Читать книгу Arym Var - Dominik Michalke - Страница 4
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Es war stockfinster.
Die fünf Soldaten aktivierten die Pulslampen auf Gewehren und Helmen und tasteten die Umgebung damit ab. Außer dunkelgrauem zerfurchtem Gestein ringsum war nichts zu erkennen.
Foster wollte sich aus Gewohnheit an das Headset am rechten Ohr fassen bevor er sprach, aber der Helm seines Anzugs trennte es vom Vakuum.
»Alle bereit?« Die Kommunikationseinheit knisterte.
»Roger«, drang die Antwort synchron von vier Stimmen über das Team-Kom direkt in Fosters Helm.
»Waffen entsichern und los. Giebels, Murdoc, sie nehmen den östlichen Eingang in die Tiefe. Lanzett, Akriba, sie kommen mit mir.« Foster war es gewohnt, Befehle zu geben.
»Wäre es nicht sinnvoller, wenn wir zusammenbleiben würden, Sir?« fragte Murdoc. Seine Stimme klang unsicher.
Foster schnaubte. »Zweifeln sie daran, dass ich weiß was ich tue, Soldat?«
»Nein, Sir«, erwiderte Murdoc kurz.
»Dann halten sie gefälligst den Mund. Ab jetzt wird das Kom nur benutzt, wenn es etwas Wichtiges gibt. Los!«
Die Gruppe Soldaten spaltete sich auf. Sie befanden sich noch nahe der Oberfläche des Asteroiden. Von hier aus konnte man die zwei Höhleneingänge erkennen, die in die Finsternis führten wie schwarze Schlünde ins Nichts.
Murdoc hielt vor dem Eingang inne.
»Hast du Schiss, Kleiner?« spottete Giebels und lachte kurz auf, was sich durch Murdocs Kom wie das Wiehern eines Pferdes anhörte.
»Schwachsinn« erwiderte er unsicher und schritt in den beklemmend engen Durchgang, sein Neutronengewehr starr nach vorne gerichtet. Kleine Kieselsteine barsten unter Murdocs Stiefel zur Seite, doch er selbst hörte nichts, spürte sie nur. Der Cheops Mark IV Kampfpanzer der Karndalf-Kantongarde war wie eine zweite Haut, die sich um seinen Träger legte und ihn vollkommen gegenüber externen Einflüssen abschirmte – sogar gegen Hitze bis zu viertausend Grad und radioaktiver Strahlung. Dies führte auch zu absoluter Schalldichte. Doch selbst wenn Murdoc seine Außenmikrofone aktiviert gehabt hätte, wäre der Schall nie durch das Vakuum auf dem Asteroiden – einer von tausenden im Aaron-Schwarm – zum Helm von Murdoc durchgedrungen.
Dafür besaßen die Panzeranzüge weiterentwickelte visuelle Schnittstellen, die Umgebungsinformationen per Skin-Connector direkt auf der Netzhaut des Anzugbenutzers darstellten.
Murdoc schritt langsam voran und beleuchtete die Umgebung mit der Pulslampe auf seinem Neutronengewehr. Giebels betrat hinter ihm den Eingang.
»Wenn du Schiss kriegst, dann lass einfach Onkel Alfred vor«, grunzte Giebels und wieherte erneut kurz auf. »Ansonsten pass auf da vorne. Sie haben bestimmt wieder Brutwächter, diese elenden Zodiac-Sprösslinge. So wie beim letzten Trip auf dem stinkenden Kleipp-Asteroiden. Richtig widerliche Dinger, und greifen immer von der Seite an, wo man nicht darauf gefasst ist. Ja, ja, die Anzüge sind die stabilsten der ganzen Kantongarde. Aber verlass dich mal nicht zu sehr drauf. Ein kleiner Riss in der Membran und – schwupp! –verabschiedet sich der Sauerstoff. Und dann heißet es ‚Leb wohl, Papi! Ich flieg jetzt zum Mann im Mond!‘« Giebels wieherte, als hätte er den Witz des Jahrhunderts gemacht. Bei ‚Leb wohl, Papi! Ich fliege jetzt zum Mann im Mond!‘ verstellte er seine Stimme zu der eines Kindes, was sich durch Murdocs Kom lächerlich anhörte.
Der Karndalf-Soldat verdrehte lediglich die Augen, was Alfred Giebels nicht sehen konnte, da er hinter ihm stand. Murdoc konnte Giebels nicht ausstehen. Ohne sich beirren zu lassen schritt er langsam voran.
»Wofür braucht Dr. Adelfing diesen Fötus überhaupt?« fragte er.
»Was bist du? Ein beschissener Journalist oder Soldat? Du weißt was unsere Zielsetzung ist. Keine Fragen – Mission ausführen.« Giebels schmatzte, als hätte er einen Kaugummi im Mund, was unter derartigen Umständen strikt verboten gewesen wäre.
Murdoc schwieg.
Nach einiger Zeit und weiteren spöttischen Anmerkungen von Giebels machte der Durchgang eine leichte Linkskurve und wurde breiter, bis er schließlich in eine größere Auswölbung mündete. Der Ort erinnerte an den der Startposition des Teams und hatte lediglich etwas kleinere Ausmaße.
Giebels kam hinter Murdoc hervor und beleuchtete die Wände auf der rechten Seite. Mehrere Eingänge, die meisten größer als der, durch den sie gerade gegangen waren, kamen zum Vorschein. Diese schwarzen Löcher in der Wand verschluckten ohne weiteres das Licht von Giebels Pulslampen.
»Warte.« Giebels war abrupt stehen geblieben und fasste sich mit der Hand an seinen Helm.
»Ich habe hier was auf dem Vis. Laut Informationen von Dr. Adelfing sollte sich der Fötus des Zodiacs tiefer im Asteroiden befinden. Einer dieser Wege hier führt Richtung Kern des Asteroiden, und ich empfange da irgendwas.«
Murdoc schloss seine Augen und konzentrierte sich. Die bläulichen Fäden des Visualizers schimmerten auf seiner Netzhaut auf und bildeten eine Art imaginäres Menü. Per Gedanke führte Murdoc einen Umgebungssonarstoß aus. Irreführenderweise wurde diese Option als Sonar bezeichnet, wobei ein radarähnliches Wellensignal vom Kampfpanzer ausgebreitet wurde und Resonanz bei Lebensformen als rötliche Strukturen auf der Netzhaut visualisierte.
Murdoc registrierte etwas, das sich weit unter Giebels Standort befand. Jemand aus dem Team? Vielleicht Foster? Nein, überlegte Murdoc, sie waren zu dritt aufgebrochen, waren weiter westlich und konnten sich nicht so schnell bereits so tief im Asteroiden befinden. Außerdem mussten sie außer Reichweite des Sonars sein. Es konnte sich tatsächlich um den Fötus eines Zodiacs handeln, den das Soldatenteam aus fünf Mann für Dr. Adelfing und im Namen des Karndalf-Kantons beschaffen sollte. Oder es war einer der Wächter. Murdoc erschauerte bei dem Gedanken. Du bist Soldat bei der Kantongarde, da hat man keine Angst, nur den eisernen Willen, versuchte er sich einzureden. Doch es half nichts, es war Murdocs erster Einsatz.
Und wenn es ein Zodiac selbst war? Eins der Sucherwesen, die noch Teilweise im Arym Var-System ihr Unwesen trieben und der Ausbreitung der Andragon-Kantone entgegenwirkten? Eines dieser Wesen konnte fünf Soldaten der Kantongarde auslöschen wie nichts, so erzählte man sich die Horrormärchen in den Kasernen. Doch die Operationen wurden genauestens geplant, versuchte sich Murdoc selbst erneut zu beruhigen, dieser Dr. Adelfing hatte bei der Missionsbesprechung für die sichere Abwesenheit jeglicher Zodiacs im Aaron Schwarm garantiert. Es konnten sich lediglich Wächter des Zodiac-Fötus in den unterirdischen Systemen des kleinen Asteroiden befinden, die mit Waffengewalt auszuschalten waren. Für derartige Einsätze war Murdoc schließlich ausgebildet worden.
Die Stimme Fosters über das Team-Kom riss Murdoc aus seinen Gedanken.
»Hier Foster. Statusbericht.«
Giebels antwortete. »Sir, wir befinden uns gerade in einem größeren Gewölbe etwa eineinhalb Kilometer nordöstlich unserer Ausgangsposition – Richtungsorientiert nach Cheops Mark IV System versteht sich. Seitlich von uns befinden sich mehrere Eingänge, einer davon scheint tiefer in den Asteroiden zu führen. Wir haben hier etwas ... auf dem Vis, Sir.«
»Definieren sie ‚etwas‘«. Foster dehnte das Wort ‚etwas‘ mit gereiztem Unterton.
»Es könnte sich um den Fötus handeln, aber wir sind uns nicht sicher. Die Wände sind zu dick, als dass das Vis uns eine genauere Geometrie des Objekts darstellen könnte. Aber es hat sich seither nicht im Geringsten bewegt. Das könnte einen Wächter ausschließen.«
Giebels leuchtete an die Decke des Gewölbes.
»Ziehen sie keine voreiligen Schlüsse, Giebels«, sagte Foster mit fester Stimme. »Nehmen sie den Eingang in Richtung des Zentrums des Asteroiden und checken sie die Lage da unten. Geben sie auf sich Acht.«
Giebels schnitt eine Grimasse unter dem Visier seines Helms.
»Was uns betrifft«, fuhr Foster fort, »wir sind derzeit in einem länglichen Ganggewölbe, das sich auch etwa anderthalb Kilometer nördlich unseres Ausgangspunkts befindet. Unsere Vis zeigen absolut nichts. Das muss aber noch nichts bedeuten. Setzen sie ihren Weg fort, wir bleiben in Kontakt. Foster out.«
»Na dann wollen wir mal, Kleiner. Ladies First!« rief Giebels breit grinsend und machte eine weisende Geste in Richtung des mittleren Eingangs, der wie ein schwarzes Loch über Murdoc aufragte.
»Ich bin nicht klein«, murmelte der Karndalf-Soldat.
Der Abstieg erwies sich als einfacher als Murdoc befürchtet hatte. Die Gravitationsstiefel, die auf die Standard-Schwerkraft von 1 g justiert waren, ermöglichten ein relativ unkompliziertes Abwärtsbewegen in der steilen Höhle. Nach einiger Zeit wurde Murdoc klar, dass sie sich mit fast neunzig Grad senkrecht auf den Mittelpunkt des Asteroidenzentrums zu bewegen mussten.
Die Gravitationsstiefel des Cheops-Anzugs erzeugten ihr Feld direkt senkrecht unter der Sohle, was einem das Gefühl vermittelte, auf einem Planeten mit völlig normaler Schwerkraft zu gehen, wie etwa auf Saltoris oder auf der neue Erde im ‚Erbe des Lichts‘-System. Der Unterschied jedoch war, dass man genauso gut kopfüber an einer Decke hängen konnte. Es war schlichtweg ungewohnt.
Nach einiger Zeit wurde ein blasser Lichtschimmer sichtbar. Murdoc interpretierte die Erscheinung irrtümlicherweise erst als Hirngespinst, das ihm das seltene Flackern der Pulslampe seines Gewehrs erzeugt hatte. Doch je weiter sie voranschritten, desto deutlicher war das Schimmern weit unten zu vernehmen.
»Da unten ist was«, brummte Giebels Stimme durch das Kom.
Murdoc zögerte. »Können Zodiacs sich nicht in absoluter Dunkelheit fortbewegen? Das war zumindest, was uns Dr. Adelfing beim Briefing ...«
»Zodiacs ja«, unterbrach ihn Giebels. »Aber ein Fötus eines Zodiacs wird in einer bestimmten Laugen-Gebärflüssigkeit gehalten, die fluoreszierende Bestandteile enthält. Das heißt ...«
»Das heißt?«
»Das heißt ... Bingo. Wir sind definitiv auf dem richtigen Weg. Wir müssen Foster kontaktieren.« Giebels aktivierte sein Team-Kom. »Foster, bitte melden. Hier Giebels.«
Es kam keine Antwort. Lediglich das leise gleichmäßige Rauschen des Koms war zu vernehmen.
Murdoc spürte Angst in sich hervorkriechen. »Sie antworten nicht, Giebels! Was ist da los? Warum sagen sie nichts?«
Giebels ignorierte ihn. »Foster, bitte kommen«, wiederholte er. Murdoc blickte nach unten. Es war fast schon eine Art Raum zu erkennen, aus der das fahle Licht kam und in den der Höhlengang zu münden schien. Das Kom rauschte leise. Murdoc versuchte sich zu beherrschen, doch er fühlte sich äußerst unwohl. »Was ist mit ihnen, Giebels? Was sollen wir jetzt ... ich meine...«
»Beruhig dich mal, Kleiner. Das muss nichts weiter bedeuten, wahrscheinlich blockieren die dicken Felswände das Kom-Signal. Wir kennen unsere Mission und setzen sie fort«, sagte Giebels.
