Читать книгу Arym Var - Dominik Michalke - Страница 7

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Kargan entschied, sich noch zügig zu rasieren, bevor er den Speisesaal betreten würde. Er hasste automatische Rasierer, deswegen benutze er einen alten Nassrasierer. Als er gerade in Gedanken über den sabotierten Generator grübelte, schnitt er sich mit dem Rasierer ins Kinn. Er fluchte, als er bemerkte, dass ein Bluttropfen aus dem kleinen Schnitt hervorquoll.

Warum bist du nur immer so ungeschickt, dachte Kargan und kramte nach einem Taschentuch in seinem Spind.

Langsam aber sicher merkte er, wie Müdigkeit über ihn kam. Er würde sich heute beherrschen müssen, im Kom-Tower nicht einzuschlafen.

Nachdem er sich gewaschen und seine stoppeligen braunen Haare kurz durchfrisiert hatte, verließ er das Quartier und steuerte die Treppe an, die in das Erdgeschoss führte.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Tür eines anderen Schlafquartiers öffnete und eine Frau mit langen blonden Haaren und einem Duschhandtuch herauskam. Er wusste, dass es sich um die Ärztin handeln musste, aber ihm war nicht nach Grüßen zumute. Zügig ging er die Treppe hinunter und betrat den Gemeinschaftsraum.

Anjiara war noch nicht da, aber Barg-Sa Gerents, der Sicherheitsoffizier, stand an der Theke und blickte zu Kargan auf. In der einen Hand hielt er einen halb gegessenen Kompaktriegel, während er mit der anderen so schnell mit dem Löffel in einer Tasse Kaffee herumwirbelte, dass braune Tröpfchen an den Rändern der Tasse herausspritzten.

Er kniff seine kleinen Augen zusammen und verzog sein rundes Gesicht zu einem Grinsen. »Morgen, Herr Funkoffizier! Gut geschlafen?« Er war kaum zu verstehen, weil er hektisch an einem Stück Kompaktriegel kaute. Kompaktriegel waren die Standard-Mahlzeit für Missionen wie diese. Sie hatten hohe Haltbarkeit und waren reich an ‚wichtigen‘ Nährstoffen, wie man so schön sagte. Zudem waren die Riegel, wie ihr Name schon verriet, sehr kompakt und somit in rauen Mengen zu lagern.

Kargan fand sie total öde.

»Morgen Barg-Sa. Geschlafen? Du bist gut. Wenn ich einmal aufgewacht bin, kann ich nicht mehr so schnell einschlafen. Aber wie ich mitgekriegt habe, funktioniert der Generator schon wieder.« Kargan stand vor der Theke und überlegte sich, ob er sich Kaffee oder einen Tee machen sollte. Im Grunde war es ihm einerlei, weil auf Andragon Outrange 15 eh alles nach Rotsand schmeckte, wie er fand.

Barg-Sa gab ein rohes Lachen von sich und trank aus seiner Kaffeetasse, ohne den Löffel herauszunehmen. »Ja, Mario hat die Sache erstaunlich schnell hinbekommen. Allerdings hatte er auch keine genaue Ahnung, wie so etwas entstanden sein könnte.«

»Warum wundert mich das jetzt nicht«, murmelte Kargan so leise, dass Barg-Sa es nicht verstehen konnte. Angesichts der Lautstärke, mit der Barg-Sa stets sprach, zweifelte Kargan sowieso daran, dass der ein besonders sensibles Gehör besaß. Er entschied sich für Kräutertee und goss sich Wasser auf.

Schmatzend fuhr Barg-Sa fort. »Er meinte, dass eventuell ein Energiestau im Flux eine derartige Erscheinung hervorrufen könnte.«

»Schwachsinn.«

»Wie meinen?« Barg-Sa wischte sich ein kleines Stückchen Riegel aus dem Vollbart.

»Äh, das glaube ich nicht«, erwiderte Kargan. »Hast du eigentlich schon den Expeditionsleiter darüber informiert? Ich finde diesen Vorfall schon wichtig genug, als dass man ihn ...«

weiter kam Kargan nicht, weil die Tür zum Speisesaal mit einem Zischen aufging. Anjiara kam herein, gefolgt von einer Person, die Kargan nur vom Sehen her kannte. Allerdings interessierte ihn diese Person herzlich wenig, weil sein Blick allein Anjiara galt.

Sie hatte ihre grünlichen Haare zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten und am Hinterkopf zusammengebunden. Zu seiner Überraschung trug sie ein bauchfreies beigefarbenes Top und eine lockere Hose mit Militärtarnmuster, die mit einem dicken schwarzen Gürtel an ihrer Hüfte Halt fand. Um ihren Hals konnte Kargan eine dünne silberne Kette erkennen, die ein kleines Henkelkreuz als Anhänger hielt.

Kargan war erstaunt. Im Gegensatz zu in der Nacht, als sie leicht konfus wirkend und mit zerzausten Haaren vor ihm gestanden hatte, gab sie nun ein gepflegtes und nicht unansehnliches Bild ab. Er musste sich eingestehen, dass er sie in diesem Moment außerordentlich attraktiv fand.

Nicht anstarren, du Idiot. Mach nicht den gleichen Fehler noch mal, schoss es Kargan durch den Kopf.

Bevor er sich überlegen konnte, was er sagen sollte, hatte Barg-Sa schon das Wort ergriffen. »Na, guten Morgen ihr beide.« An Anjiara gewandt sagte er: »Dich brauch ich wohl jetzt auch nicht fragen, ob du gut geschlafen hast.

Aber ...« Er nahm einen verpackten Kompaktriegel und hielt ihn grinsend hoch, als wäre es ein kostbarer Schatz, » ... Ein Riegel am Morgen vertreibt alle Sorgen!«

Anjiara warf ihm lediglich einen viel sagenden Blick zu und ging an ihm vorbei. All ihre Schönheit an diesem Morgen konnte sie nicht davon abhalten, wieder hemmungslos mit einem müden Stöhnen zu Gähnen, wie Kargan amüsiert feststellte.

Sie öffnete die Kühltheke hinter Barg-Sa, gab einen genervten Laut von sich und schloss sie wieder, ohne etwas herauszunehmen.

Als sie sich umdrehte, stand Barg-Sa immer noch grinsend vor ihr und hielt ihr den Kompaktriegel vor die Nase. Mit einem übertriebenen Seufzen nahm sie den Riegel und setzte sich an einen der Tische.

Kargan, der schmunzelnd mit seinem Tee an der Theke gestanden hatte, setzte sich zu ihr. »Für dich nichts zu trinken?«, fragte er.

»Diese grässlichen Riegel sind schon schlimm genug. Da kann ich auf den billigen Tee dann auch noch verzichten. Wie kannst du bei dieser Hitze überhaupt Tee trinken? Es ist doch jetzt schon so warm, dass ich mich splitternackt ausziehen könnte und trotzdem schwitzen würde.«

Wogegen ich überhaupt nichts einzuwenden hätte, antwortete Kargan dümmlich in Gedanken.

»Lieber ein scheußlicher Tee als das Wasser direkt aus dem gammligen Wasserbehälter«, murmelte er stattdessen.

Anjiara schnaubte und packte den Riegel aus. »Geld hat das Kanton für vieles, ganz besonders für Maßnahmen, sich den Weltraum eigen zu machen.

Aber was den Komfort für die angeht, die das Ganze überhaupt ermöglichen, da haben sie ordentlich gespart.« Missmutig betrachtete sie den Riegel in ihrer Hand und biss schließlich hinein.

