Gemetzel um den höheren kulturellen Status einsetzen. Stünde es den Jüngern der Ikone der Umgangsformen nicht besser zu Gesicht, den im Hauptwerk enthaltenen Hinweisen auf die abstoßende Wirkung eines derart unedlen Gebarens die gebotene Aufmerksamkeit zu verschaffen?

Auf der öffentlichen Bühne des Restaurants lassen sich die pointiert zur Geltung kommenden Gesinnungsunterschiede lehrreich beobachten. Der Gast von Knigges Gnaden zeigt sich in seinem Rollenspiel als Gebieter der zivilisierten Welt. Die taktvoll auf ihn ausgerichtete, bemerkenswert harmonische Choreographie kann seinen Ansprüchen ohnehin nicht genügen. Für die Lakaienrolle des Gegenübers nicht vorgesehen, kann auch Fachwissen und handwerkliches Geschick das vernichtende Urteil nicht abwenden. Unbesehen zielt die Machtdemonstration direkt auf die Hinrichtung der ihrer Rolle öffentlich entkleideten Privatperson. Hat diese verstaubte Trennung von öffentlichem und privatem Lebensbereich nicht sowieso längst ausgedient? Werden die hochherrschaftlichen Kreise nicht seit jeher für ihre rücksichtslose Selbstdarstellung bewundert? Ist ein Genuss, der die Kontrolle weitestgehend auf die Zeremonienmeister überträgt, ohne die Neigung zur Unterwürfigkeit überhaupt möglich?

Auf der Seite des gastronomischen Partners lässt sich bisweilen ebenfalls eine taktlose Rollengestaltung beobachten. Was einst selbst Majestäten zu erfüllen vermochte, ist einer Servicekraft von Knigges Gnaden absolut unwürdig. Mit dienstbereitem Sachverstand und zuvorkommender Höflichkeit ist dem Gast nicht zu vermitteln, dass er den zukünftigen Manager des Hauses vor sich hat. Ein verächtlicher Auftritt lässt dagegen, trotz unwürdiger Durchgangsstation, diesbezüglich keinerlei Zweifel aufkommen. Zeigt sich Persönlichkeitsstärke wirklich durch schamlose Dreistigkeit im Rahmen einer ungezügelt aufdringlichen Selbstdarstellung? Weshalb finden sich unbestreitbare Merkmale charakterlicher Größe dann gerade in Verbindung mit einem Serviceverständnis, dem unauffällig vorausschauend kein Wunsch entgeht? Werden diese sogenannten weichen Fähigkeiten heutzutage nicht ohnehin von jedermann gefordert? Was könnte das heutige Heer ziviler Diplomaten schon von den hintergründigen Feinheiten eines imperialistisch klingenden amerikanischen, englischen, französischen oder russischen Service lernen?

Die gebotene Erwiderung von Höflichkeiten scheint vor allem dann auszubleiben, wenn sich das Gegenüber durch die gezeigte Ehrerbietung in einer herausragend gesellschaftlichen Position wähnt. Klärt sich diese Merkwürdigkeit mit dem Sachverhalt, dass selbst ausgewiesene Experten die Umgangsformen zu schmückendem Beiwerk degradieren und deren moralischen Hintergrund übersehen? Wäre die entsprechende innere Motivation nicht sogar geeignet, in der Weltgesellschaft der Individuen das Konfliktpotential aus den unterschiedlichsten Vorstellungen zum gebotenen Umgang zu minimieren? Münden die Empfehlungen des Freiherrn Knigge etwa deshalb bereits in den Auftrag, sich eine ehrbare, gefestigte Persönlichkeit zuzulegen, weil sich die Unwägbarkeiten des Miteinanders gar nicht wesentlich verändert haben?

Die außerordentliche Hilfsbereitschaft bei den heiklen Fragen des Lebens ist dagegen eindeutig neueren Datums. Als brüskierend distanziert und zugeknöpft gilt, wer weder in Geldangelegenheiten noch zum Sexualleben einen offenherzig bereichernden Erfahrungsaustausch mit jedermann zu pflegen wünscht. Dabei ist es unbestreitbar ein Gebot der Nächstenliebe, der um sich greifenden Orientierungslosigkeit entgegenzuwirken. Die bedauernswertesten Fälle erkennen in geistiger Isolation nicht einmal mehr die gravierenden Mängel, die jegliche Zufriedenheit als unbegründet entlarven.

Das Geldwesen, durch psychopathische Egomanen im Ruf beschädigt, gehört zum Sozialsten, was die Menschheit je hervorgebracht hat. Dessen gesamte sinnstiftende Existenz steht und fällt mit dem umfänglich geteilten Wertverständnis und der wechselseitigen Bezogenheit des jeweiligen Handelns. Verliert auch nur ein verirrtes Glied das Interesse am universellen Tauschobjekt oder lässt gar die Gemeinschaft durch Konsumverweigerung über den möglichen Einsatz seines gefährlichen Arsenals im Dunkeln, bedroht diese Ignoranz den gesamten Weltfrieden. Ein erfülltes Dasein ist motivierende Zielsetzung und gemeinschaftliches Horrorszenario in einem. Geht es den Freunden bedingungsloser Transparenz etwa doch nicht darum, die Mitmenschen zu verstehen? Kann das Mitgefühl die Konfrontation mit selbstsicherer Glückseligkeit nicht ertragen? Gibt es im Umgang mit Geld nur zwei sich ausschließende Alternativen: gesellig oder vernünftig?