Murdoc merkte, dass er sein Gewehr so fest umklammerte, so dass seine Hände schon schmerzten. »Aber das Kom-Signal geht doch durch eine bescheuerte Felswand, ich habe noch nie gehört, dass ...«
»Es gibt Mineralien, die kennt noch nicht mal Dr. Adelfing, Kleiner. Wer weiß, was unser Signal blockiert. Jetzt reiß dich zusammen und geh voran.«
Giebels Ton war bestimmt, aber sein Gesicht sagte etwas anderes.
Nach etwa einer Viertelstunde mündete der Höhlengang in ein großes Gewölbe. Murdoc und Giebels deaktivierten ihre Gravitationsstiefel und ließen sich das letzte Stück aus dem Höhlengang herunter langsam in das Gewölbe sinken. Dieses war durch kleine Durchgänge mit vielen weiteren, meist kleineren Höhlensystemen verbunden. Das ganze Bild war unter einem grünlichen Schimmern zu erkennen, das vom Boden ausging. Bei genauerem Hinsehen stellte Murdoc fest, dass sich mehrere Rinnen am Boden entlang zogen, in denen sich eine seltsame grünlich fluoreszierende Masse befand, wie in einem kleinen Rinnsal. Von ihr ging das Licht aus. Allerdings bewegte sich die Masse nicht, sondern schien starr zu stehen wie ein eingefrorener kleiner Bach. Die Masse pulsierte in unregelmäßigen Intervallen. Die Rinnen zogen sich in verschiedenen Richtungen durch die kleineren Höhlensysteme, schienen jedoch in einer Richtung zusammenzulaufen.
»Pass auf wo du hintrittst«, sagte Giebels ungewöhnlich leise und aktivierte wieder seine Gravitationsstiefel.
»Am besten gehe ich jetzt vor. Diese stinkenden Brutlöcher sind mir unheimlich, also lass uns diesen Fötus finden und dann nichts wie weg hier.«
Murdoc schloss die Augen und initialisierte sein Vis. Das Bild, das der Sonarstoß auf seiner Netzhaut erzeugte, traf ihn wie ein Blitz. Es hatte sich deutlich verändert. Es war nun nicht mehr ein Objekt zu sehen, sondern etwa einhundert. Alle befanden sich gleichmäßig verteilt um Murdoc und Giebels in den Seitenhöhlen.
Murdoc zwang sich dazu, nicht in Panik zu geraten während er sprach.
»Giebels, ... ich weiß jetzt warum wir das Objekt vorhin nicht identifizieren konnten ... Du solltest dir das ansehen.«
Murdoc sah aus dem Augenwinkel wie Giebels sich mit der rechten Hand an den Helm fasste.
»Scheiße«, fluchte er. »Es war überhaupt nicht ein Objekt, wir waren nur so weit weg, dass es aussah wie eins. Aber es war ein Knäuel aus hundert Objekten. Warte ...«
Murdoc sah Giebels geschlossene Augenlider durch seinen Helm zucken.
» ... Es ist eine verdammte Kolonie an Föten! So etwas habe ich noch nie gesehen ... das ist einfach unglaublich!«
»Und wir sind mittendrin«, murmelte Murdoc.
»Ja, aber es sind keine Wächter hier, es sind ...« Giebels stockte.
»Was? Was ist? Rede mit mir verdammt?« Murdoc geriet in Panik, war jedoch noch imstande seine Augen zu schließen.
Rote eierförmige Objekte. Wie vorhin. Aber da war etwas. Es bewegte sich etwas, das anders als die eierförmigen Objekte aussah. Der Visualizer formte etwas, das aussah, als hätte es nach außen gespreizt mehrere Fühler, oder vielleicht Arme. Es bewegte sich langsam, direkt aus der Richtung vor ihnen.
Murdoc konnte nicht sagen, ob es sich in ihre Richtung bewegte. Da war ein Objekt. Dann kam ein zweites wie aus dem Nichts auf das Vis, das sich in der Nähe des anderen befand. Dann kam ein drittes, von weiter rechts. Ein viertes. Ein fünftes. Die Bewegungen schienen zum Stillstand zu kommen, wie die Ruhe vor einem Sturm.
Der Umgebungssonarstoß entfachte einen Impuls, der über etwa zwei Erdminuten die Umgebung visualisierte. Nach diesem Zeitraum verblasste das Bild langsam und man musste erneut Anzugenergie für einen weiteren Sonarstoß investieren. Dies war Murdoc egal, als sein Vis-Bild verblasste. Für einen Augenblick sah Murdoc lediglich das absolute Schwarz seiner Augenlider und am Rand seines Sichtfelds das kleine Vis-Menü. Er aktivierte den Sonarstoß und erschrak. Sie bewegten sich, doch viel schneller als vorhin. Und diesmal kamen sie direkt auf Murdoc und Giebels zu.
Bevor Murdoc den nächsten Gedanken fassen konnte, wurde er von Giebels in die Realität zurückgerissen. »Murdoc es sind Wächter! Reiß’ dich zusammen, sie kommen! Du nimmst sie frontal, ich übernehme die rechte Seite!«
Da kamen sie.
Sie waren kleiner als Murdoc erwartet hatte, doch sie waren auch flinker.
Das, was er erst als Fühler oder Arme interpretiert hatte, sah jetzt eher wie dunkelbraune Spinnenbeine aus. Das Seltsame war, dass etwa zehn dieser Spinnenbeine nach unten, und zehn weitere spiegelverkehrt nach oben gerichtet waren, was ein äußerst bizarres Bild gab. Die Wächter benutzten die Beine, um sich in den engen Höhlenverbindungen fortzubewegen. Dort wo das Gesicht hätte sitzen müssen, befand sich lediglich ein grauer Wulst, aus dem zwei pechschwarze kugelrunde Augen hervorstarrten.
Alles passierte sehr schnell und lief ab wie ein stiller Kampf.
Giebels feuerte zuerst. Das Neutronengewehr, das wegen des Vakuums nicht zu hören war, gab mehrere grelle bläuliche Lichtblitze von sich, die in Richtung der von rechts anrückenden zwei Wächtern rasten. Der erste wurde von der Salve gestreift, taumelte, Spinnenbeine zerbarsten an seiner Seite. Er verlor den Halt am Höhlengang und wurde aufgrund der extrem geringen Schwerkraft quer durch das Gewölbe geschleudert, bis er an einer Felswand zerschmetterte.
Spinnenbeine und dunkle Flüssigkeit füllten Murdocs Sichtfeld.
Der zweite Wächter wich geschickt aus und setzte zum Sprung auf Giebels an.
Genau zum gleichen Augenblick rasten drei weitere Wächter direkt auf Murdoc zu.
Murdoc zielte und zog den Abzug durch. Einen kurzen Augenblick war er vom blauweißen Licht geblendet, doch er hielt sein Gewehr fest umklammert und feuerte mindestens zwanzig Projektile. Instinktiv sank er in die Hocke und hielt sein Gewehr immer noch auf die Position der Angreifer gerichtet.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Giebels sich zu Boden warf, um dem Sprung des anderen Wächters zu entgehen, doch eines der Spinnenbeine schrammte quer über seinen Rücken.
Murdoc hörte Giebels im Kom aufschreien.
Vor Murdocs Füße schlitterte ein zerschmetterter Wächter, doch Murdoc konnte sehen, wie die beiden anderen, auf die er gefeuert hatte, in einer Seitenhöhle verschwanden.
Giebels feuerte wieder. Er lag ausgestreckt auf dem Boden und sein Cheops Mark IV Panzer schien standgehalten zu haben. Der Wächter, der Giebels attackiert hatte, raste mit atemberaubender Geschwindigkeit quer über die Seitenwand des Höhlengewölbes, während die Neutronenprojektile des Soldaten in einer Spur hinter ihm einschlugen und fußballgroße Löcher in die Wand rissen.
Murdoc spürte das Adrenalin in seinen Adern. Wohin waren die beiden Wächter verschwunden? Hektisch, aber dennoch geübt tastete er im Chaos des Gefechts die gesamte Umgebung um sich herum ab. Er überlegte, ob er in den Seitenhöhlengang laufen sollte, oder es wagen sollte, einen Sonarstoß auszusenden, als ihn etwas mit voller Wucht auf den Helm donnerte. Er verlor das Gleichgewicht und kippte auf die Seite, während er benommen realisierte, dass ein Wächter offensichtlich aus einem Höhlendurchgang direkt über ihm geschossen war.
Bevor Murdoc zu Boden ging, wurde er herumgerissen und blickte in die pechschwarzen Augen eines Wächters, der ihn mit seinen unteren zehn Spinnenbeinen bearbeitete und mit den oberen Murdocs Waffe wegschleuderte.
Murdoc rang mit aller Kraft mit dem Wächter, um sich die Spinnenbeine vom Leib zu halten. Immer wieder schossen die spitzen Glieder des Wächters nach vorne. Murdoc wurde klar, dass der Wächter versuchte, sein Visier zu zertrümmern. Die Talusklinge, schoss es Murdoc durch den Kopf.
Der Cheops Mark IV Panzer trug seinen Ruf als bester Kampfpanzer der Kantongarde nicht nur wegen den Schutzoptionen gegen externe Einflüsse.
Er besaß auch weitere Funktionen, die in Kampfsituationen von großer Hilfe waren. In der Verkleidung der rechten Armschiene war eine ausfahrbare Talusklinge immenser Stabilität eingebettet, die der Schärfe eines Diamanten Konkurrenz machen konnte.
Innerhalb einer Hundertstelsekunde schloss Murdoc die Augen und ließ per Gedanke über den Skin-Connector die Klinge herausschnellen. Im selben Moment setzte der Wächter, der Murdoc umklammert hielt und mit seinen Spinnenbeinen attackierte, zum Sprung auf die andere Seite des Gewölbes an.
So wollte er den Karndalf-Soldaten an der Wand zerquetschen. In Todesangst schaffte dieser es, seine rechte Hand mit der Talusklinge aus dem Griff des Wächters zu befreien und einen seitlichen Hieb zu vollführen, der mindestens zwei oder drei Spinnenarme vom Torso trennte. Im Wulst des Wächters öffnete sich ein abscheuliches Loch – das wohl den Mund darstellte – zu einem stummen Schrei und der Griff des Wächters, der Murdoc umklammerte wie eine Zange, lockerte sich.
Hätte Murdoc weniger als zwei Erdsekunden gehabt, um seine Position zu verändern und die Gravitationsstiefel entgegen der Höhlenwand zu richten, auf die er zuraste, hätte es ihn zerschmettert. Die Stiefel bremsten den Aufschlag automatisch ab. Murdoc verlor keine weitere Sekunde und drehte sich schnell zur Seite weg, weil sich der angeschlagene Wächter im Flug bereits wieder erholt zu haben schien und die Spinnenbeine nach ihm ausstreckte. Am Rande vernahm er, dass Giebels den anderen Wächter mit dem Neutronengewehr erwischt hatte, jedoch bereits vom fünften Wächter attackiert wurde, der vorhin vor Murdoc in dem seitlichen Höhlengang verschwunden war.
Ehe sich Murdoc versah, war er erneut im Griff des Wächters, der jedoch deutlich unkontrollierter als vorhin mit seinen verbliebenen Spinnenbeinen nach Murdoc schlug. Die harte Spitze eines Spinnenbeins traf Murdocs Helm zweimal hart hintereinander. Sein Kopf dröhnte, doch der Panzerhelm hielt stand.
Murdoc registrierte, dass die Bewegungen des Wächters ungezielter und langsamer wurden und wehrte sich halbwegs mit der linken Hand, während er mit der Rechten Kraft sammelte. In einem geeigneten Augenblick befreite er sie mit einem festen Ruck und holte zum Schlag aus. Die Talusklinge schimmerte im grünlichen Licht der fluoreszierenden Masse, die aus den Rinnen im Boden strahlte. Einen Augenblick, der Murdoc wie in Zeitlupe vorkam, starrte ihn der Wächter mit seinen pechschwarzen großen Augen direkt an.
Murdoc schlug zu.
Er traf den Wächter direkt im Gesicht, wenn man den grauen Wulst mit den schwarzen Kugeln als ein solches bezeichnen konnte. Murdoc hörte nichts, doch er spürte ein Knacken, als die Talusklinge eindrang und den Schädel des Wesens spaltete. Schmierige dunkle Flüssigkeit spritze zu allen Seiten ungebremst durch das Vakuum. Der Wächter taumelte rückwärts, knickte ein und sank zu Boden, wo er wie ein Haufen aus Spinnenbeinen und wabernder dunkler Flüssigkeit verendete.
Ohne nachzudenken hastete Murdoc an dem Kadaver vorbei zu seinem Neutronengewehr und hob es auf. Ein markerschütternder Schrei schoss durch das Kom seines Helms. Er wirbelte herum und sah, wie Giebels mit seiner Waffe auf den fünften Wächter einschlug, während dieser versuchte, sie ihm aus der Hand zu reißen.