»Kargan, ich wollte mich bei dir noch entschuldigen«, sagte sie schließlich, nachdem sie den Bissen gekaut und heruntergeschluckt hatte.

Kargan blickte fragend von seiner Teetasse auf.

»Ich frage dich die ganze Zeit aus, wie heute am Balkon oben, aber erzähle dir nichts von mir«, fuhr sie fort. Man konnte ihr ansehen, dass sie den Riegel nur widerwillig aß.

Kargan wurde hellhörig. Er fragte sich nicht das erste Mal, was es mit ihrer Herkunft und dem Experiment, das Anjiara erwähnt hatte, auf sich hatte.

Halb-Mensch-Halb-Pflanze-Schlampe. Was zum Teufel hatten diese Idioten damit gemeint?

Doch zu Kargans Enttäuschung kam dies nicht zum Thema als Anjiara weiter sprach. »Man muss dazusagen, dass es auch ... nichts so besonderes zu berichten gibt. Ich war vorher auf der Bentham angestellt. Ich war dort – welch Wunder – in der Wissenschaftlichen Station im Bereich Terraforming. Ich musste zusammen mit anderen Wissenschaftlern die vorhandenen Daten der Planeten analysieren und daraus Terraformingkonzepte planen, vorbereiten, entwerfen und überarbeiten.

Na ja, und dann kam der Tag an dem ich zufällig von der Mission hier gehört habe. Es hat mich schon immer gereizt, mal vor Ort aktiv zu sein, verstehst du? Nicht das schnöde Brummen des Planetargravitationsantriebs in den Ohren, den Monitor mit den endlosen Daten vor den Augen ... Sondern selbst mitzuwirken.

Unter uns gesagt sieht es in der Praxis ja leider immer anders aus und jetzt sitze ich wieder vor meinen Daten am Monitor. Nur eben auf einer Station auf Infidelis und nicht in dem Klotz von Bentham.« Sie schmunzelte. »Aber besser ist es hier auf alle Fälle. Und man kriegt ab und zu ein kleines Abenteuer geboten wie ‚Der fiese Saboteur des Generators‘.«

»Hmm. Bentham. Also hast du für den AKZ selbst gearbeitet. Nicht schlecht.«

Kargan trank einen Schluck Tee. »Freut mich, dass du einen Gewinn durch die Mission gemacht hast. Wie du dir denken kannst hab ich seit Mol Ondune erst mal genug von Abenteuern.«

Anjiara legte den Kopf schief und sah Kargan an. Er konnte nicht genau sagen, was sie gerade dachte. Ich will nicht Mitleid erregen, um Gottes Willen, dachte Kargan. »Aber bisher ist es ja ganz nett hier«, fügte er schnell grinsend hinzu.

Mittlerweile waren einige weitere Mitglieder des SHIRE Teams Alpha im Speisesaal eingetrudelt und unterhielten sich miteinander. Unter anderen befanden sich darunter der Techniker Mario Winston, wie Kargan sich erinnerte, sowie zwei weitere Personen, die er vage in das Geologie- und Oberflächenteam einordnen konnte. Einer der beiden trug eine Brille mit kleinen Gläsern.

Der andere war muskulös und hatte kurze blonde Haare. Kargan fiel auf, dass sein linkes Auge fehlte. Stattdessen befand sich an der betroffenen Stelle eine Art silberne Scheibe mit einem roten Punkt im Zentrum.

»Siehst du den da hinten?«, sagte Anjiara leise und deutete auf den mit der Brille. Der Mann setzte sich zusammen mit dem Blonden an jenen Tisch, an dem auch der, der hinter Anjiara den Raum betreten hatte, Platz genommen hatte.

»Den kenne ich nicht«, erwiderte Kargan und entschloss sich, einen Kompaktriegel zu essen. Sein Tonfall konnte sein Desinteresse nicht verbergen.

»Das ist Luis Raugen. Aber ich nenne ihn ‚Die Brille‘. Er ist ein Idiot.«

Kargan prustete überrascht los. Das Stück Kompaktriegel, an dem er kaute, entwich nahezu seinem Mund. Einige Anwesende aus dem Team hörten auf zu reden und drehten sich in seine Richtung. Kargan brachte ein leises »‘Tschuldigung« heraus und versuchte sein Verlegenheitsgrinsen zu unterdrücken.

Auch Anjiara musste sich beherrschen, ihre Lachmuskeln unter Kontrolle zu bringen, da sie nicht mit einer derartigen Reaktion Kargans gerechnet hatte.

»Wieso, was ist mit ihm«, sagte er viel zu laut.

Anjiara winkte schmunzelnd ab. »Nichts, nichts. Später, Kargan ...«

In dem Moment ging die Tür erneut auf und die Ärztin blickte herein.

»Beeilt euch Leute, Werland will alle in fünf Infidelis-Minuten im Besprechungsraum haben.«

»Jetzt schon? Um was geht es genau? Um den sabotierten Generator?«, fragte Barg-Sa, der immer noch an der Theke stand und schon seinen dritten Riegel aß.

»Von wegen sabotiert, da hat doch bloß jemand Gespenster gesehen«, murmelte jemand.

»Darum geht es nur am Rande. Aber der Hauptpunkt der Besprechung ist der geplante Außeneinsatz«, antwortete die Ärztin.

Ein Murmeln ging durch die Runde.

»Was für ein Außeneinsatz? Die Gesteinsproben sollen doch erst übermorgen gesammelt werden«, sagte einer der Geologen, der eine Tasse Kaffee in der Hand hielt.

»Das werdet ihr in fünf Infidelis-Minuten hören«, erwiderte die Ärztin ungeduldig. »Also beeilt euch ein bisschen. Zack, zack!« Sie warf einen mahnenden Blick in die Runde und verschwand.

Erneut war unzufriedenes Gemurmel und vereinzelt Geklimper von Geschirr zu vernehmen. »Jetzt dürfen wir schon nicht mal mehr in Ruhe frühstücken«, knurrte Mario, der Techniker.

»Zack, zack. Ja liebe Ärztin, natürlich, liebe Ärztin«, äffte Anjiara leise die Ärztin nach und zog eine Grimasse. »Wieso sieht sie sich überhaupt dazu auserkoren, als Ärztin immer die Truppe zu benachrichtigen? Vielleicht sollte sie ihren Job wechseln und Botenjunge werden.«

Kargan musste leise lachen. Offensichtlich hatte Anjiara auch des Öfteren gerne etwas zum Meckern. Die Ärztin schien sie besonders auf dem Kieker zu haben.

Langsam fingen die anderen an, von ihren Tischen aufzustehen und ihre Sachen aufzuräumen, um sich allmählich in den Besprechungsraum zu begeben.

Kargan trank seinen Tee aus und tat es dem Rest des Teams gleich, während Anjiara sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Sie schien mit einem Mal sehr munter zu sein und sagte: »Aber endlich ein Außeneinsatz! Terraforming in der Praxis, nicht immer nur in der Theorie. Es wurde auch langsam Zeit. Bin gespannt, was Werland da für uns hat.«

Man konnte anhand der Sitzformation im Besprechungsraum erkennen, dass sich in dem SHIRE Team von 12 Mann bereits Grüppchen gebildet hatten wie in der Schule. Während Barg-Sa Gerents sich lauthals mit Mario Winston unterhielt und daneben zwei Geologen mit der Ärztin schäkerten, saßen der Bebrillte und der blonde Muskelprotz zusammen mit zwei Terraforming-Mitarbeitern gegenüber. Ab und zu schien einer der beiden einen Blick auf Anjiara zu werfen und etwas über sie zu sagen, worauf der andere dreckig lachte.