Entspannterweise schließt Intimität per Definition schon einmal alle unvertrauten Personen aus. Jede weitere Konkretisierung bleibt, sofern selbige entscheidungsfähig und freiwillig anwesend sind, den Beteiligten überlassen. Nach drei sexuellen Revolutionen lassen tiefenpsychologisch fundierte, politisch begründete oder praxiserprobte Handreichungen keine noch so ausgefallene Frage unbeantwortet. Umso erstaunlicher ist der Zweifel, der etliche Menschen aus ihrem romantischen Liebesnest an die Öffentlichkeit treibt. Mit der beinahe panischen Sorge, ob das praktizierte Verständnis der Normalität entspricht, gewähren sie bereitwillig Einblick in die Intimsphäre und liefern sich damit nicht selten der Beschlechtachtung zwielichtiger Moralapostel aus. Hat die Angst, etwas zu verpassen, das Verborgene um seinen Reiz gebracht? Verspricht die Abarbeitung externer Checklisten tatsächlich mehr Erfüllung als eine aufeinander konzentrierte Vertrautheit im Wechselspiel von Respekt und Eroberung? Und wie kommt es zu den überraschenderweise unerfüllten Sehnsüchten, die Forscher im vermeintlich sexuellen Eldorado entdeckten?

Selbständigkeit und Geheimniskrämerei gelten nicht zuletzt deshalb als gemeinschaftsschädigend, weil sie die Mitmenschen um die Möglichkeit bringen, einander zu helfen und aufeinander aufzupassen. Wenn mit Wohlstand und Fortpflanzung grundlegende Gemeinschaftsinteressen auf dem Spiel stehen, geht nichts über die akribischen Ermittlungen und den unkomplizierten Sachverstand der besorgten Nachbarschaft. Festgeschriebene Verfahren und umfangreiche Regelungen, die sachfremde Einflüsse, unfaire Vorgehensweisen, übergebührliche Beeinträchtigungen und Fehleinschätzungen bei der Wahrheitsfindung verhindern sollen, riechen dagegen förmlich nach hoheitlicher Bevormundung. Ist es dem friedlichen Miteinander nicht zuträglicher, diese herzlosen Bürokratiemonster beiseite zu lassen und sich stattdessen untereinander lückenlos bis ins letzte Detail zu kennen?

Auch ohne tiefschürfende Spionage ist allseits bekannt, dass sich nahezu jeder mehr Zeit wünscht. Kaum ein anzustrebendes Ziel wird derart einhellig geteilt, wie ein stressfreies Leben in harmonischem Einklang mit dem Kosmos. Die Hinterhältigkeit der Zeit beginnt jedoch bereits damit, jedem Grundansatz zum diesbezüglich richtigen Weg recht zu geben. Ob vorwärts oder rückwärts gerichtete Kreisläufe, vorbestimmte oder beeinflussbare Stränge, konstante oder variable Geschwindigkeit, Einbahnstraße oder Wendemöglichkeit, begrenzt oder offen, Tatsache oder Illusion - jede Vorstellung erfährt ihre offensichtliche Bestätigung.

Immerhin nimmt die Krone der Schöpfung mit ihrem scharfsinnig-detailreichen Wortschatz die einzigartige Position ein, sprachgewaltig über die Gegenwart hinaus in die phantastischen Sphären des Unbegreiflichen vordringen zu können. Die Zeit zeigt sich von dieser herausragenden Leistung allerdings wenig beeindruckt und gewährt demütigenderweise auch wortkargen Lebewesen planende Einblicke in die Zukunft. Selbst die seit Jahrtausenden betriebene Anstrengung, die Geheimnisse des Universums zu lüften und daraus den Kraftstoff für die urmenschliche Ausdauer zu gewinnen, wird mit zeitlichem Hohn vergütet. Je ambitionierter die Nutzbarmachung, desto widersprüchlicher sind die zutage tretenden Eigenschaften des ausbruchssicheren Kerkers. Am Ende geschieht vorher, was später verursacht wird und die simple Einigung zur „Gleichzeitigkeit“ ist ohne Mediator unmöglich.

Auf kurz oder lang gibt es sicherlich nichts, was die Menschheit nicht zu beherrschen weiß. Die mit vereinten Kräften entwickelte zeitliche Koordination mündet allerdings auffallend häufig darin, sich wechselseitig mit unglaublichen Geschichten, beängstigenden Vorhersagen, widernatürlichen Taktungen und niederschmetternden Beurteilungen zu drangsalieren. Schaukeln sich hier die disziplinierenden Maßnahmen aufgrund der „gegenwärtigen“ Eigentumsverhältnisse auf? Offensichtlich ist mit individualistischer Aufdringlichkeit, trotz angeberischer Beschämung der Zeitgenossen und selbstzentrierter Rücksichtsforderungen, ebenfalls kein stressfreies Dasein möglich. Liegt des Rätsels Lösung um die Zeit etwa in der unbescheidenen Kombination aus selbstbewusst wahrgenommener Eigenverantwortlichkeit und selbstloser Bewertung des entsprechenden Eingriffs in das universelle Geschehen?

Es wäre eine glatte Lüge, Globalisierung und Individualisierung als Förderer der Bequemlichkeit zu präsentieren. Mit den komplizierter werdenden Verhältnissen steigt in erster Linie die Angst um das „Eigene“. Unablässig auf der Hut sein zu müssen ist anstrengend und erschöpfend. Bei der tagtäglichen Überflutung mit Unvertrautem ist der Wunsch nachvollziehbar, die Schotten einfach dicht zu machen. Wer ahnt dabei schon, dass ein Leben voll Vertrauen und in offensichtlich geteiltem Einverständnis letztlich die weit gefährlichere Überraschung bereithält?

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