»Giebels, geh zur Seite!« schrie Murdoc. Giebels gehorchte augenblicklich und ließ sich nach hinten fallen. Murdoc zielte und schoss. Er konnte die rasche Ausweichbewegung des Wächters ausmachen, bevor der blauweiße Lichtblitz des Neutronengewehrs seine Augen blendete. Nach dem Abklingen des Effekts auf seiner Netzhaut war der Wächter verschwunden.
»Wo ist es? Wo ist es hin, Giebels, verdammt!«, keuchte Murdoc.
»Scheiße, verdammt noch mal«, fluchte Giebels. »Es ist da durch glaub ich.
Nein warte ... ach Mist! Sonarstoß!« Giebels schloss die Augen, öffnete sie wieder für drei Erdsekunden und schloss sie erneut. »Ja, es ist da durch, aber warte ... es haut ab ... es bewegt sich weg von uns, und das rasend schnell. Es ... es ist außer Reichweite!«
»Das war verdammt knapp! Warum hat uns keiner gesagt wie schnell diese Biester sind!« sagte Murdoc. Er zitterte noch am ganzen Körper.
»Das sind keine gewöhnlichen Wächter. Auf dem letzten Einsatz in den Kleipp-Asteroiden sind wir ja auch welchen begegnet. Aber die waren anders, die waren viel langsamer. Irgendetwas stinkt hier ganz gewaltig in diesem Loch!« Giebels hatte immer noch die Augen geschlossen während er sprach.
Murdoc überprüfte sein Neutronengewehr. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
Er versuchte beiläufig zu klingen. Er wunderte sich im gleichen Augenblick über sich selbst angesichts der Tatsache, dass sie sich vor kurzem noch in Lebensgefahr befunden hatten und er dennoch bereits wieder seinen Standard-Groll gegenüber Giebels hegte.
Giebels öffnete die Augen und grinste. »Na, Kleiner, brauchst keine Angst haben«, sagte er in gönnerischem Ton. »Onkel Alfred gibt nicht so leicht den Löffel ab.«
»Wenn ich nicht gewesen wäre, würdest du wahrscheinlich gerade nicht solche Sprüche klopfen«, murmelte Murdoc.
Giebels grinste lediglich weiter und überprüfte seinen Anzug auf Schäden während er sprach. »Jetzt versuchen wir erst noch einmal Foster zu kontaktieren. Bei Misserfolg krallen wir uns den Fötus und dann – Abflug.«
Zwei Erdminuten lang versuchte Giebels per Team-Kom Foster zu erreichen, jedoch erfolglos. Wohl wissend, dass es kaum einen Unterschied machen würde, veränderte er mehrmals seine Standposition innerhalb des Gewölbes.
Murdoc wunderte sich, wie schnell sich Giebels von dem eben erlebten Schrecken erholt hatte.
Die Anzugenergie von Murdocs Cheops Mark IV Kampfpanzer betrug nur noch fünfundfünfzig Prozent, doch Murdoc war zu unsicher um auf ununterbrochene Sonarstöße zu verzichten. Die Gefahr, erneut die Spinnenfüße eines Wächters auf seinen Helm donnern zu spüren, war ihm zu riskant. Doch lediglich die roten eierförmigen Objekte – die Föten – waren ringsum zu erkennen.
»Absolute Totenstille«, sagte Giebels leise. »Wo ist der nächstgelegene Fötus? Oder sollen wir ‚Ene, Mene, Miste‘ machen?« Giebels’ Raucherwiehern dröhnte umso lauter durch das Kom.
»Da lang«, knurrte Murdoc und deutete auf einen der zahlreichen Verbindungsdurchgänge des Höhlengewölbes, in das drei Rinnen mit grünlicher Masse führten.
Der Weg zu dem Fötus entpuppte sich als schwieriger, als Murdoc erwartet hatte. Nach dem Durchgang waren sie durch mehrere kleine Höhlengewölbe gekommen und befanden sich nun in einem regelrechten Labyrinth aus Tunnelsystemen, die durch das schwache, leicht pulsierende Licht der fluoreszierenden Masse in den Rinnen am Boden beleuchtet wurden. Ohne die Funktionen des Sonarstoßes und der Topografiescanning-Einrichtung des Cheops-Panzers hätte Murdoc sich mit hoher Wahrscheinlichkeit komplett verirrt. Hinzu kam, dass die Bodenoberfläche sich verändert hatte. Während sie bis zu dem großen Höhlengewölbe relativ glatt und eben gewesen war, war sie jetzt umso zerfurchter und rau. An manchen Stellen ragten schiefrige Spitzen aus dem Boden, die den Gravitationsstiefeln das Aufsetzen erschwerten.
Giebels blieb an einer Kreuzung zweier Höhlengänge stehen und schwenkte seine Waffe von rechts nach links und wieder zurück. »Wohin jetzt, werte Höhlenführungskraft?« spottete er.
Murdoc befragte sein Vis und wies nach links, als er antwortete. »Dort entlang. Es kann nicht mehr weit sein. Wächter sind keine in Sicht.« Im selben Moment fragte sich Murdoc, warum Giebels überhaupt ihn fragte, anstatt selbst das Vis zu benutzen.
Giebels wollte etwas Spöttisches erwidern, doch im selben Moment rutschte er ab und glitt mit seinem rechten Bein in eine der fußbreiten Rinnen, die die grünlich leuchtende Masse führten. Er knurrte etwas Unverständliches und stemmte sich hoch, während Murdoc versuchte, seinen Lachreiz zu unterdrücken.
»Gottverdammt, jetzt habe ich das Zeug auch noch an meinem Stiefel«, grunzte er und rubbelte mit dem Handschuh des Cheops-Anzugs über seinen Fuß, der fast komplett mit der fluoreszierenden klebrigen Masse bedeckt war.
Dadurch wurde der Stiefel jedoch nicht sauberer, die Masse wurde lediglich verschmiert und befand sich nun zusätzlich an Giebels Handschuh.
Murdoc konnte sich nicht mehr halten und prustete los, wodurch einen Augenblick die gesamte Anspannung verlorenging, die ihre Situation in ihm hervorgerufen hatte.
»Sehr witzig. Du bist der nächste der grün leuchtet, aber am ganzen Körper, das versprech’ ich dir.« Giebels klang überhaupt nicht begeistert.
Als Murdoc sich wieder gefasst hatte begann er sich zu fragen, ob die Masse eine negative Einwirkung auf den Anzug haben könnte. Ihm fiel auf, dass sie in der gesamten Zeit noch keine stoffliche Analyse vorgenommen hatten.
Murdoc ärgerte sich über sich selbst. ‚Umgebung analysieren und bei Informationsklarheit zielstrebig voranschreiten‘, so war ihnen Grundsatz Nummer eins in Außenmissionen auf der Akademie der Karndalf-Kantongarde eingebläut worden. Noch mehr jedoch ärgerte er sich über Giebels, der ihn durch seine Spötteleien stets abgelenkt hatte und selbst auch nicht auf die Idee gekommen war.
Bevor Murdoc dazu kam, sein Vis zu aktivieren und die stoffliche Analyse zu initialisieren, bekam er einen Schock, dass er fast in seinen Anzug uriniert hätte. Auch Giebels zuckte merklich zusammen und riss instinktiv seine am Boden abgelegte Waffe hoch, als das Team-Kom mit einem lauten Zischen die Ruhe durchbrach.
Was zu hören war, ließ Murdoc augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren. Fosters Stimme war sehr undeutlich, kombiniert mit Rauschen, in Sprachfetzen zu vernehmen. Im Hintergrund schien ein Kampf zu toben. Das Geschrei von Lanzett und Akriba in Fosters Kom war unüberhörbar.
»Foster Hier, Murdoc Gieb ... melden! Fos ... doc ... .melden! Akrib ... kommt, pass auf! ... haben hier ... hafte Probleme! Gott ... das ... schnell ...«
Einen Moment lang ging die Stimme komplett im Rauschen unter. Giebels fluchte und versuchte zu antworten. »Giebels hier, Foster, melden sie sich! Foster! Was zum Teufel ist los bei ihnen? Foster! Sind es Wächter?«
Eine Sekunde war absolute Stille zu vernehmen, nicht einmal Rauschen.
Dann wurde sie von einem lang gezogenen, schrillen Schrei durchbrochen.
Murdoc war eiskalt, obwohl die Innentemperatur des Cheops-Anzugs auf eine angenehme Standardtemperatur von dreiundzwanzig Grad eingestellt war. Er wollte irgendetwas sagen, doch er schaffte es nur, Giebels mit offenem Mund anzustarren. Giebels starrte zurück.
Da meldete sich das Team-Kom wieder. » ... keine Wächter ... nie ... unbekannt ... so schnell! Keine Zeit ... brauchen dringend Hilfe! ... mich ... standen? ... chen ... dri ... Hilfe! Lanzett ... schwer verletzt ... Fötus ... kommt ...« Die letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen und wurden von anschwellendem Rauschen und Zischgeräuschen überlagert, bis die Verbindung komplett abbrach.
Fosters Stimme echote in Murdocs Ohren. »Was sollen wir jetzt machen?«, stammelte er. »Und was ist mit dem Fötus? Sie sind zu weit weg, ich meine, die Mission ...«
»Scheiss’ auf den Fötus!« brüllte Giebels und formte die Hand zu einer Faust. »Das sind meine Teamkollegen, wir müssen ihnen helfen! Hol’ du den gottverdammten Fötus, wenn du das für richtig hältst!«
»Du ... du hast recht. Wir müssen ihnen helfen. Und wir sollten uns nicht trennen.«
Giebels schnaubte nur verächtlich und stapfte schnell mit großen Schritten an Murdoc vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Da ertönte das Karndalf-Signal in Murdocs als auch in Giebels Helm. Rein theoretisch befanden sich die fünf Soldaten außerhalb jeglicher Karndalf-Flottenkreuzer-Reichweite. Das Soldatenteam, unter der Führung von Sergeant Foster, war eins der vielen kleinen Spezialteams, die vom Karndalf-Kanton eingesetzt wurden. Jeder Flottenkreuzer des Karndalf-Kantons besaß mindestens zehn dieser Teams, um in den zuständigen Sektoren zu operieren.
Diese Teams wurden mit Perser-Transportshuttles, auch Autoshuttles genannt, zu den Einsatzorten transportiert. Die Autoshuttles wurden komplett von einem im Computer vorprogrammierten Kurs geleitet und automatisch per Autopilot gesteuert, damit der wohlbekannte und von Soldaten oftmals verpönte ‚perfekte Zeitplan‘ eingehalten werden konnte. Das Karndalf-Kanton hatte seit einigen Jahren einen neuen Kantonführer, eine Frau namens Amelie Sakarelij, die den strikten Zeitplan eingeführt hatte.
Fosters Team war mit einem Perser-Transportshuttle in die Nähe des Asteroiden im Aaron-Schwarm geflogen, von wo aus sie sich in den Asteroiden selbst hinein teleportiert hatten. Die Reise hatte sieben Stunden gedauert.
Mit Planetargravitationsantrieb eine Zeitdauer von sieben Stunden zu reisen bedeutete, dass man sich weit genug von seinem Mutterschiff entfernte, als dass eine Funkkommunikation ohne Überbrückungsanlagen wie auf Uriel 2 stattfinden konnte.
Das Karndalf-Signal jedoch war das Zeichen, dass ein Funkspruch eines Flottenkreuzers in Reichweite bevorstand. Dies konnte unmöglich der Fall sein, weil die Flottenkreuzer reguläre Zirkulationspfade durch das Arym Var-System verfolgten, die sie so gut wie nie verließen. Diese Pfade basierten auf dem Planetargravitationsnutzprinzip, das den Schiffen mit entsprechendem Antrieb ermöglichte, sich ohne großen Energieverlust durch den Weltraum zu bewegen.
Die Zirkulationspfade waren so berechnet, dass die Kreuzer in einem Zeitraum von meistens mehreren Monaten bestimmte Punkte im Arym Var-System passierten und am Ende der Route wieder an ihrem Ausgangspunkt ankamen. Die vielen Kreuzer der Kantone waren gleichmäßig über das gesamte System verteilt und deckten so jeden Winkel ab. Durch die Zirkulationspfade konnten Operationen optimal geplant werden.
Deswegen war es untypisch, dass Flottenkreuzer den Pfad verließen, weil dadurch das gesamte Planungskonzept der Kantone beeinträchtigt war.
Voller Ungläubigkeit blieb Giebels stehen und horchte.