Anjiara schien die beiden mit einem übertriebenen Ausdruck von Desinteresse absichtlich zu ignorieren.

Kargan fragte sich, wieso es an jedem Ort immer wieder Idioten gab, die einem das Leben schwer machten.

Dann kam Marcus Werland – der Expeditionsleiter – zur Tür herein. »Morgen zusammen«, sagte er knapp und legte einen Ordner mit Unterlagen auf den Tisch vor sich.

Wie durch einen unausgesprochenen Befehl stand Luis Raugen – oder ‚Die Brille‘, wie Anjiara ihn nannte – von seinem Platz auf und betätigte einige Knöpfe an einer Konsole in der Nähe der großen Plasmamonitore. Auf dem zentralen Monitor wurde ein Logo des Karndalf-Kantons eingeblendet. Nach einigen Infidelis-Sekunden verschwand es vom Bildschirm und es wurde ein digitales Geländemodell der Teneib-Wüste um Andragon Outrange 15 dargestellt.

Werland nickte Luis fast unmerklich zu und wandte sich an seine Zuhörer.

»Wie ihr bereits vielleicht gehört habt, werden wir noch heute einen mehrtägigen Außeneinsatz starten.«

»Mehrtägig?«, murmelte Mario Winston. Werland ignorierte ihn und fuhr fort. »Der Einsatz war bis gestern nicht in unserem Missionsplan enthalten, hat jedoch oberste Priorität.«

Werlands Gesicht machte einen ernsten Eindruck. Das verstärkte die Anzahl seiner Falten drastisch, was ihn noch älter aussehen ließ, als er tatsächlich war.

Kargan schätzte ihn auf mindestens fünfzig Jahre. Auf seinem Kopf waren ebenfalls nur noch wenige Haare zu finden.

»Es ist ein direkter Befehl des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses«, brummte Werlands Stimme durch den Besprechungsraum. »Wie ich niemandem erklären brauche, haben wir diesem Befehl demnach unverzüglich Folge zu leisten.

Ein verhaltenes Murmeln war die Antwort.

Kargan fragte sich gerade, wie eine Nachricht an ihm vorbei an den Expeditionsleiter gelangen konnte. Immerhin war Kargan der Funkoffizier. Sämtliche Kom-Signale wurden von ihm im Kommunitkationsturm empfangen und gegebenenfalls weitergeleitet. Offensichtlich gab es doch eine Geheimleitung, die direkt an Werland gerichtet war, von der er nichts wusste.

Werland drehte sich halb zu dem Plasmamonitor und machte eine stumme Geste mit dem Finger, worauf ‚Die Brille‘ erneut einige Knöpfe an der Konsole betätigte. Das Bild am Monitor wurde herausgezoomt und auf einem Punkt fixiert.

Kargan konnte nun eindeutig das Gorres-Massiv erkennen. Er wusste, dass das Massiv wie eine Art Felsplattform aussah, die dreihundert Meter aus dem Wüstenboden ragte. Ihm war jedoch nicht klar gewesen, dass es so rund war, wie es der Monitor anzeigte. Er hatte jedoch schon erstrecht nicht gewusst, dass das Massiv nicht durchgehend aus Fels bestand, sondern im Zentrum eine kleine Stelle hatte, die wieder den Wüstenboden erkennen ließ. Das bedeutete, dass das Gorres-Massiv von oben also nicht wie ein ‚Kreis‘, sondern vielmehr wie ein ‚dicker Ring‘ aussah. Die Monitordarstellung war in der Mitte des Massivs zentriert.

Kargan hatte beim Landeanflug zu Andragon Outrange 15 unter anderem auch die Daten über das Massiv angesehen. Es war etwa dreihundert Meter hoch, bestand durchgehend aus massivem Fels und war offensichtlich schon seit sehr vielen Jahren unverändert genau an dieser Stelle in der Teneib-Wüste. Irgendein Felsklotz im Sand, hatte sich Kargan gedacht. Doch die markante Form, die in der Vogelperspektive nun so deutlich sichtbar war, machte ihn stutzig.

Werland räusperte sich. »Was sie hier sehen, ist das Zentrum des Gorres-Massivs. Vor nicht wenigen Tagen haben die Experten der Epos des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses mit neuer Scantechnologie eine unbekannte Energieaktivität, eine Anomalie, an diesem Ort registriert.«

Nun wurde das Murmeln deutlich lauter. Barg-Sa und Mario sahen sich wortlos gegenseitig an. Der AKZ steckte dahinter? Normalerweise kümmerte sich der Zusammenschluss nicht im Geringsten um Forschungsmissionen. Es lag im Interesse der einzelnen Kantone, ihre Terraforming-oder Forschungsziele zu verfolgen. Lediglich bei illegalen Aktivitäten von Rebellenkantonen ergriff der Zusammenschluss Gegenmaßnahmen. Doch dass er sich hier einmischte, musste einen tiefgehenden Grund haben.

Die Epos war das größte Schiff, das überhaupt existierte. Es war wie eine Großstadt in Form eines Raumschiffs. Der oberste Befehlshaber der größten Olympfregatte der bekannten Systeme war Maurizius Ravenberg höchstpersönlich.

»Ruhe bitte ... .vorerst«, sagte Werland ruhig. »Die Energiemuster sind mehrfach analysiert worden. Es wurden Übereinstimmungen der Muster mit denen von Sucherwesen und Wächtern aus dem alten Arym Var entdeckt. Unsere Aufgabe ist es, mithilfe unseren Fachkenntnissen und unseren technischen Hilfsmitteln diesen Ort aus nächster Nähe zu analysieren.«

Einer der Geologen sprang auf. »Und uns von einem Sucher oder Wächter massakrieren lassen? Mit was kommt der AKZ als nächstes? Wir sind Wissenschaftler, keine Soldaten! Sollen sie doch eins ihrer Spezialteams schicken, gottverdammt.« Der Kopf des Geologen schien vor Wut rot anzulaufen.

»Beruhigen sie sich wieder und denken sie scharf nach«, sagte Werland mit einer beschwichtigenden Geste. »Es gibt keine Lebewesen im Umkreis von etwa hundert Kilometern, wie wir alle wissen. Das haben die Scans der Oberflächen- und Geologieabteilung eindeutig ergeben. Der zentrale Punkt des Gorres-Massivs befindet sich genau ...« Er warf einen Blick auf einen der Plasmamonitore. » ... dreiundsiebzig Kilometer von hier entfernt. Die Aussagen des Zusammenschlusses bestätigen, dass es dort keine Lebensformen gibt. Ich denke, sie haben lediglich eine falsche Vorstellung von dem Einsatz.

Ich nehme an, dass die Energiemuster vielmehr auf eine Art uralte Ruine oder Stadt hinweisen. Diese Stadt könnte aus einer alten Zivilisation in Arym Var stammen, welche mit den verbliebenen Suchern und Wächtern des heutigen Arym Var in Verbindung steht. Vielleicht ergründen wir sogar deren Existenz durch diesen Einsatz. Wir wissen noch so wenig über das Arym Var-System.

Vergessen sie ihre Horrorvorstellungen. Wahrscheinlich werden wir Geschichte schreiben!« Ein nicht zu übersehendes Leuchten war in Werlands Augen zu erkennen.

Kargan wusste überhaupt nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte.

Er hatte von den so genannten Suchern gehört, die irgendwo auftauchten und Menschen der Andragon-Kantone abschlachteten, um wieder spurlos zu verschwinden. Aber er selbst interessierte sich wenig für solche Dinge. Er war Funkoffizier und kannte sich in seinem Metier aus und das genügte ihm. Er hatte seine Ausbildung nicht über die Garde des Karndalf-Kantons gemacht, so wie es viele andere Funkoffiziere machten. Deswegen kannte er sich auch nicht besonders mit dem Militär aus.

Er konnte auch nicht mit Waffen umgehen. Einmal hatte er in einer Kriegs-Holosimulation mitgespielt. Danach war er von den meisten Mitstreitern wegen seiner mangelnden Treffsicherheit verspottet worden.

Sollten also tatsächlich derartige Fähigkeiten abverlangt werden, war Kargan sowieso nicht qualifiziert für den Außeneinsatz, dachte er sich.

»Wie soll das Team überhaupt an diesen Ort transportiert werden?«, warf Mario ein, der bisher im Gegensatz zu den anderen geschwiegen hatte. »Allein das Gorres-Massiv zu erreichen wird nicht so einfach sein. Aber es zu erklimmen? Wer ist hier schon für so etwas qualifiziert? Immerhin sind die meisten hier Bürosesselhocker.« Er schmunzelte, ohne sich um die Gesichtsausdrücke der Wissenschaftler zu kümmern.

Einer der beiden Terraforming-Wissenschaftler, die offensichtlich etwas gegen Anjiara hatten, lachte trocken und grunzte mit abfälligem Ton: »Seid ihr alle aus Watte? Wenn man als Wissenschaftler auf einer Outrange Station arbeitet, gehören Außeneinsätze zur Tagesordnung. Also tut jetzt nicht alle so, als wäre von etwas Derartigem nie die Rede gewesen.«

»Wer hat dich denn gefragt, du schmieriger Pseudoforscher«, murmelte Anjiara verächtlich, so dass es nur Kargan neben ihr vernehmen konnte.

Der Wissenschaftler hatte die Arme verschränkt und sah mit einem gönnerhaften Blick in die Runde. Er schien noch relativ jung zu sein. Kargan schätzte ihn auf nicht älter als etwa vierundzwanzig Jahre. Er trug ein ärmelloses Muskelshirt und hatte die Haare zu einer Glatze rasiert. Besonders markant an seinem Gesicht war das ausgeprägte, eckige Kinn.

Als er merkte, dass Kargan ihn musterte, schien er mit einem provokativen Blick zurückzustarren, der ausdrückte: ‚Willst du was von mir? Dann komm und hol es dir!‘

Kargan sah weg.

Werland ergriff wieder das Wort. »Bitte. Immer die Ruhe. Wir haben die nötige Ausrüstung, die wir benötigen. Um das Massiv zu erreichen werden wir den Crawler benutzen. Von dort werden wir das Massiv erklimmen. Wir werden es überqueren bis zum Zentrum, wo wir wieder den Abstieg aufnehmen werden, um das Tal zu erreichen.«

»Wusste nicht, dass wir einen Crawler haben ...«, murmelte Mario.

Ein Crawler war ein Fahrzeug mit speziellen Schaufelreifen, die schnelle Geschwindigkeiten im Sand ermöglichten. Einen Crawler als Transportmedium in diesem Fall einzusetzen, um das Massiv zu erreichen, erschien Kargan logisch.

»Die genauen Details zum exakten Einsatzablauf werden noch bekannt gegeben. Zuerst werden wir die Beteiligten des Außenteams ankündigen und dann nach einer fünfminütigen Pause genauer auf die ganze Sache eingehen.«

Werland räusperte sich.

Kargan sah aus dem Augenwinkel, dass Anjiara auf ihrem Stuhl hin und herrückte und zu grinsen schien wie ein Honigkuchenpferd. Der Außeneinsatz schien sie ziemlich zu begeistern.

Werland war inzwischen zum Tisch vor sich gegangen und hatte sich mehrere Zettel aus seinen Unterlagen geholt. »Also ... zum Team. Ich selbst werde das Team zusammen mit Luis Raugen leiten. Zudem wird uns Katuzaki aus dem Geologieteam begleiten.« Einer der Geologen sah interessiert von rechts nach links und wieder nach rechts. Er hatte einen asiatischen Schlag, wie Kargan zum ersten Mal feststellte.

»Aus der Terraforming-Abteilung werden uns noch ... Gaebus und ...«

Werland bewegte den Finger über sein Blatt.

Kargan bemerkte, dass Anjiaras konstantes Lächeln langsam aus ihrem Gesicht wich und sich ein Stirnrunzeln breit machte.

» ... und ... Tarrassow.«

Der Glatzkopf sah seinen Kumpan an. Da dieser Kargan an einen Russen von der zweiten Erde erinnerte, vermutete er ihn als Tarrassow. Der muskulöse Glatzkopf, der demnach Gaebus sein musste, lächelte süffisant.

Auf Anjiaras Gesicht konnte Kargan nun eindeutig Wut ablesen. Er hatte schon erwartet, dass er nicht mit dabei sein würde, aber es war ihm auch egal gewesen. Anjiara offensichtlich überhaupt nicht. Noch schwieg sie jedoch.

Werland blickte von seinem Zettel auf. »Ach ja, Mario, sie werden auch im Außenteam dabei sein. Wir wissen nicht, ob wir vor Ort nicht ihre Fähigkeiten als Techniker benötigen werden. Und schließlich sind sie wohl der einzige hier, der einen Crawler steuern kann.« Der Expeditionsleiter schenkte Mario ein schwaches Lächeln, worauf sich die Falten auf seiner Stirn noch mehr verzogen.

»Zu den anderen, die jetzt nicht genannt wurden ...«, brummte Werland mit Blick wieder auf den Zettel in seinen Händen gerichtet, »Rukkbert wird hier die Stellung auf Andragon Outrange 15 halten«, Der Muskelprotz mit dem silbernen Ding in der Augenhöhle nickte ausgeprägt. Offensichtlich stand Rukkbert in der Befehlskette nach Werland. Es war im Kanton üblich, dem Nächsten in der Kette die Leitung zu übergeben, wenn der Leiter selbst mit auf einen Außeneinsatz ging.

»Kargan Saturon, ihre Aufgabe dürfte wohl auch offensichtlich sein. Sie werden vom Kommunikationsturm der Station Kontakt mit uns halten, unsere übermittelten Daten speichern und an die Abteilungen weiterleiten. Es mag sein, dass sie direkt vom Andragon-Kanton-Zusammenschluss kontaktiert werden und Bericht erstatten müssen. Allerdings befindet sich die Epos auf einem regulären Zirkulationspfad. Das bedeutet natürlich, dass es wenige festgelegte Zeitpunkte geben wird, an denen wir die Informationen weitergeben können. Also versäumen sie nicht den nächsten Termin, wenn sie verstehen was ich meine.«

Ich wollte schon immer mal mit der Epos eine Kom-Verbindung aufbauen, dachte sich Kargan ironisch. Vielleicht würde er ja ein kleines Schwätzchen mit Ravenberg persönlich halten.

Anjiara sah ihn an, dann wieder Werland. Ihr Mund war zu einem Strich zusammengekniffen.

»Der Rest des SHIRE Teams wird seinen normalen Aufgaben nachgehen, bis wir die ersten Daten überliefern. Diese zu analysieren hat natürlich dann oberste Priorität.«

Werland sah kurz auf seine Armbanduhr und fuhr fort. »So weit so gut. Wie bereits vorhin erwähnt, werden wir kurz eine fünfminütige Pause einlegen, um danach für die Betroffenen die Details zu erläutern.« Er nickte der Runde zu und verstaute seine Unterlagen.