Eine monotone Männerstimme meldete sich. »Hier spricht die Olympfregatte Marx, Authentifizierungscode Alpha K-255-7624698. Bitte um die stimmliche Identifikation der Soldaten ‚Alfred Giebels‘ und ‚John Casper Murdoc‘.«
Giebels und Murdoc sahen sich fassungslos an. Olympfregatte? Die einzigen Schiffe die oftmals außerhalb der Zirkulationspfade agierten waren Botschafterschiffe und Olympfregatten. Während Botschafterschiffe Nachrichten überlieferten und Botschafter schnell zu internen Kantonvermittlungen transportierten, wurden Olympfregatten nur von den obersten Vorsitzenden und Generälen des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses kommandiert – der übergeordneten Fraktion, die zumindest versuchte, die einzelnen Kantone zusammenzuhalten und zu steuern. Der Authentifizierungscode, den die Stimme vermittelt hatte, war ein Code, der Murdoc und Giebels auf dem Vis bestätigte, dass es sich tatsächlich um die Marx handelte. Die Anwesenheit eines derartigen Schiffes musste einen schwerwiegenden Grund haben. Der Andragon-Kanton-Zusammenschluss war sämtlichen Kantonen übergeordnet, weshalb Murdoc und Giebels dem Befehl der stimmlichen Identifikation sofort Folge leisten mussten.
»Alfred Giebels«, sagte Giebels schließlich.
Murdoc folgte seinem Beispiel und sagte: »John Casper Murdoc.«
Murdoc wusste, dass es sich um eine Floskel handelte. Die stimmliche Identifikation diente lediglich dazu, dass die betroffene Person ihre Lokalisierung anerkannte. Die Scanner der Marx hatten bereits längst die Identifikationssignaturen über Murdocs und Giebels’ Skin-Connector analysiert.
»Bestätigt«, sagte die monotone Stimme. »Unter der Befehlsleitung von Amelie Sakarelij haben wir ihre Mission, die unter der wichtigen Operation ‚Zeus‘ läuft, beobachtet.«
Sakarelij? Operation ‚Zeus‘? Beobachtet? Dies fragte Giebels Gesichtsausdruck geradezu, als Murdoc ihn ungläubig anstarrte.
Die Stimme fuhr fort. »Ich muss ihnen im Namen der Andragon-Kantone erneut bekräftigen, wie wichtig der Besitz des Missionsobjektes für den Zusammenschluss ist.«
Der Andragon-Kanton-Zusammenschluss ... wofür benötigt der Zusammenschluss Föten der Zodiac-Lebensform?, schoss es Murdoc durch den Kopf.
Sie waren offiziell im Auftrag des Karndalf-Kantons hierhergekommen, um für Dr. Adelfing den Fötus zu beschaffen. Doch wie es aussah, steckte viel mehr dahinter.
Doch die monotone Stimme war noch nicht fertig. »Angesichts ihrer kürzlichen Entscheidung, ihren Teamkameraden so kurz vor dem Ziel zu Hilfe zu eilen, mussten wir interferieren. Wir befehlen ihnen nun unumgänglich aufgrund der genannten Prioritäten ihre Mission fortzusetzen.«
Giebels Gesichtsausdruck lief von Ungläubigkeit in Wut über. Sie waren die ganze Zeit beobachtet und belauscht worden, wie Versuchsobjekte. Und jetzt wurden sie wie Marionetten behandelt. Giebels war Soldat. Er wusste, dass er Befehle strikt zu befolgen hatte. Er war zu vielem bereit und machte so gut wie alles was man von ihm verlangte anstandslos, doch seine Teammitglieder im Stich zu lassen, brachte ihn in einen schweren Konflikt mit sich selbst und der Befehlsgewalt. Es war wie Verrat für ihn, seit er im zweiten ‚Erbe des Lichts‘-Konflikt einen Kameraden zurücklassen musste, um den Tod hundert anderer zu verhindern.
Giebels versuchte gefasst zu klingen, als er antwortete. »Bei allem Respekt, Sir, wir können hierher zurückkehren und unsere Mission fortsetzen, nachdem wir unsere Teamkameraden, die dringend Hilfe benötigen, unterstützt haben.«
»Negativ, Mission unverzüglich fortsetzen.«
Giebels verlor die Fassung. »Verdammt, wissen sie was sie da verlangen? Jede Sekunde die wir weiterquatschen kann jemand von den anderen am Sterben sein! Sie brauchen unverzüglich Hilfe! Sofort!«
»Negativ, Mission fortsetzen.«
Giebels schien unter dem Helm rot anzulaufen. »Verflucht seid ihr, und euer gottverdammter Fötus.«
Eine kurze Pause folgte und eine andere Stimme meldete sich zu Wort.
»Sie wagen, sich der Befehlskette des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses zu widersetzen? Sie setzen augenblicklich ihre Mission ohne Umschweife fort oder es wird ausschlaggebende Konsequenzen für ihr Dasein als Soldat der Karndalf-Kantongarde haben!«
Murdoc kannte die giftige und dennoch autoritäre Stimme eindeutig. Es war die von Dr. Adelfing. Was zum Teufel hatte dieser Mann auf einer Olympfregatte des Zusammenschlusses zu tun?
»Der Fötus ist von unschätzbarem Wert, der jenen ihres Soldatenhirns offensichtlich um Größen übersteigt«, geiferte Adelfing. »Beschaffen sie mir diesen Fötus! Im Namen der Andragon-Kantone!«
Giebels öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Doch sein grimmiger Blick sprach Bände. Murdoc konnte Giebels verstehen, doch er hatte zu großen Respekt-Erstrecht vor der Tatsache, dass sie es mit einer Olympfregatte mit der Kantonführerin persönlich zu tun hatten, die sich jedoch noch nicht selbst zu Wort gemeldet hatte.
»Und jetzt setzen sie ihren Arsch in Bewegung und tun sie ihren verdammten Job!« brüllte Adelfing durch das Interstellar-Kom und ein kurzer brummender Ton signalisierte das Ende der Interstellar-Verbindung. Murdoc war sich jedoch sicher, dass Giebels und er nach wie vor von der Marx überwacht und jede ihrer Bewegungen kontrolliert wurden.
Er setzte sich zögerlich in Bewegung. Er wusste, dass ein Befehl des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses über allen Befehlen der einzelnen Kantone stand und eine Verweigerung augenblicklich Murdocs Karriere in der Garde beenden würde.
Giebels machte einen Schritt und blieb stehen. »Scheiss’ auf den Zusammenschluss, scheiss’ auf den Fötus! Das wird mich ein Leben lang verfolgen, wenn ich jetzt nicht gehe!« schrie er und nahm mit schnellen Schritten den Weg in die andere Richtung wieder auf.
»Giebels! Nein!« Murdoc wusste nicht was er machen sollte. Aufhalten konnte er ihn nicht mehr, hätte es jedoch sowieso nicht geschafft, denn Giebels war fest entschlossen. Er bewegte sich erstaunlich schnell mit seinen Gravitationsstiefeln, die Waffe starr nach vorne gerichtet.
Sofort ertönte erneut Dr. Adelfings geifernde Stimme im Interstellar-Kom der Soldaten. »Giebels! Das wird fatale Konsequenzen nach sich ziehen! Seien sie sich darüber im Klaren, Giebels!«
Nach einer kurzen Pause sagte Adelfing: »John Casper Murdoc! Sie wissen was zu tun ist. Erfüllen sie die Erwartungen der Andragon-Kantone!«
Murdoc fluchte in Gedanken und setzte sich in Bewegung. Bei einem Blick auf das Vis zeigte das Umgebungssonar, dass sich an der Umgebung nicht viel verändert hatte und dass keine Wächter in Sicht waren. Er setzte seinen Weg zähneknirschend fort. Die Angst erfüllte ihn zunehmend, der einzige in diesem komplexen System aus Höhlengewölben und kleinen Verbindungstunneln zu sein.
Warum beschaffen sie sich ihren verdammten Fötus nicht selbst, dachte er.
Doch ihm fiel ein, dass er sich in einem Asteroiden mitten im Aaron-Schwarm, einem riesigen Asteroidenfeld in der Nähe von Infidelis, befand. Eine riesige Olympfregatte, noch dazu eine wie die Marx, konnte unmöglich in dieses Asteroidenfeld fliegen, ohne Schaden zu nehmen.
Teleportation – eine erst vor kurzem errungene Technologie – funktionierte nur auf extrem kleine Distanzen, weswegen das Team überhaupt nötig war.
Der Flottenkreuzer, auf dem Murdoc stationiert war, hatte bei der Missionsplanung eine Oberflächensonde zur Erkundung geschickt. Diese hatte bei einem Topografie-Scanvorgang einen Hinweis auf das große Gewölbe geliefert, in das sich Foster mit seinem Team vom Perser-Transportshuttle aus hatte hinein teleportieren können.
Teleporter benötigten immer klare Informationen über das exakte Zielgebiet, da sonst leicht schwerwiegende Unfälle passieren konnten. Die Technologie basierte auf Raumkrümmung, da ein tatsächlicher entmaterialisierter Transport eines Objektes von einem Punkt ohne Verbindungslinie zu einem anderen Punkt unmöglich war. Der Raum wurde mit immensem Energieaufwand phasenweise verändert, so dass sich ein Spalt bildete – eine Art Miniaturwurmloch – durch das das Objekt oder die Person bewegt werden konnte. Der Teleportationsspalt zwang über sehr kurze Zeit das Raumkontinuum, sich an den gewünschten Stellen zu nähern – dem Eintritts- und dem Ausgangspunkt.
In dieser kleinen Zeitspanne musste sich das Teleportationsobjekt durch den Spalt bewegen.
Es gab noch keine bekannten Generatoren oder Energiespeicher, die eine so große Kapazität an Energie aufbrachten, als dass man größere Distanzen hätte überwinden können. Deswegen waren die herkömmlichen Methoden immer noch unabdingbar.
Murdoc überprüfte regelmäßig sein Vis und bewegte sich auf sein Ziel zu.
Schließlich gelangte er zu einem Durchgang, durch den aus fünf anderen Seitenhöhlen kommend Rinnen mit grünlichem Schimmerlicht flossen. Diese verschwanden im Gewölbe dahinter. Murdoc wusste, dass sich dort ein Fötus befinden musste, doch er blieb stehen und sprach über sein Team-Kom.
»Giebels, kannst du mich hören? Giebels?«
Lediglich das endlose, leise Rauschen war in Murdocs Helm zu vernehmen.
Das Wellensignal musste durch die Wände bereits abgeschirmt werden. Oder war Giebels bereits tot? Murdoc versuchte den Gedanken zu verdrängen, doch er hatte den fünften Wächter nicht vergessen, der ihnen entwischt war. Angst überkam ihn und er fühlte sich allein. Ganz allein in der Dunkelheit. Sein Umgebungssonar hatte nicht mehr genug Energie, um in einem größeren Radius zu scannen, weil Murdoc es nach dem Kampf mit den Wächtern zu oft benutzt hatte. Er hoffte, dass sich Giebels bereits außerhalb des kleineren Scanradius befand und deswegen nicht zu erkennen war.
Fest umklammerte er sein Neutronengewehr und schritt durch den Durchgang.
Giebels war wütend.
Mit eingeübten Bewegungen ging er so schnell wie es mit Gravitationsstiefeln möglich war den senkrechten Tunnel hinauf, den Murdoc und er vor nun mittlerweile fast zwei Stunden heruntergekommen waren. Immer wieder aktivierte er nun auch Umgebungssonarstöße, um das Umfeld nach Lebensformen abzuscannen. Noch war nichts zu erkennen außer den Föten, die sich unter ihm langsam entfernten. Und da war noch etwas dazwischen. Es musste dieser Jungspund von Murdoc sein, der lieber den Befehlen von Dr. Adelfing folge, als seinen Teamkameraden zu helfen. Doch er würde es noch spüren, was schlimmere Konsequenzen als jene von Befehlshabern für einen Menschen bedeuten konnten. Gefühle, mit denen man selbst zu ringen hatte, Tag für Tag.
Gesichter, die einen anstarrten, wenn man nachts die Augen schloss. Stimmen, die man hörte, wenn es keine anderen Geräusche in der Umgebung zu hören gab. Murdoc würde es noch spüren, früher oder später. Das war der Fluch einer Karriere als Soldat in der Kantongarde. Es würde immer so weit kommen, dessen war sich Giebels sicher.
Ihm waren die Drohungen von Adelfing egal. Selbst wenn ihm Ravenberg persönlich den Befehl geben würde umzukehren, würde er ihn jetzt nicht befolgen. Er hatte sowieso vor, aus der Garde auszusteigen. Lieber würde er ab jetzt in einer Erzmine auf Mol Ondune schuften, als weiterhin derartigen Konflikten ausgeliefert zu sein.
Giebels erreichte die Eingangsstelle, die in den Abstiegtunnel zu den Föten führte und bewegte sich in Richtung des Extraktionspunktes des Teams zurück.
Als er damals im zweiten ‚Erbe des Lichts‘-Konflikt seinen Kameraden hatte zurücklassen müssen, war Giebels ein anderer Mensch geworden. Er erinnerte sich zurück.
Der Reaktor der Gefechtsstation ‚Terra 7‘ auf dem dritten Jupitermond im ‚Erbe des Lichts‘-System drohte nach einem Bombenbeschuss zu kollabieren.
Sein Soldatenkollege und Freund Mark Soldner befand sich noch im Isolationsraum um den Reaktor. Doch es konnte sich nur um Erdsekunden handeln, bis der Reaktor explodieren würde, einen Riss in die Hülle der Station reißen und alle 100 Soldaten der Station in den Weltraum schleudern würde. Deswegen hatte Giebels handeln müssen. Er hatte den Reaktorraum per Fernschaltung isoliert und den kollabierenden Reaktor mit einem Kühlplasmid, einer kühlenden Substanz, zum Stillstand gebracht. Die Substanz war in den Raum eingedrungen, hatte das Problem gelöst und seinen Freund vor Giebels Augen zu Eis erstarren lassen. Der flehende Gesichtsausdruck Soldners, der vor dem Fenster der Isolationstür zu Grunde gegangen war, hatte sich in Giebels Gedächtnis eingeprägt wie eine Gravur.
Seitdem war Giebels anders. Nach außen war er immer noch der spöttische Kettenraucher Giebels, doch innerlich hatte er sich verändert. Sein Handeln war das Produkt dieser Änderung.
Er erreichte das riesige Gewölbe, in das sich das Soldatenteam zu Beginn der Mission teleportiert hatte und wählte den Eingang in das Höhlensystem, das Foster mit Lanzett und Akriba genommen hatte. Giebels sendete Sonarstöße und entdeckte drei Objekte in mehreren hundert Metern Entfernung. Er setzte seinen Weg hastig fort und achtete kaum auf die Umgebung.
Er war gefeiert worden, hatte einen Orden für seine grandiose Rettungsaktion gekommen. Es hatte ihm absolut nichts bedeutet. Giebels hatte sich selbst versucht einzureden, dass er das Richtige getan hatte. Er hatte sich und alle anderen gerettet. Doch er wusste es jetzt besser, wie man sich fühlte. Er würde lieber selbst sterben als nochmals einen Freund im Stich zu lassen. Foster war sein Freund. Sie hatten schon viel zusammen durchgemacht. Giebels würde es sich nicht verzeihen können wenn ...
Er stockte.
War da gerade eine etwas vor seiner Pulslampe vorbeigehuscht?
Giebels hatte keine Angst. Er war einfach nur verdammt sauer. Auf Adelfing und die ganzen Andragon-Kantone, auf Murdoc, den Feigling, auf diese gottverdammte stinkende Höhle und auf das, was auch immer Fosters Team angegriffen hatte.
»Komm raus, du Mistvieh! Zeig dich, stell dich mir entgegen! Glaubst du ernsthaft ich fürchte mich?« Giebels realisierte, dass er alleine in seinem Helm brüllte und nichts nach draußen drang. Hektisch schwenkte er die Waffe hin und her und beleuchtete die Wände. Da war nichts.
»Ausgeburt der Hölle. Leg dich nicht mit Onkel Alfred an ...«, murmelte er nun unsicher und setzte seinen Weg fort. Während er voranschritt, drehte er sich mehrmals um und beleuchtete den Weg, den er gekommen war.
Langsam aber sicher wurde sich Giebels seiner Situation wieder bewusst und der Hochmut und die Wut wichen der heranschleichenden Angst.
Er durchschritt einen Durchgang und kam in ein hufeisenförmiges Höhlengewölbe. Er machte einen weiteren Schritt und stockte erneut. Der Gravitationsstiefel schien in etwas Weichem zu versinken. Doch bevor Giebels seine Pulslampe nach unten richten konnte, fiel der Lichtschein quer durch den Raum und ließ seinen Blick erstarren.
Murdoc fiel als erstes die Erhöhung des Bodens zentral in der Mitte des Gewölbeabschnitts auf. Mehrere Rinnen mit grünlicher, fluoreszierender Masse führten die Erhöhung von allen Seiten hinauf und liefen direkt im höchsten Punkt in einer Art Becken zusammen. Murdoc hatte mittlerweile die grünliche Masse als ungefährliche, eiweißhaltige Nährlösung identifiziert. Die genaue Funktion in Verbindung mit den Föten war ihm jedoch unbekannt.
In dem Becken in der Mitte der Erhöhung befand sich ein Objekt.
Murdoc wurde klar, dass es sich um einen Fötus eines Zodiacs – eines Sucherwesens aus Arym Var – handeln musste. Er führte einen letzten Sonarstoß aus, der keine Bewegungen zeigte. Nur die roten eierförmigen Objekte lagen unbeweglich wie pulsierende Bluttropfen auf Murdocs imaginärem Bild.
Den Blick starr auf das Zentrum des Gewölbes gerichtet, fasste sich der Soldat mit der einen Hand an den Rücken, wo sich der Kompaktbehälter befand. Mit der anderen Hand ließ er sein Neutronengewehr los, das langsam durch das Vakuum zu Boden sank.
Bei dem Kompaktbehälter handelte es sich um ein Transportgefäß, das alle Arten von Objekten transportieren konnte. So wie der Cheops Mark IV Kampfanzug gegen negative externe Einflüsse schützte, so konnte der Kompaktbehälter auch verstrahlte Objekte und ähnliche Dinge transportieren und nach außen abschirmen. Rein theoretisch konnte er sogar ein kleines schwarzes Loch transportieren. Er war nicht größer als ein normaler Spiel-Würfel und entfaltete bei Druckausübung auf eine der Würfelseiten sein volles Volumen.
Mit diesem Stück Technologie konnte Murdoc den Fötus transportieren.
Er entfaltete den Kompaktbehälter und nahm ihn am Griff, der sich nach dem Transformationsprozess an der oberen Seite des kubusartigen Objektes gebildet hatte.
Langsam bewegte er sich auf den Fötus zu und streckte seine rechte Hand aus, während er in der linken den Öffnungsschalter des Kompaktbehälters an dessen Griff betätigte.
In diesem Moment wurde Murdoc ruckartig nach hinten gerissen, so dass es ihm sämtliche Luft aus den Lungen presste. Völlig überrascht und fassungslos schaute er in die pechschwarzen Augen und das wulstige Gesicht eines Wächters – des fünften Wächters – der sich über seinem zu Fall gekommenem Körper aufbaute wie ein dunkles Gerüst aus Spinnenbeinen.
Wie ist er so schnell hergekommen, schoss es Murdoc durch den Kopf. Meine Waffe, ich brauche meine ...
Der markerschütternde Schlag eines Spinnenbeins traf seinen Helm und rammte ihn mit einem Krachen gegen den Boden des Gewölbes. Murdocs Kopf wurde gegen die Innenwand des Helms geschleudert.
Ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Doch er wollte nicht sterben. Nicht hier, im düsteren grünlichen Licht der Höhle eines Asteroiden irgendwo im Aaron-Schwarm. Er fuhr seine Talusklinge aus, während der Wächter ihm mit seinen Spinnenbeinen zusetzte.
Er wollte zuschlagen, doch sein Arm bewegte sich nicht. Er stellte fest, dass der Wächter mehrere seiner Spinnenbeine auf seine Hand stemmte.
Murdoc biss die Zähne zusammen. Die Hand ließ sich nicht bewegen, der Wächter war zu stark. Murdoc wartete auf weitere Schläge auf seinen Helm, doch der Wächter schien seine ganze Taktik geändert zu haben. Langsam sank die graue Masse auf Murdoc herab, die den Körper des Wächters darstellte.
Weitere Spinnenbeine schienen ihn von allen Seiten zu umfassen, so dass sich Murdoc nicht mehr rühren konnte. Er war gefangen im festen Griff des Wächters.
Dann kam der Schmerz.
Murdoc schrie, bevor er realisierte, woher dieser kam. Der Wächter zog mit aller Kraft seine Spinnenbeine an sich, um ihn zu zerquetschen.
Der robuste, aber dennoch elastische Cheops Kampfanzug war aus einem Material, das jegliche Projektilkugel sowie diverse energetische Geschosse ohne weiteres abblocken oder absorbieren konnte wie eine kugelsichere Weste. Das Material verhärtete sich in dem Moment wo eine Kugel einschlug mit einer Geschwindigkeit, die schneller als die der Kugel selbst war und ließ diese einfach abprallen. Geschosse aus Energiewaffen, ob mit Plasma betriebene Waffen oder Tachyonlanzen, wurden weitestgehend absorbiert und nach Möglichkeit sogar in Anzugenergie umgewandelt.
Doch bei langsamem aber festem Druck wie in diesem Falle interpretierte der Anzug keine Gefahr.
Murdoc bekam keine Luft mehr. Sterne tanzten über sein Blickfeld.
Jetzt mach was, Soldat. Handle, sonst verreckst du. Die innere Stimme durchwehte Murdoc wie die Luft, die seinen Lungen entwich.
Der Anzug. Was kann man mit dem Anzug anstellen?
Wie in Zeitraffer spielten sich die verschiedenen Funktionen und Anwendungen des Cheops Mark IV Kampfanzuges in Murdoc Kopf ab, die von einem Techniker während seiner Ausbildung einmal erläutert worden waren.
Projektilschutz, Strahlenschutz, Kom-Einheit, Vis-Einheit, Skin-Connector, Umgebungsanpasser, Gravitationsstiefel ...
Umgebungsanpasser. Das war die letzte Möglichkeit. Der Umgebungsanpasser war ursprünglich eine automatische Funktion des Anzugs, seine Oberfläche der der Umgebung anzupassen. Dies allein ermöglichte dem Benutzer von den vielen Anwendungsbereichen des Anzugs zu profitieren. Man konnte sich auf einem Gasriesen aufhalten, in Säure baden oder auf einem Eisplaneten übernachten. Der Anzug produzierte immer genau die Gegenmaßnahme, die zum Überleben notwendig war. Befand sich Säure auf dem Anzug, wurde sofort eine starke Base zur Neutralisation generiert. Genauso kühlte der Anzug bei enormer Hitze ab und fing weis zu glühen an, wenn die Temperaturen unter fünftausend Grad Celsius gingen.
Der Umgebungsanpasser konnte manuell beeinflusst werden, was jedoch nicht ratsam war, da es dem Anzug permanenten Schaden anrichten oder sogar zur Kollabierung des elastischen Exoskeletts führen konnte, wenn die äußeren Einflüsse der Umgebung nicht der Wirkung des Anpassers entgegenwirkten.
Doch dies war ein Notfall und Murdoc musste es riskieren, denn er hatte keine andere Wahl.
Eine erneute Woge der Schmerzen überfloss ihn, doch Murdoc hatte keine Luft mehr zu schreien. Er versuchte das Knacken einiger Rippen in seinem Oberkörper zu ignorieren, schloss die Augen und aktivierte sein Vis.
Alles geschah in weniger als einer Sekunde.
Murdoc betätigte per Gedanke die manuelle Umgebungsanpasser-Bedienung und erhöhte die Außentemperatur seines Anzugs auf tausend Grad. Ein Warnsignal, das die Umrisse des Exoskeletts seines Anzugs orange blinkend darstellte, erschien in seinem Sichtfeld.
Murdoc ignorierte es.
Es funktionierte. Der Wächter lockerte seinen Griff um Murdocs Oberkörper. Doch er ließ nicht ganz von ihm ab. Einige Spinnenbeine lösten sich von Murdoc und begannen wilder denn je auf seinen Körper einzuschlagen. Die wulstige Fratze des Wächters hatte sich zu einem verzerrten Gebilde verändert und der Mund des Wesens war zu einem schwarzen Loch aufgerissen.
Murdoc biss die Zähne zusammen dass es knirschte und erhöhte die Temperatur auf dreitausend Grad. Die orange blinkenden Lichter des Exoskeletts in seinem Blickfeld wurden mehr und die Umgebung um Murdoc erstrahlte in einem gelben Licht. Der Anzug schien sich knisternd zusammenzuziehen, doch was Murdoc hörte waren lediglich die Schläge des verschmorenden Wächters.
Mit einem Schrei löste sich der Soldat aus dem Griff und bohrte mit voller Wucht die Talusklinge in das rechte Auge des Wächters. Die Kreatur zuckte und vollführte mehrere unkoordinierte Hiebe mit seinen vorderen Spinnenbeinen. Diese Zeit nutzte Murdoc aus, um sich aufzurichten. Er reduzierte die Außentemperatur seines Anzugs augenblicklich auf Normaltemperatur und stellte den Umgebungsanpasser auf Automatik.
Er stellte fest, dass die äußeren Enden der Spinnenbeine des Wächters vollkommen verschmort waren und seine wulstigen Körper langsam zu Boden zwangen.
Voller Aggression hieb Murdoc mehrfach auf das Torso des Wächters ein, ohne auf die dunkle, zu allen Seiten wegspritzende Flüssigkeit zu achten.
Der Wächter sackte in sich zusammen und bewegte sich nicht mehr.
Keuchend stand Murdoc mit ausgefahrener Talusklinge über dem Kadaver und starrte immer noch voller Rage nach unten. Er merkte, dass er am ganzen Körper zitterte und sein Oberkörper verursachte stechende Schmerzen.
Ein leiser Schrei entwich seinem Mund, als das Karndalf-Signal ertönte.