Sofort stellte sich ein konstantes Murmeln in der Gruppe am großen Besprechungstisch ein. Einige standen auf, um sich etwas zu essen oder einen Kaffee aus dem Speisesaal zu holen.

Anjiara zappelte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Ich ...«

Abrupt stand sie auf und ging zu Werland.

Kargan versuchte, sich im Gemurmel der anderen auf das Gespräch zwischen Werland und Anjiara zu konzentrieren.

»Sir, ... ich wollte sie kurz sprechen ...«, hörte er Anjiara zögerlich anfangen.

»Anjiara?« Werland sah auf.

»Ich wollte fragen, warum ich nicht mit im Außenteam dabei bin ... Sir.«

»Anjiara. Ich ... sage es ihnen nur ungern, aber ich habe diese Entscheidung getroffen, weil ich der Meinung bin, dass sie noch nicht genügend Erfahrung besitzen.«

Anjiara sah entrüstet aus. »Aber, Sir ... ich ...«

Werland unterbrach sie. »Bitte ... Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. Ich zweifle nicht an ihren Fähigkeiten. Aber der Befehl ist vom AKZ und sie wissen was das bedeutet. Ein Befehl des Zusammenschlusses kann nur von hoher Wichtigkeit sein. Wir müssen ihn demnach bestmöglich ausführen und dazu brauchen wir die Gewissheit auf ausreichend Erfahrung im Team.«

AKZ war die oftmals benutze Abkürzung für den in Kargans Augen umständlichen Begriff ‚Andragon-Kanton-Zusammenschluss‘. Er selbst pflegte nur diese Abkürzung zu benutzen.

Anjiaras Gesicht war wie versteinert. Man konnte keine Emotion direkt ablesen, aber Kargan konnte ihre Frustration erahnen.

Werland setzte sein schwaches Lächeln auf, worauf sich die Falten auf seiner Stirn verzogen. »Anjiara. Vergessen sie nicht, dass die Stellung auf der Station nach wie vor gehalten werden muss. Sie werden unsere übertragenen Daten in der Terraforming-Abteilung analysieren und weiterverarbeiten, so dass wir sie dem AKZ überliefern können. Ich vertraue da voll und ganz auf ihr Können.«

»Ja, Sir.« Anjiara schenkte ihm ein aufgesetztes Lächeln und entfernte sich von ihm. Schweigend nahm sie wieder neben Kargan Platz.

Kargan überlegte, ob es sinnvoller war, etwas zu sagen, oder besser den Mund zu halten. »Es tut mir leid ... für dich«, sagte er schließlich.

Anjiara schnaubte nur leise.

Als die Pause dem Ende zuging und die Mitglieder des Teams SHIRE Alpha langsam auf ihre Sitze zurücktrudelten, fing Anjiara leise zu schimpfen an.

»Nicht genügend Erfahrung. Pah. Das soll wohl ein Witz sein. Wer glaubt dieser Idiot eigentlich, wer er ist? Aber Gaebus, diesen widerlichen Glatzkopf, lässt er mitgehen. Und der ist noch dazu drei Jahre jünger als ich ... aber er hat ja sooo viel mehr Erfahrung. Lage auf der Station halten. Dass ich nicht lache. Wieder jeden Tag den Monitor anglotzen. Dieser Außeneinsatz wäre die Gelegenheit gewesen.«

Kargan zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß, es ist ärgerlich. Aber du bekommst schon noch deine Gelegenheit, Anjiara. Da bin ich mir sicher«, versuchte er sie zu beschwichtigen.

»Was weißt du schon«, fuhr sie ihn an. »Hast du nicht gehört was er gesagt hat? Die Alte verschollene Zivilisation von Arym Var ... Der Ursprung der Sucherwesen ... und ich bin nicht dabei!«

Eine Sekunde später schien sie es bereits zu bereuen, Kargan angeschrien zu haben. »Tut mir leid ... ich wollte dich nicht ... aber es ist einfach ... ach ...« Sie verschränkte die Arme und sah wütend drein.

»Halb so wild.« Kargan grinste. Wenngleich er über Anjiaras unerwarteten Wutausbruch verwundert gewesen war, konnte er ihren Ärger doch nachvollziehen. »Ich weiß, ich rede mich leicht. Aber du kannst es nicht ändern. Also vergeude deine Energie nicht dabei, dich zu Ärgern.« Er zwinkerte ihr freundschaftlich zu.

Anjiara schien mit einem Mal etwas Seltsames an ihrem Gesichtsausdruck zu haben, das Kargan nicht interpretieren konnte. Doch ehe er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, setzte Werland seine Besprechung fort.

Dem größten Teil von Werlands weiteren Erläuterungen folgte Kargan nur mit einem Ohr. Das meiste betraf die Ausrüstung, die Vorgehensweisen und die einzelnen Abschnitte des Einsatzes des Außenteams selbst. Kargans Schlafdefizit machte sich nach und nach immer deutlicher bemerkbar.

Anjiara saß die ganze Zeit ausdruckslos neben ihm und starrte Werland an.

» ... und werden den Fuß des Massivs erreichen. Dann werden wir das KBV-Equipment aus dem Crawler laden und den Aufstieg beginnen«, monologisierte der gerade.

Offensichtlich hatte Werland eine spezielle Einrichtung in Petto, die neuerdings im Bestand der SHIRE Ausrüstung vorhanden war. Diese sollte die Besteigung des Gorres-Massivs ermöglichen.

Kargan konzentrierte sich nicht einzuschlafen und sah auf seine Multiversum-Uhr. Es war nun 900 Infidelis-Zeit, also Vormittag, wenn man so wollte.

Um 950 hatte er regelmäßig jeden Tag Kom-Rückmeldung mit dem Karndalf-Kreuzer RS Terranigma. Dieser Kreuzer der ‚Terra‘-Klasse kursierte in einem Zirkulationspfad zwischen Uriel 3, dem Aaron-Schwarm und Infidelis nach Infidelis-Tagen gerechnet.

Wenn Werland sich noch länger Zeit lassen würde, würde er Grazens aus dem Kom-Zentrum der RS Terranigma heute versetzen müssen, dachte Kargan.

Nach einiger Zeit kam Werland schließlich zum Ende seiner Ausführungen über den Einsatz.

Kargan war gerade dabei einzudösen, als ihn sein Name aus Werlands Organ in die Realität zurückriss. Er räusperte sich ablenkend und fürchtete sich zu blamieren, weil er keine Ahnung hatte, was Werland gerade gesagt hatte.

Zu Kargans Erleichterung erklärte ihm dieser jedoch lediglich in seinem monologisierenden Ton, wie und wann genau der Kom-Verkehr abgehalten und wie exakt der Datentransfer durchgeführt werden sollte.

»Wir werden, wie bereits erwähnt, etwa einen halben Infidelis-Tag brauchen, um das Massiv mit dem Crawler zu erreichen. Dann werden wir das Gorres-Massiv besteigen und den Einsatz fortsetzen. Ich halte es für sinnvoll, wenn wir dreimal pro Tag eine Kom-Verbindung aufbauen, also zu 900, 1400 und 1900 Infidelis-Zeit.« Werland warf Kargan einen kurzen Blick zu, worauf er bestätigend nickte.

Die vorgeschlagenen Zeiten entsprachen dem Morgen, Mittag und Abend eines Infidelis-Tages.

Werland sprach weiter. »Wir werden um 1050 aufbrechen. Das bedeutet selbstverständlich, dass der erste Kom-Kontakt des Einsatzes um 1400 stattfinden wird. Sobald wir vor Ort sind, werden wir sie über den Zeitpunkt des Datentransfers in Verbindung setzen. Was den Kontakt mit dem Andragon-Kanton-Zusammenschluss angeht, wird sie die Epos nach Ermessen selbst kontaktieren.«

Klare Sache, dachte Kargan.

Es war 941. Werland kam zum Schluss. »Bei jeglichen weiteren Fragen finden sie mich ab jetzt in meinem Büro. Für das Außenteam gilt: Bereiten sie ihr Equipment und alles was sie sonst noch brauchen vor. Aber bringen sie nicht zu viel mit. Wir fahren nicht in den Urlaub!« Er setze sein schwaches Lächeln auf, aber niemand aus der Runde fand den Witz besonders lustig. »Um 1050 Abfahrt! Also alle zum Haupteingang.«

Wieder entstand ein Raunen im Besprechungsraum und die Leute erhoben sich langsam. Werland nahm seine Unterlagen und machte sich ans Gehen.

Katuzaki, der Asiat, hastete ihm hinterher, weil er offensichtlich eine Frage hatte. Doch Werland war bereits durch die Tür verschwunden.

Es wurde 944 Infidelis-Zeit. Kargan stand langsam auf und machte ebenfalls Anstalten zu gehen.

Anjiara saß immer noch auf ihrem Stuhl und starrte mürrisch ins Leere.

»Take it easy, Anjiara«, sagte Kargan mit einem aufmunternden Grinsen.

»Hmm«, knurrte sie, aber ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Kargan kam noch rechtzeitig in den Kom-Turm.

Nach den üblichen Parameterdurchgaben und Situationsanalyseübertragungen hielt Kargan noch sein übliches Schwätzchen mit Grazens von der RS Terranigma, um schließlich zu seiner normalen Arbeit überzugehen.

Ein Blick aus den großen Flarretglasfenstern des Kom-Turms nach Süden zeigte ihm die endlose Rotsandwüste, unter einem gelbblauen strahlenden Horizont liegend. Das erste Mal hatte Kargan für einen kurzen Moment einen Gedanken der Freude an diesem Ort zu sein. Doch dieser wurde schnell wieder verdrängt, als ihm Raul Densings Visage in Gedanken vor die Augen kam.

Kargan war sich darüber im Klaren, dass er nicht aus dem Schneider war.

Solange er auf dieser Station war, konnte er sich halbwegs in Sicherheit wiegen.

Doch wo immer er auch danach landen würde, würde er sich vor Kopfgeldjägern oder vor Densings Leuten fürchten müssen. Kargan sah keinen Ausweg aus seiner Situation.

Plötzlich fiel ihm ein, dass Werland den Vorfall mit dem Generator überhaupt nicht angesprochen hatte.

Da Kargan gerade einen Datenabgleich mit den anderen Outrange-Stationen auf Infidelis durchführte und dieser Vorgang immer einige Zeit dauerte, entschloss er sich, in Werlands Büro zu gehen.

Das seltsame Signal in den Lautsprecherboxen des Terra-Kom-Receivers war zu vernehmen, als Kargan bereits am Fuß der Flarretstahlleiter stand, welche in sein Büro hinauf führte.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kargan hielt abrupt inne.

Der Kom-Turm hatte unterschiedliche Sender und Receiver. Die meisten waren auf Langstreckendistanzen ausgerichtet, wie beispielsweise der Interstellar-Kom-Transceiver zur Kommunikation mit Schiffen im Orbit des Planeten. Kargan hatte ihn zum Kommunizieren mit Grazens von der RS Terranigma benutzt.

Doch ein Receiver war für die Umgebung der Station konstruiert: Der Terra-Kom-Receiver. Der TKR war für Signale in einem riesigen Bereich von Wellenspektren sensibilisiert. Er empfing demnach Signale, die irgendwo in hundert Kilometern Radius um die Station ausgingen.

Kargan hatte in seiner bisherigen Zeit auf Andragon Outrange 15 noch nie einen Mucks aus den Lautsprechern des TKRs gehört. Warum auch, dachte er sich. Es war absolut nichts um die Station herum, das ein Kom-Signal erzeugen konnte, wie auch die Oberflächen- und Geologieabteilung bestätigt hatte. Und Grummhyänen konnten nicht funken ...

Das Geräusch, das er nun aufgrund der Entfernung zu den Lautsprechern nur sehr leise vernahm, machte ihn stutzig. Er wartete am Fuß der Leiter.

Aber es kam nichts mehr.

Hatte er sich nur verhört? Wahrscheinlich war es bloß ein Zyanidskorpion, der mit seinem Stachel gegen die Flarretglasscheibe kratzte und ihn ärgern wollte, dachte Kargan grimmig.

Er wartete noch einige weitere Infidelis-Sekunden und ging dann zur Treppe in Richtung Werlands Büro.

»Machen sie sich keinen Kopf«, murmelte Werland, nachdem Kargan ihn auf den Generator angesprochen hatte. Werland schien mit seinen Gedanken vielmehr bei dem Außeneinsatz zu sein. Er war über seinen Schreibtisch gebeugt und hatte seine Lesebrille aufgesetzt. Vor ihm lagen ein Script-Pad und einige Zettel, die er mit Falten auf der Stirn zu studieren schien.

Kargan versuchte, seine Vermutung zu bekräftigen. »Sir, bei allem Respekt ... Ich denke nicht, dass die Situation erlaubt, einen derartigen Vorfall als irrelevant zu handhaben.«

Werland sah auf. »Konkretisieren sie das.«

»Ich spreche von Sabotage. Ich denke ... ich weiß, dass der Kabelstrang ...«

Werland unterbrach ihn mit einem leicht gereizten Tonfall. »Saturon, ich verstehe nicht wo das Problem liegt. Soweit mir von Winston mitgeteilt wurde, handelt es sich unter gegebenen Umständen um einen schlichten Defekt im Generator. Er wurde repariert und der Generator funktioniert wieder. Wo liegt nun das Problem?«

»Wie ich ihnen erklären wollte, kann so etwas nicht selbstständig durch den Defekt einer Maschine entstehen. Einen derartigen Schnitt kann man nur durch eigenhändigen Eingriff hervorrufen. Was ich damit sagen will ist: Ich will sie warnen, speziell auch bezüglich des Außeneinsatzes. Wir müssen damit rechnen, jemanden unter uns zu haben, der gegen uns arbeitet. Oder vielleicht sogar jemanden, der von außerhalb der Station ...«

»Ich bitte sie, Saturon!« Werland ließ ein abergläubisches Lächeln aufblitzen. »Hören sie, was sie da sagen? Bitte zügeln sie ihren Verfolgungswahn.« Er beugte sich nach vorne und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Hören sie, Saturon. Der Einsatz hat oberste Priorität. Wir finden vielleicht etwas, das allen Andragon-Kantonen ein Gewinn ist! Wir haben jetzt keine Zeit uns über Nebensächlichkeiten wie einen defekten Generator zu sorgen. Die Energiemuster sind alles, was im Moment von Bedeutung ist!« Ein Leuchten ging von Werlands Augen aus, wie er es bereits im Besprechungsraum hatte aufblitzen lassen. Kargan fragte sich, ob das Leuchten ein Zeichen dafür war, dass etwas Unerforschtes entdeckt werden könnte, oder eher ein Zeichen dafür, dass Werland sich bereits im Geld und Ansehen schwimmen sah.

»Ich wollte sie nur darauf hinweisen ... sie warnen«, sagte Kargan.

Werland schürzte die Lippen. »Nun. Wenn ihnen so viel daran liegt, dann nutzen sie die Zeit unserer Abwesenheit, um der Sache genauer nachzugehen.