»Verflucht noch mal! Erschrecken sie mich nicht schon wieder so!«, platzte es aus ihm heraus, bevor sich Dr. Adelfing zu Wort melden konnte. Dieser ignorierte seinen Gefühlsausbruch und sprach mit seiner markanten giftig klingenden Stimme. »Gute Arbeit, John Casper. Wir dachten schon kurzzeitig sie würden ... uns enttäuschen. Ihre Lebenszeichen waren vorübergehend ... bedenklich«.
Murdoc ballte die Hände zu Fäusten und ließ seine Talusklinge am rechten Arm einfahren.
»Und nun beenden sie ihre Mission. Beschaffen sie einen Fötus und vernichten sie die anderen«, fuhr Adelfing fort.
»Vernichten sie die ... anderen? Meine Mission lautete ...«
»Ihre Mission«, schnitt Adelfings Wort durch Murdocs Satz wie ein Messer, »wurde soeben aktualisiert.«
»Warum müssen sie zerstört werden? Was spielt es für eine Rolle ob ...«
Adelfings Stimme erhob sich. »Widersetzen sie sich nicht länger den ausdrücklichen Befehlen des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses! Bringen sie drei Sprengladungen an geeigneten Positionen an und begraben sie damit die restlichen Föten! Wenn sie ein weiteres Mal die Befehle des Zusammenschlusses in Frage stellen, bringe ich sie vor das Kriegsgericht!«
Die Verbindung wurde beendet.
Murdoc war wütend, doch er hatte keine Wahl, er musste gehorchen.
Er führte mehrere Sonarstöße aus, bevor er sich erneut dem Zentrum des Raums näherte.
Dieses Mal wurde er nicht völlig unerwartet nach hinten gerissen und er konnte sich dem Fötus nähern. Er verstand nach wie vor nicht, wie der Wächter seinem Sonar hatte entgehen können. Doch das spielte jetzt keine Rolle.
Vorsichtig berührte er den Fötus an der Unterseite mit seinem Handschuh.
Er fühlte sich sehr weich und zerbrechlich an. Langsam aber bestimmt hob er das eierförmige Objekt, das mit einer grünlichen Maserung überzogen war und führte es in den Kompaktbehälter ein. Grünlich, fluoreszierende Tropfen schwebten langsam aus dem Becken in das Gewölbe. Murdoc verschloss den Behälter und befestigte ihn wie einen kleinen Rucksack an der dafür vorgesehenen Halterung am Rücken seines Anzugs.
Die Energie seines Anzugs hatte besonders unter dem Modifizieren des Umgebungsanpassers gelitten und betrug nur noch vierundzwanzig Prozent. Sonarstöße mit großer Reichweite waren für Murdoc nun sowieso außer Frage, nur noch kleine Reichweiten und wenige gezielte Topografiescans blieben ihm noch übrig. Er konnte froh sein, wenn er lebendig aus der Höhle kommen würde, gerade jetzt, wo er noch die Sprengladungen anzubringen hatte. Ihm lief die Zeit davon und er wusste nicht, wie lange die Energie des Anzugs ihn noch mit Luft und Strom für die Gravitationsstiefel versorgen würde. Er musste sich beeilen.
So schnell er konnte suchte er sich mit einigen gezielten Topografiescans Positionen aus, an denen er drei Sprengladungen platzieren konnte und setzte sich dann in Bewegung.
Murdoc verstand nun noch weniger, was das alles zu bedeuten hatte. Er kannte Missionen durch Erzählungen in der Kantongarde, bei denen die Teams für Wissenschaftler unter gefährlichen Situationen Gesteins-oder Pflanzenproben beschaffen mussten. Doch immer dienten diese Beschaffungen einem klaren Zweck. Die Erforschung einer Pflanzenspezies, die Herstellung eines Krankheitsheilmittels. Doch die Beschaffung eines lebendigen Objekts unter der Koordination des mysteriösen Dr. Adelfing war ihm von Beginn an seltsam vorgekommen.
Doch warum mussten diese Objekte nun allesamt vernichtet werden? Was wurde dadurch bezweckt?
Murdoc erreichte die erste Stelle und platzierte eine Sprengladung. Die Ladungen gehörten zum Standard-Equipment eines Karndalf-Soldaten und wurden normalerweise benötigt, um beispielsweise verschüttete Zugänge frei zu sprengen. Drei dieser Ladungen würden vollkommen ausreichen, um die komplette Struktur des Höhlensystems zu zerstören und alle Föten zu begraben, die sich darin befanden.
»John.«
Für einen entsetzlichen Moment dachte Murdoc, die monotone Stimme würde direkt in seinem Kopf erklingen, wie von einem Geist dort hinein platziert.
Doch er überhörte nicht das leise Knistern des Team-Koms am Ende des Wortes.
»Giebels? Giebels, sind sie das? Sagen sie was Giebels! Sprechen sie schon!«
Das nervtötende leise, unaufklärende Rauschen des Team-Koms war fast schlimmer als die ausbleibende Antwort.
Murdoc merkte, dass er die Luft angehalten hatte und atmete langsam aus, als wolle er damit vermeiden, die schreckliche Stille in seinem Helm und um ihn herum zu brechen.
Das Vis alarmierte über die Zwanzig-Prozent-Grenze der Anzugenergie, die soeben erreicht worden war.
Murdoc nahm ruckartig die zweite Sprengladung aus seinem Gürtel und setzte sich in Bewegung.
Er passierte mehrere kleine Gewölbeabschnitte, in denen sich weitere Föten befanden, bis er an der nächsten geeigneten Sprengstelle ankam. In diesem Gewölbe waren besonders viele Rinnen mit grünlicher Masse, die den Raum heller beleuchteten als Murdoc es bisher gesehen hatte. Er platzierte die Sprengladung und ging zügig weiter.
Als er die dritte Sprengladung anbringen wollte, knisterte sein Team-Kom kurz laut auf und ließ ihn zusammenzucken.
»Giebels?«, flüsterte er kaum hörbar.
Der Schein der Pulslampe auf seinem Helm schweifte über den Boden und entblößte eine Gesteinsformation, die Murdoc an eine Fratze mit Katzenohren erinnerte.
Du bist der letzte! Alle sind Tot außer dir! Du bist ganz allein im Dunkeln und keiner wird dir helfen! Die Fratze schien Murdoc mit einer spöttischen Kinderlied-Melodie zu besingen.
»Leck mich«, murmelte er und drehte sich in Richtung Wand, um die letzte Sprengladung anzubringen.
Da er keine Befehle über einen Zeitcountdown erhalten hatte, hatte er bei sämtlichen Sprengladungen die Fernzündoption aktiviert. Sobald er den Asteroiden verlassen hatte, würde er die Ladungen per Gedankenbefehl über das Vis zünden. Er konnte nicht riskieren, noch länger auf dem Asteroiden zu verweilen. Drei Sprengladungen würden unter Umständen sogar den ganzen Felsbrocken zerschmettern.
Seine Aufgabe hier war erledigt.
So schnell Murdoc konnte machte er sich auf den Weg zu dem senkrechten Tunnel, den Giebels und er beim Abstieg heruntergekommen waren. Murdoc wollte nur noch weg von hier. Weg von der Dunkelheit, weg von den Föten, weg vom fluoreszierenden, grünlichen Licht. Er hastete so schnell es seine Gravitationsstiefel ermöglichten durch das verwinkelte Höhlensystem mit den vielen Föten. Immer wenn er einen Gang passierte, in dem keine Rinne mit grünlich schimmerndem Licht war, verspürte er das Bedürfnis, sich umzudrehen und den Weg abzuleuchten. Er hatte das Gefühl, als würde eine Präsenz, wie der düstere Schleier der Dunkelheit hinter ihm alles verschlucken und in Nichts auflösen.
Einige Kurzstrecken-Umgebungssonarstöße zeigten nichts weiter als die ruhenden Föten. Doch Murdoc wusste immer noch nicht, was mit Foster, Lanzett, Akriba und seit kurzem nun Giebels passiert war.
Murdoc erschauerte.
Sein Neutronengewehr! Er hatte sein Neutronengewehr in der Fötuskammer nach dem Kampf mit dem fünften Wächter liegen lassen. Er verfluchte sich einmal und abermals. Wie hatte ihm nur so etwas passieren können? Noch dazu in einer derartigen Situation! Abgesehen davon, dass er nun keine Fernkampfwaffe mehr besaß, hatte er nun zur Beleuchtung des Höhlensystems nur noch die etwas schwächere Pulslampe auf seinem Kampfpanzer-Helm zur Verfügung.
Vor Wut über sich selbst schrie er laut auf in seinem Helm, ohne an Geschwindigkeit nachzulassen. Es gab kein Zurück mehr. Und er hatte bereits mehr als einen Wächter mit allein seiner Talusklinge besiegt. Doch eine weitere Aktion wie die Modifikation des Umgebungsanpassers würde seine Anzugenergie in extrem kritische Bereiche bringen. So etwas konnte er sich nicht noch einmal erlauben.
Murdoc fluchte ein letztes Mal und erreichte zu seiner Erleichterung den senkrechten Höhlengang, der Giebels und ihn zur Fötus-Kolonie geführt hatte.
Ohne großartig abzubremsen setzte Murdoc zu einem waghalsigen Sprung in Richtung des Tunnels an, der etwa drei Meter breit war.
Zu seinem Erstaunen war ihm der Sprung relativ gut gelungen und er schwebte mittig durch den Durchgang, drehte sich um neunzig Grad und fand mit seinen Gravitationsstiefeln halt.
Genau in dem Moment, als seine Füße zu Boden kamen, schoss ein lautes Zischen des Team-Koms durch Murdocs Helm.
Er keuchte die für den Sprung angehaltene Luft laut aus, um sich von dem Schock abzulenken. Er hätte das Team-Kom auch ausschalten können, doch das wollte er nicht riskieren. Wer wusste, ob sich Giebels oder jemand von den anderen am Ende nicht doch noch meldete?
Murdoc hastete weiter den dunklen Tunnel nach oben. Die Zehn-Prozent-Grenze der Anzugenergie wurde soeben unterschritten. Er konnte es schaffen.
Er würde es schaffen! Von oben aus war es nicht mehr weit bis zum Extraktionspunkt. Aber was war mit Giebels? Sollte er nach ihm suchen? Verdammt, sollten sie ihn Feigling nennen, sollten sie ihn beschimpfen, was auch immer da oben passiert war, Murdoc wollte nicht das gleiche Schicksal erfahren wie die anderen, dessen war er sich sicher. Seine Anzugenergie würde sowieso nicht mehr reichen. Er musste zum Extraktionspunkt.
Wie ein Kribbeln am Rücken verspürte Murdoc wieder diese Präsenz, die hinter ihm alles zu verschlingen schien. Er schaute nicht zurück.
Die Pulslampe auf seinem Helm setzte kurz aus und ging wieder an. Einen Moment war er in absoluter Dunkelheit gewesen.
Nein, nicht meine Pulslampe. Nicht die Lampe! Die Lampe muss halten!
Die Standard-Pulslampen auf den Neutronengewehren oder an Cheops Mark IV Helmen der Kantongarde hielten vier Monate in brennendem Zustand. Diese Lampe konnte einfach nicht den Geist aufgeben.
Die Dunkelheit! Sie verschlingt dich und löst dich in Nichts auf!
Murdoc verscheuchte die singende Fratze mit den Katzenohren aus seinem Gedächtnis und rannte weiter.
Bald kam er dort an, wo Giebels und er Foster Lagebericht erstattet hatten, bevor sie den Kontakt zu dem Missionsleiter verloren hatten.
In dem Moment als Murdoc aus dem Tunnel heraustrat, setzte seine Pulslampe aus. Doch er hatte etwas gesehen. Den Umriss einer Gestalt, kurz bevor die Lampe ausgegangen war, direkt gegenüber von ihm.
Diesmal war Murdoc zu abgelenkt um Zeit für Angst zu haben. Instinktiv ließ er sich in die Hocke sinken und ließ seine Talusklinge ausfahren.
Die Pulslampe ging wieder an.
Da war die Gestalt vor ihm, etwa fünf Meter entfernt, reglos. Murdoc überlegte sich schon, ob er gleich angreifen oder warten sollte, doch die Stimme brachte ihn wieder zu Sinnen.
»John.«
Die monotone Stimme Giebels’ schien in Murdocs Helm zu echoen.
»Giebels! Oh Gott, Giebels, was bin ich erleichtert sie zu sehen! Giebels, ich habe den Fötus! Lassen sie uns von hier verschwi ...«
»John.« Giebels Stimme war fast doppelt so laut wie zuvor. »Sie sind alle tot, John. Alle. Foster, Lanzett, Akriba. Alle tot.«
Murdoc starrte ihn an. Er konnte das Gesicht nicht erkennen, weil sich das Licht seiner Pulslampe auf Giebels Helm grell spiegelte.
Er öffnete den Mund, doch bevor er etwas erwidern konnte, zerbrach Giebels Helm mit einem lautlosen Ruck und sein Kopf explodierte im Vakuum. Sein Cheops Mark IV Kampfpanzer sank langsam zu Boden und entblößte den dahinter stehenden Mörder. Ein menschengroßes Wesen, das Murdoc noch nie gesehen hatte, mit einer blutigen Klinge in der Rechten, legte den Kopf leicht schief und schien rückwärts in die Dunkelheit zu schweben und mit ihr zu verschmelzen, als wäre es nie da gewesen.
Murdoc hörte ein Wimmern. Die Tatsache, dass es sein eigenes war, riss ihn aus seinem Schockzustand. Hektisch und voller Anspannung beleuchtete er den Abschnitt, in dem er sich befand. Von dem Wesen war keine Spur zu sehen. Blutpartikel waren im Licht zu erkennen, die unendlich langsam zu Boden schwebten. Der Lichtstrahl streifte Giebels’ Körper, oder das, was von ihm noch übrig war. Murdoc drehte den Kopf schnell zur Seite und versuchte seinen Würgereiz zu unterdrücken.
Er musste sich jetzt konzentrieren. Er musste es verdrängen so gut es ging.
Immerhin war er noch am Leben. Und er wollte es bleiben.
Es musste sich um ein Zodiac gehandelt haben, ein Sucherwesen. Eines der Wesen, die schon vor dem Einzug der Andragon-Kantone im Arym Var-System gewesen waren.
Es durfte kein Zodiac auf diesem Asteroiden geben! Die Missionsvoraussetzung war absolute Sicherheit bezüglich der Konditionen. Die Sicherheit, dass bestimmte Variablen vorhanden, und andere nicht vorhanden waren. Die Sicherheit, dass mit Widerstand durch Wächter gerechnet werden musste und sich aber kein Zodiac auf dem Asteroiden befand. Was hatte das zu bedeuten?
Es war absolut ausgeschlossen für die perfekte Missionsplanung des Karndalf-Kantons, dass eine Variable übersehen wurde.
Murdoc wusste, dass das Zodiac ihn auch töten würde. Es war nur die Frage, wann und wo es erneut zuschlagen würde. Zodiacs töteten seit dem Einzug der Andragon-Kantone Menschen. Dabei war kein bestimmtes Prinzip zu erkennen. Sie erschienen unregelmäßig an unterschiedlichsten Orten – meist Orte völlig unabhängig von strategischen Bedeutungen – und schlugen dann zu. Sie waren gefürchtet selbst im Karndalf-Kanton, welches für seinen technologischen Fortschritt, seine Sicherheit und seine gute Organisation bekannt war. Soldaten erzählten sich gegenseitig Schauermärchen in Kasernen oder auf Kreuzern, doch getötet hatte noch nie jemand ein Zodiac.
Die alles auflösende Dunkelheit hinter ihm, das Gefühl einer bösen Präsenz, alles Schwachsinn, versuchte sich Murdoc einzureden. Das Böse hat ein Gesicht in diesen Gewölben.
Er rannte los. Da er der einzig Überlebende war, würde das automatische Perser-Shuttle seinen Teleport-Befehl ausführen, sobald er in Reichweite war. Zumindest konnte Murdoc das nur hoffen, ansonsten war er verloren.
Doch musste er den Fötus überhaupt zu seinem Shuttle bringen? War da nicht die Marx, die irgendwo in unmittelbarer Nähe des Asteroiden sein musste? Warum griff sie nicht in das Geschehen ein?
Als hätte jemand seine Gedanken gelesen, ertönte das Karndalf-Signal in seinem Helm und die monotone Stimme erklang, die Murdoc schon in der Nähe des Fötus einmal gehört hatte. »John Casper Murdoc, hier spricht die Missionsleitstelle der Olympfregatte Marx unter der Führung von Kantonvorsitzender Amelie Sakarelij. Ihre Anweisung lautet nun, sich so weit wie möglich zur Oberfläche des Asteroiden zu bewegen. Da das Asteroidenfeld des Aaron-Schwarms zu dicht für eine Olympfregatte der Größe der Marx ist, befinden wir uns am nexusnnäheren Rand des Aaron-Schwarms und werden sie von der Oberfläche teleportieren. Die Struktur des Asteroiden weist ein uns unbekanntes Mineralienvorkommen auf, das den Richtstrahl des Teleporters der Marx noch blockiert. Aktualisieren sie ihre Topografiedaten und suchen sie umgehend den nächstmöglichen Weg an die Oberfläche. Ich brauche sie nicht daran erinnern, dass der Fötus von unsagbarer Wichtigkeit für die Andragon-Kantone ist.«
Das war also der Grund, dachte Murdoc.
Der Nexus war die Sonne des Arym Var-Systems und stellte das Zentrum dar. Positionsangaben erfolgten durch Angabe von dreidimensionalen Koordinaten, wobei der Nexus der Nullpunkt des Koordinatensystems war. Die Marx befand sich am nexusnäheren Rand des Aaron-Schwarms und konnte nicht weiter in das dichte Asteroidenfeld eindringen.
Murdoc antwortete nicht auf die Nachricht sondern führte im Laufen mehrere Topografiescans durch, um sich den bestmöglichen Weg an die Oberfläche zu suchen. Zuerst dachte er, dass es überhaupt keinen Weg gab. Doch dann entdeckte er einen kleinen Durchgang, nicht größer als einen Meter, der über mehrere längliche Tunnelwege zu erreichen war. Die Wege gingen steil bergauf.
Das Alarmsignal des Anzugs ertönte. Die Sieben-Prozent-Grenze war soeben unterschritten worden. Murdoc hatte nicht mehr viel Zeit. Doch die brauchte er auch gar nicht, denn er wollte sofort weg von hier und von dem Zodiac.
Murdoc erreichte den ersten länglichen Tunnelabschnitt und hastete hindurch so schnell er konnte. Während er lief, sah er gedanklich immer und immer wieder den Moment, in dem das Zodiac mit einem einzigen Dolchhieb den Helm von Giebels’ Cheops Mark IV zerschmettert hatte. Die Szene schien sich in seinem Kopf zu wiederholen wie ein Endlosvideo.
Murdoc merkte, dass er absolut nichts verspürte außer dem enormen Drang, diesem dunklen Ort zu entfliehen. Er verspürte nicht einmal Trauer um Giebels oder seine anderen Teamkollegen, wenn er es versuchte. Er schien alles komplett verdrängt zu haben und hatte nur sein eines Ziel vor Augen: am Leben zu bleiben.
Der Sonarstoß den er auslöste hatte wegen der geringen Anzugenergie mittlerweile eine so geringe Reichweite, dass er sich weitere Stöße genauso gut sparen konnte, dachte Murdoc. Doch er machte trotzdem einen weiteren.
Sein Instinkt hatte sich gelohnt, denn er sah am Vis ein menschenähnliches Objekt mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sich zurasen. Voller Entsetzen stellte er fest, dass sich das Objekt in einer Position bewegte, die sich mitten im massiven Felsgestein des Asteroiden hätte befinden müssen. Wie war so etwas möglich?
Murdoc hatte das Gefühl, dass er sich direkt in der Höhle des Löwen befand und dieser hatte ihn entdeckt. Wer immer ihn und sein Team in diese Situation gebracht hatte, wer immer ihnen die Anwesenheit des Zodiacs verschwiegen hatte, er verfluchte diese Person.
Als er sich mit gezückter Talusklinge in die Richtung drehte, aus der das Objekt auf ihn zuraste, schien dieses völlig ohne Geschwindigkeitsverlust ebenfalls die Richtung zu verändern.
Es kann mich auch klar und deutlich sehen, dachte sich Murdoc verbissen.
Der rote Punkt auf seinem Vis bewegte sich außerhalb der Reichweite. Weitere Sonarstöße zeigten nichts mehr in der Umgebung.
Murdoc keuchte und setzte sich wieder in Bewegung in Richtung der Oberfläche. Das regelmäßig erklingende Warnsignal seines Cheops Panzers ignorierte er mittlerweile und nahm es nur noch als fernes periodisches Summen wahr.
Er kam durch einen schmalen Durchgang, der um neunzig Grad nach rechts führte und in einen weiteren länglichen Tunnel führte, der noch steiler bergauf ging als der vorherige.
Am Ende des Tunnels stand das Zodiac wie eine schwarze Mumie.
Murdoc stockte. Er wusste, dass das Zodiac ihm den einzigen Weg versperrte, den es zur Oberfläche gab. Gleichzeitig hatte er nur noch wenige Erdminuten, bis seine Anzugenergie aufgebraucht sein würde.
Wie eingefroren stand er da und fixierte seinen Blick auf das regungslose Zodiac. Die Situation bot ihm keine andere Möglichkeit.
Er fasste allen Mut zusammen und rannte laut brüllend mit erhobener Talusklinge auf die schwarze Mumie am Ende des Tunnels zu.
Als Murdoc etwa zehn Meter von ihr entfernt war, schimmerte die Gestalt in einem pulsierenden Grün auf und verschwand im Boden des Tunnels.
Murdoc, erschrocken und erleichtert zugleich, zögerte nicht und rannte weiter durch einen Durchgang in den nächsten Tunnel. Dieser war etwa dreimal so lang wie der vorherige und endete an einer knapp einen Meter breiten Öffnung nach schräg oben, durch die man die Sterne des Weltraums scheinen sah.
Ich habe es fast geschafft! Ich bin fast bei der Oberfläche des Asteroiden!, schoss es Murdoc durch den Kopf. Doch er wusste insgeheim, dass es noch nicht vorbei war. Das Zodiac würde ihn nicht laufen lassen. Es wollte ihn täuschen. Hatte es sich fort teleportiert? Eine Teleportationsoption nur durch einen Anzug betrieben? Kein Anzug dieser Welt konnte die Energie aufbringen, einen Teleportationsvorgang durchzuführen, selbst wenn diese nur drei Meter betrug. Außerdem würde das immer noch nicht erklären, wie sich das Zodiac durch die Asteroidenwände bewegen konnte.
Murdoc rannte mit gezückter Talusklinge dem Durchgang zur Oberfläche entgegen.
Es war wohl erneut sein Instinkt, der ihn frühzeitig registrieren ließ, dass das Zodiac direkt hinter ihm völlig lautlos in grünlichem Licht aus dem Boden schoss.
Murdoc drehte sich um seine Achse und vollführte ohne zu zögern einen kraftvollen seitlichen Hieb, mit dem er das Wesen zu überrumpeln glaubte. Als die Talusklinge auf den Oberkörper des Zodiacs eintraf, strahlte ein grünlich pulsierendes Licht von dessen Körper auf. Die Talusklinge schien geradewegs ohne jeglichen Widerstand durch das Zodiac hindurch zu gleiten. Der eben noch geringe Funken von Triumph vor Murdocs Schlag wich einem Gefühl von Fassungslosigkeit. Nicht Teleportation, Phasenveränderung, schoss es ihm durch den Kopf. Das Zodiac musste eine enorm hoch entwickelte Technologie besitzen, etwas Derartiges vollführen zu können. Murdoc verstand jetzt, warum noch nie ein Soldat ein Zodiac getötet hatte.
Das Licht der Pulslampe auf seinem Helm fiel in das Gesicht des Wesens. Stechende kleine, silberne Pupillen schienen ihn durch längliche schwarze Schlitzaugen aufzuspießen. Anstatt eines Helms trug das Wesen eine Art Maske, die vor dem Ort, an dem sich der Mund befinden sollte, mehrere horizontale Schlitze aufwies. Der Kopf war so groß wie der eines Menschen, doch anstelle von Haaren befand sich eine chromfarbige Schicht auf dem Schädel, der das grünlich pulsierende Licht und das von Murdocs Lampe widerspiegelte.
Murdoc hatte in der Sekunde keine Angst, in der alles passierte. Er schien mehr fasziniert zu sein von dem Wesen, das Giebels und seine anderen Teamkollegen getötet hatte. Es waren die Augen des Zodiacs, die Murdoc aus seiner Faszination rissen. Als hätten sie während seinem Schlag mit der Talusklinge noch einen Ausdruck von Belustigung widergespiegelt, so schienen sie sich zu verziehen und nun lediglich Zorn auszudrücken.
Murdoc war intelligent genug zu wissen, dass er es mit einem Gegner zu tun hatte, gegen den er keine Chance hatte.
Wie durch eine Eingebung aktivierte er sein Vis und steuerte per Gedanke seine Gravitationsstiefel an, die Gravitation umzukehren und kurz um das Fünffache zu verstärken, während er sich schräg nach hinten fallen ließ. Die Wirkung dieser Einstellung zeigte sich dadurch, dass Murdoc um etwa dreißig Meter schräg nach hinten und somit direkt den Tunnel hinauf katapultiert wurde. Im Moment des Abstoßens sah er fast beiläufig die Klinge des Zodiacs, die wie eine riesige Nadel in einer unglaublich schnellen Geschwindigkeit nach vorne ins Leere fuhr, wo Murdoc gerade noch gestanden hatte.
Dann schien das Zodiac am ganzen Körper zu beben und setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.