Ja, das ist eine gute Idee.« Er lächelte, nahezu in Selbstverliebtheit. »Ich zähle auf sie Saturon! Wegtreten.« Er blickte wieder auf seine Zettel, die auf dem Schreibtisch lagen.

Wir sind hier nicht beim Militär, Idiot, dachte Kargan wütend, drehte sich wortlos um und verschwand aus Werlands Büro.

Zurück an seinem Arbeitsplatz justierte Kargan den Terra-Kom-Receiver.

Er schraubte die Sensibilität des Empfängers nach oben und aktivierte einen Standard-Filter gegen Interferenzen.

Es war nichts zu hören.

Schließlich widmete sich Kargan wieder seiner gewohnten Arbeit.

Als es 1040 Infidelis-Zeit war, entschied er sich zu den anderen zu gehen, um der Abreise des Außenteams beizuwohnen.

Er kletterte die Leiter aus seinem Kom-Turm hinunter ins erste Stockwerk von Andragon Outrange und folgte dem Gang wie gewohnt zur Treppe ins Erdgeschoss. Dort konnte er bereits sehen, dass die große Schleuse, die den Haupteingang der Station bildete, offen stand. Einige Mitglieder des sechsköpfigen Außenteams gingen zügig aus der Schleuse ins Freie und setzten einige silberne rechteckige Behälter mit Ausrüstung ab. ‚Die Brille‘, die in Kargans Lachmuskulatur ein leichtes Zucken hervorrief, hastete gerade hektisch in die Station herein, an ihm vorbei und in Richtung Werlands Büro.

Kargan bemerkte Anjiara, die Ärztin und Barg-Sa Gerents, die am Rand außerhalb der Station standen und sich mit Mario Winston unterhielten. Mario hatte einen dünnen Expeditionsanzug an und hielt eine Art Fernbedienung in seiner rechten Hand.

Hinter ihnen war einer der fünf Meter hohen Betonblöcke zu sehen, die die Station umgaben. Er versperrte die Sicht auf die Rotsandwüste, schützte jedoch offensichtlich gegen den Wüstenwind. Der Wind setzte den blonden langen Haaren der Ärztin dennoch leicht zu und ließ sie um ihren Kopf wehen.

Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie im Grunde lieber in der Station anstatt davor stehen wollte.

Kargan gesellte sich zu ihnen und nickte der Runde zu. Während die Ärztin ihn nur interessiert musterte und Anjiara ihm ein leichtes Lächeln schenkte, grunzte Barg-Sa Gerents belustigt auf. »Na so was. Unser kleiner Kargan ist auch hier um ‚winke, winke‘ zu machen! Dann pass jetzt mal auf. Mario, nun lass mal dein Haustierchen blicken!«

Mario nickte grinsend und wandte sich an die anderen des Außenteams, die um den Berg an Ausrüstung standen oder hektisch herumschwirrten. »Also Leute, Vorsicht! Jetzt bleibt vom Rand da weg.« Er deutete an eine Stelle am Rand der Station, an der Kargan nun den Umriss einer breiten Schleuse erkennen konnte. Einige, darunter ‚Die Brille‘ und Katuzaki, drehten sich in die angesprochene Richtung und bewegten sich unsicher rückwärts davon fort.

Mario aktivierte einen Knopf auf seiner Fernbedienung. Daraufhin schoss die Schleuse mit einem lauten Zischen auf und ein knarrendes Geräusch ertönte.

Ein nebliger Dunst entwich aus der Schleuse und ein Vehikel, das etwa vier Meter hoch war, polterte daraus hervor.

Kargan hatte so etwas noch nie gesehen, aber es musste sich um einen Crawler handeln.

Das längliche schwarze Stahlgerüst erinnerte an den Körper eines Panzers.

Anstelle von Reifen befanden sich daran auf jeder Seite drei dunkelgraue Stahlräder, die an ihren Extrema zu Schaufelformen gegossen waren. Am vorderen Teil zeichnete sich ein aufklappbares Fragment ab, unter dem Kargan das Cockpit vermutete. Die schaufelartigen Räder gruben sich in den Wüstenboden und schleuderten meterweit Sand und Staub in alle Richtungen, so dass die anderen des Außenteams ihre Hände zum Schutz nehmen mussten. Kurz vor einem der Betonblöcke kam das Gefährt zum Stehen.

»Darf ich vorstellen: Das ist Crawley, der Crawler. Originell, nicht?« Mario lachte lauthals. Barg-Sa fiel grunzend mit ein. Auch Kargan konnte sich ein fasziniertes und spitzbübisches Grinsen nicht unterdrücken. Lediglich die beiden Frauen schienen wenig imponiert zu sein und hielten sich mit mürrischen Blicken die Hände vor das Gesicht, um den aufgewirbelten Staub abzuwehren.

Mario betätigte einen weiteren Knopf auf der Fernbedienung, worauf sich Klappen auf beiden Seiten des Gefährts mit einem lauten, metallischen Geräusch öffneten.

»Und ... Alle Mann einladen!« brüllte Mario, dessen Grinsen mehr an das eines Jungen unter dem Weihnachtsbaum erinnerte.

Zögernd sahen die anderen Außenteammitglieder von Mario zum Crawler und vom Crawler wieder zu Mario, der immer noch strahlend und mit den Armen in die Hüften gestemmt dastand. Dann machten sie sich daran, die Ausrüstung einzuladen.

Um Punkt 1049 Infidelis-Zeit erschien Werland und überprüfte die Ausrüstung auf Vollständigkeit sowie die Anwesenheit aller Außenteammitglieder.

Als er fertig war, stellte er sich wie ein Gockel – so fand Kargan – vor alle Anwesenden des SHIRE Alpha Teams und wartete auf jedermanns Aufmerksamkeit. »Also. Um es kurz zu machen«, murmelte er, um in lauterem Ton fortzufahren, »im Namen des Karndalf-Kantons, im Auftrag des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses und zum Wohl aller Andragon-Kantone – außer der Rebellenkantone, versteht sich ...« Er lächelte leicht und machte eine kurze Pause, aber niemand lachte über seinen Witz. Aus dem Augenwinkel konnte Kargan Anjiara die Augen verdrehen sehen. » ... werden wir nun diesen Außeneinsatz beginnen. Ich habe hohe Erwartungen und bin zuversichtlich, dass wir Erfolg haben werden, oder vielmehr auf etwas stoßen werden, dass die Andragon-Kantone in ihrem Dasein im Arym Var-System weiterbringen wird!«

Und mich reich und berühmt machen wird, fügte Kargan in Gedanken hinzu.

Was, wenn hinter dem Ganzen nichts Besonderes steckte? All der Aufwand und das Geschwätz umsonst.

Kargan war es einerlei.

Bald war es eh 1200 Infidelis-Zeit und somit Zeit für ein Kom-Schwätzchen mit Dagobert von Andragon Outrange 14, zweihundert Kilometer südlich. Sein Beruf hatte doch auch gute Seiten, stellte Kargan fest und schmunzelte über einen zotigen Witz, den Dagobert am Vortag erzählt hatte. Aber richtig, er sollte ja Privatdetektiv für Werland spielen und den Saboteur finden. So etwas war im Grunde Aufgabe des Sicherheitsoffiziers. Kargan nahm sich vor, noch einmal mit Barg-Sa zu sprechen. Er erschien ihm sympathisch. Vielleicht würden sie zu zweit eine Lösung finden.