Die Aktion hatte drei der restlichen sechs Prozent von Murdocs Anzugenergie verbraucht. Doch er war dem Durchgang zur Oberfläche auch ein gutes Stück näher gekommen. Den Rest musste er laufen. Vor dem Landen invertierte er erneut die Gravitation seiner Stiefel und setzte schließlich stolpernd auf, um gleich darauf seinen Weg fortzusetzen so schnell er konnte.
Mochte Gott ihn den Durchgang erreichen lassen, bevor das Zodiac ihn erwischte, dachte Murdoc.
Auf der Olympfregatte Marx saß Dr. Reynold Adelfing mit verzerrtem Gesicht vor fünf großen Plasmamonitoren und wischte sich die Schweißtropfen mit einem Tuch von seiner Glatze. Ihn interessierte lediglich einer dieser Monitore. Der direkt vor ihm zeigte die Analysewerte, die der Zentral-Scanner der Marx vom letzten Überlebenden des Spezialteams A144 unter der ehemaligen Leitung von Sergeant Foster lieferte. Neben den vitalen Anzeigen der Person und dem Status des Cheops Mark IV, der Adelfing noch mehr anspannte, sah man ein 3D-Modell der Umgebung. Der Zentral-Scanner der Marx tastete regelmäßig den anvisierten Asteroiden im Aaron-Schwarm per Ultra-Sonarstoß ab und lieferte so eine Quelle an Informationen, die das 3D-Modell ermöglichten.
Adelfing konnte eine schematische Darstellung des Inneren des Asteroiden sehen. Auch konnte er den Soldaten sehen, wie er vor einem Zodiac floh.
»Beeil dich ... Beeil dich!« keuchte Adelfing und wischte sich mehrere Schweißtropfen von der Stirn.
Die fünf Monitore waren in einem Seiteneinschnitt auf der riesigen Brücke der Olympfregatte Marx in Augenhöhe eines stehenden Menschen angebracht. Darunter befanden sich mehrere Bedienungskonsolen mit Überwachungs- und Kommunikationsfunktionen sowie Kontrollmechanismen, die Zugriff auf fast alle Funktionen der Cheops Mark IV Kampfpanzer ermöglichten.
Rein theoretisch konnte Adelfing die Sauerstoffzufuhr in einem Kampfpanzer abstellen oder über den Skin-Connector direkt im Blickfeld eines Soldaten Bilder nach Belieben projizieren. Über derartige Funktionen verfügte lediglich der Andragon-Kanton-Zusammenschluss.
Soldaten, die in einen Cheops-Panzer schlüpften und ihr Gehirn mit dem Skin-Connector an den Anzug anschlossen, hatten keine Ahnung von den Möglichkeiten des Zusammenschlusses. Doch es war notwendig, dass der Zusammenschluss über derartige Optionen verfügte, um in kritischen Operationen wie diesen aktiv eingreifen zu können.
Adelfing hatte die ganze Mission schon seit ihrem Beginn beobachtet und der Verlauf gefiel ihm überhaupt nicht. Im Grunde war es nie geplant gewesen, die Soldaten über die Anwesenheit der Marx in Kenntnis zu setzen. Doch es waren mehrere unerwartete Zwischenfälle ins Spiel gekommen.
Adelfing hasste unvorhersehbare Variablen. Eine Mission musste perfekt geplant und so ausgeführt werden können. Doch diese Mission war ein typisches Beispiel dafür, dass es oft nicht so lief wie man es wollte.
Es war geplant gewesen, dass die Soldaten den Fötus lokalisieren, die Marx ihn an Bord teleportieren und anschließend den Asteroiden mitsamt allen Zodiac-Sprösslingen – und ungewünschten Zeugen – vernichten würde. Geheimhaltung der Mission war hohe Priorität. Es sollte verhindert werden, dass ungewünscht Informationen an andere Kantone gelangen würden und unnötig für Unruhen sorgen würden.
Die Operation fand in enger Zusammenarbeit mit dem Karndalf-Kanton statt. Dies war nur möglich, weil die Kantonführerin Amelie Sakarelij eine enge Vertraute von Ravenberg war – dem neuen Führer des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses. Auf ihre Loyalität konnte laut Ravenberg gezählt werden.
Doch das erste Problem hatte sich offenbart, als sie den Aaron-Schwarm mit der Marx erreicht hatten. Das Asteroidenfeld erwies sich als zu dicht, um mit einer Olympfregatte auf den Zielasteroiden zusteuern zu können. Die Asteroiden des Aaron-Schwarms waren zudem sehr massiv und groß. Es stellte sich eine Fehlberechnung heraus. Die Energieressourcen, die benötigt gewesen wären, um die Asteroiden einfach mit Fregattenlanzen zu zerschießen und so das Ziel zu erreichen, stellten sich als unter dem akzeptablen Bereich heraus.
Deswegen waren sie auf das Soldatenteam angewiesen. Von dieser Entfernung und durch das massive Asteroidengestein konnte kein Objekt teleportiert werden. Der Fötus musste an die Oberfläche transportiert werden.
So konnten sie mit der Marx auch den Asteroiden nicht selbst zerstören und hatten sich per Interstellar-Kom bei den Soldaten als Andragon-Kanton-Zusammenschluss erkennbar machen müssen, um die Anbringung der Sprengsätze zu befehligen. Diese zu zünden war kein Problem für Adelfing, doch er war noch auf den Fötus angewiesen.
Das zweite Problem war das unerwartete Handeln des Soldaten Alfred Giebels gewesen. Ganz zu Adelfings Missgunst hatte sich der Soldat einem direkten Befehl des Zusammenschlusses widersetzt und so die Mission gefährdet.
Adelfing konnte weitgehend in die Funktionen des Cheops-Anzugs eingreifen, doch steuern konnte er die Soldaten nicht.
»Doktor!« Die Stimme der Kantonführerin ließ Adelfing so hochschrecken, dass er einen leisen Schrei von sich gab. Sie war ohne Vorwarnung hinter ihm aufgetaucht, wie sie es immer zu tun pflegte. »Sie kennen die Anordnungen von Herrn Ravenberg. Die Objekte müssen zusammen mit dem Zodiac liquidiert werden. Wenn sie noch länger warten, verlässt es vielleicht den Asteroiden! Zünden sie jetzt die Sprengladungen. Sie wissen, dass alle Zodiac-Sprösslinge in Arym Var zur Sicherheit aller Kantone ausgetilgt werden müssen. Die Chance, einen Sucher auf diese Weise mit Sicherheit töten zu können, erlangen wir vielleicht so schnell nicht wieder.«
Adelfing beherrschte sich, nicht einen tigerähnlichen Knurrlaut von sich zu geben. Seit Beginn der Mission sah Sakarelij ihm regelmäßig über die Schulter und meinte sich einmischen zu müssen. Ihr war das Kommando über die Olympfregatte Marx als Captain für diese Operation erteilt worden. Offiziere, Militärfanatiker, dachte Adelfing. Er hasste Sakarelij. Sie war für ihn lediglich eine Marionette. Sie kannte auch nur die halbe Wahrheit von Ravenbergs genialem Plan. Sie glaubte, der Fötus war von geringer Priorität und nur eine Art Spielzeug für Adelfing. Doch es steckte viel mehr dahinter, als sie oder überhaupt irgendjemand anders sich vorstellen konnte.
Ravenberg hatte nur ihm die Wahrheit anvertraut und er wusste das zu schätzen. Er würde seine Rolle spielen, wie sie für ihn vorgesehen war, dessen war sich Adelfing sicher.
Seine Stimme klang schneidend. »Captain Amelie Sakarelij.« Er rotierte ruckartig auf seinem Drehsessel herum und sah ihr in ihr faltiges Gesicht. »Ich brauche diesen Fötus«, sagte er gedehnt. Ein Schweißtropfen rann seine Schläfe hinunter. »Solange er sich nicht auf der Oberfläche des Asteroiden befindet, haben wir nicht die Möglichkeit, ihn zu teleportieren. Es kann sich nur noch um Erdsekunden handeln.« Er schwenkte seinen Sessel in die ursprüngliche Position zurück und ignorierte Sakarelij. Er spürte ihre stechenden Blicke geradezu in seinem Rücken, doch sie schwieg. Rein von der Befehlskette her war er ihr als Schiffswissenschaftler untergeordnet. Doch die außergewöhnlichen Umstände ermöglichten zu seinen Gunsten gleichermaßen außergewöhnliche Verhaltensmöglichkeiten.
Der Soldat auf dem Monitor erreichte den Durchgang an die Oberfläche. Unmittelbar hinter ihm war das Zodiac, doch es schien ihn knapp zu verfehlen.
»Da, sehen sie!« Adelfing hob die Hand und deutete mit seinem dürren Zeigefinger auf den Bildschirm. »Teleport vorbereiten! Bringen sie mir den Fötus! Dann können sie diesen Steinklumpen sprengen«, schrie er quer durch die Brücke der Marx und ignorierte die wütenden Blicke von Sakarelij, die mit verschränkten Armen dem betroffenen Offizier zunickte. Es war ihre Aufgabe Befehle zu erteilen, doch Dr. Adelfing setzte sich konsequent über diese Tatsache hinweg.
Murdoc hatte es geschafft und die Oberfläche des Asteroiden erreicht. Das schematische Bild vom Geschehen am Monitor Adelfings verschwamm in einer bizarren optischen Erscheinung – die Art und Weise, wie die Instrumente wie der Zentral-Scanner der Marx auf die Raumkrümmung eines Teleportationsvorgangs reagierten.
Unmittelbar danach wurden die Sprengladungen per Fernzündung gezündet. Das Monitorbild, das ein regloses Zodiac zeigte, wich einem grauen Flimmern.
Die Operation war abgeschlossen.
Wenige Erdminuten später betrat Dr. Adelfing die Teleporterstation. Einige Techniker befanden sich hinter erhöhten Konsolen am Ende des Raums und tippten einige Knöpfe ohne aufzusehen. Die kreuzförmig angeordneten Spulen an der Decke des großen quadratischen Raumes summten noch durch die Aufladung des kürzlich durchgeführten Teleportationsvorgangs. Teleporterstationen auf großen Olympfregatten wie der Marx oder auch der Sanctus und der Stronghold zählten zu den mächtigsten der Andragon-Kantone.
Die Reichweite der Richtstrahlen war groß und es bestand die Möglichkeit, sogar mechanische Objekte wie Planetarvehikel, Panzer oder kleinere Gleiter zu teleportieren.
Nun jedoch befanden sich lediglich der Soldat und zwei Menschen vom Transporterpersonal auf der großen flachen, silbernen Plattform in der Mitte des Raumes. Der Mann hatte seinen Cheops Mark IV Panzer bereits abgestreift und schien völlig außer Kräften zu sein. Die beiden vom Personal stützten ihn an den Seiten und führten ihn langsam zu Dr. Adelfing. Doch dessen Blick war auf den kubischen Behälter gerichtet, der neben dem Cheops Kampfanzug am Boden platziert war.
Adelfings Stimme klang mehr wie ein Flüstern. »Der Fötus.«
Entkräftet und keuchend stand Murdoc vor Adelfing und starrte ihn an.
»Sie! Sie haben gewusst, dass sich ein Zodiac in diesem Asteroiden befindet! Und sie haben uns trotzdem hineingeschickt! Das ... das Ganze war von Haus aus so geplant ... wir sollten gar nicht ...« Er stockte.
Adelfings Gesicht war regungslos, sein Mund formte einen dünnen Strich.
Sein Blick war immer noch auf den Kompaktbehälter mit dem Fötus gerichtet als er leise sagte: »Er ... ich habe gesagt, sie sollen mir den Fötus bringen, von ihm war nicht die Rede.« Er strich sich behutsam mit der flachen Hand über seine Glatze. Er lächelte dünn, als er an Murdoc vorbei auf den Kompaktbehälter zuging und einen Meter davor stehen blieb.
Einer vom Transporterpersonal ließ instinktiv die stützende Hand von Murdocs Seite und sah Adelfing nach.
»Bringen sie das umgehend in die Forschungsstation auf dem Schiff«, sagte Adelfing und legte einen Zeigefinger an sein Kinn.
Murdoc starrte mit offenem Mund ins Leere.
»Was ist mit ihm hier?« fragte der vom Transporterpersonal und deutete mit seinem Kopf in Murdocs Richtung.
»Ach ... mit ihm ...« Adelfing stand immer noch leicht lächelnd vor dem Behälter und runzelte schließlich die Augenbrauen ohne den Blick abzuwenden. »Bringt ihn ... weg. Zu den Zellen. Vielleicht brauchen wir ihn noch.«
Mit offenem Mund und den Kopf in Richtung Adelfing verdreht wurde John Casper Murdoc aus der Teleporterstation gezerrt.
Adelfing wandte sich an die schlanke Frau, die zum selben Zeitpunkt durch die Tür gekommen war. »Sieh dir das an, meine Liebe«, sagte er Lächelnd. »Es gibt Arbeit für uns.«