»Wir werden, wenn alles nach Plan verläuft, etwa vier Tage, diesen mitgezählt, unterwegs sein«, ertönte es von Werland. »Wenn es notwendig ist und wir länger bleiben, werden wir sie über das Kom informieren. Also, alle an Bord! Und Mario: zeigen sie uns was sie drauf haben!« Das Außenteam verabschiedete sich von den anderen und betrat den Crawler.

»Passt auf euch auf«, knurrte Barg-Sa Mario zu. Der Techniker nickte und näherte sich nun etwas angespannter dem geöffneten Cockpit.

Nachdem alle sechs Mann im Crawler verstaut waren, schloss Mario die Klappen und warf den Motor an. Das Vehikel jaulte auf und die Schaufelräder setzten sich langsam in Bewegung.

»Das wird eine holprige Fahrt«, brummte Barg-Sa und lachte trocken, während sich der Crawler seinen Weg durch die Betonblöcke zum nordwestlichen Horizont von Infidelis bahnte und langsam kleiner wurde. Die Verbliebenen des SHIRE Alpha Teams standen zwischen den hohen Betonblöcken um Andragon Outrange 15 und warteten, bis der Crawler nur noch als Punkt zu erkennen war.

»Wieso haben sie dich nicht mitgenommen?«, wandte sich Barg-Sa schließlich an die Ärztin, die die rechte Hand an die Stirn hielt, um das Sonnenlicht abzuschirmen. »Man könnte doch meinen ... eine Ärztin auf so einer Mission ...«

»Frag’ Werland selbst«, antwortete sie spitz.

»Der fährt da gerade weg«, murmelte Barg-Sa dümmlich.

Die Ärztin drehte sich zu ihm. »Pech«, sagte sie kurz und ging zurück zur Hauptschleuse der Station.

Anjiara warf Barg-Sa einen viel sagenden Blick zu und machte sich auch daran, wieder in die Station zu gehen.

Kargan wandte sich an Barg-Sa. »Barg-Sa, ich wollte noch einmal mit dir wegen der ... Sabotage reden.«

»Das klären wir nachher bei einem Bier.«

»Gibt es so etwas hier?«, fragte Kargan erstaunt.

Barg-Sa grinste. »Jetzt, da Werland weg ist, schon!«

Kargan prustete los. »Wo hast du diesen Schwachsinn schon wieder her?«, lachte er in das Kom-Mikrofon.

»Naja, naja! In dieser netten Strip-Bar auf der Vitalis-Handelsstation ist abends gut was los! Da lernt man die eine oder andere skurrile Gestalt kennen, das darfst du mir glauben. Nicht zu vergessen die unglaublichen Volumen der schnuckeligen Stripperinnen vom Mocker-Kanton!« Dagobert lachte dreckig und Kargan fiel kopfschüttelnd mit ein.

»Aber ich hab da noch mehr. Also, pass auf. Kennst du den schon? Sitzt Ravenberg im Casino. Links von ihm sitzt eine Prostituierte vom Karndalf-Kanton und rechts von ihm sitzt eine vom Gashlef-Kanton. Sagt die links von ihm ...« Plötzlich stockte Dagobert.

»Dagobert? Alles in Ordnung?«, fragte Kargan.

»Da ist schon wieder dieses seltsame Signal ...«, hörte er Dagobert durch das Kom murmeln. »Ich muss ...«

»Dagobert? Was für ein Signal?«

»Sorry, Kargan, ich muss schnell Schluss machen. Da ist wieder dieses komische Signal! Das muss ich mir genauer ansehen. Mach’s gut, Kumpel.«

»Was für ein Signal? Sag schon, Dagobert! Was für ein verdammtes Signal?«

Stille.

Die Kom-Verbindung war von der anderen Station bereits beendet worden.

»Mist.«, fluchte Kargan. Dass Dagobert von einem ‚seltsamen Signal‘ sprach, hatte ihn hellhörig gemacht.

Überflüssigerweise drehte er am Lautstärke-Regler des Terra-Kom-Receivers herum und grübelte nach. Seit er selbst das seltsame Signal gehört hatte und dann zu Werland ins Büro gegangen war, war es nicht mehr zu hören gewesen.

Kargan sah sich in seinem Turm um. Der Kom-Raum, der sich sechzig Meter über dem Erdboden befand, war mit einer Röhre aus dreifach geschichtetem dunkelgrauem Flarretstahl mit der Station verbunden. Eine schmale Leiter führte nach oben durch diese Röhre und endete im Kom-Raum an einer verschließbaren Luke im Boden.

Die enorm leistungsstarken Transceiver des Turmes verlangten, dass sich die Kom-Geräte in unmittelbarer Nähe zu den Antennen befanden. Deswegen war der Kom-Raum überhaupt oben im Kom-Turm angebracht, von dessen Spitze mehrere Antennen in den Himmel ragten.

Der Raum war gerade so groß, dass drei Leute darin Platz hatten. Die Arbeitsmenge jedoch unter den gegebenen Umständen war für eine Person vorgesehen.

Die Flarretglasscheiben ermöglichten den Blick nach Norden, Süden und Westen. Im Osten war lediglich eine Kunststoffverkleidung, die die gesamte Kom-Technik verbarg. Drei Hauptkonsolen waren unter den Fenstern angebracht, an denen die unterschiedlichen Transceiver und anderen Funktionen bedient werden konnten.

Kargan blickte nach Süden.

Die gleißende Hitze, die zu dieser Uhrzeit nun gerade voll ausreifte, erzeugte das übliche Verschwimmen der Sicht über dem rötlichen Wüstenboden der Teneib-Wüste. Der Nexus stand nun im Zenit.

Kargan entdeckte eine minimale Verdunklung am Horizont. Da braute sich etwas zusammen.

Er hatte in seinen vier Tagen an der Station bisher nur einmal einen Sandsturm erlebt. Gleich am ersten Tag ihrer Ankunft mit dem Perser-Shuttle hatte sich am Nachmittag der Himmel verdunkelt und es war ein Sturm gekommen. Allerdings war dieser Sturm nicht besonders spektakulär gewesen.

Man hatte von oben lediglich das leise Prasseln des Sandes an die Flarretstahlwände des Kom-Turmes gehört.

Irgendwas sah diesmal aber anders aus. Kargan hatte so ein Gefühl im Magen.

Er dachte über das Außenteam nach. Aber ein Crawler sollte von einem schlimmen Sandsturm völlig unbeschädigt bleiben.

Hatte sich Kargan gerade getäuscht, oder war dort eine Art Interferenz im Flimmern der Luft über dem Wüstenboden gewesen? Die Augen spielten einem gerne Streiche in einer Wüste ...

Um 1300 entschied Kargan, Mittagspause zu machen und dabei mit Barg-Sa zu reden.

Im Speisesaal stand lediglich die Ärztin, deren Name Kargan immer noch nicht wusste, an der Theke und schnippelte an irgendetwas Essbarem herum.

Kargan konnte nicht feststellen, um was genau es sich handelte.

Er entschied, nicht den Muffel zu spielen und sie anzusprechen. »Entschuldigung, ich glaube wir haben uns noch nicht einmal richtig vorgestellt. Ich bin Kargan Saturon, in der Kom-Einheit tätig. Wie ist ihr Name?«

Er machte Anstalten, ihr seine Hand hinzuhalten, zog sie aber schnell zurück, als sie nur kurz aufblickte.

»Ich bin Viktoria Warden. Schön sie kennen zu lernen.« Ihr gleichgültiger Tonfall sagte etwas anderes.

»Nun, Viktoria, wo waren sie vor dieser Mission stationiert?« Kargan versuchte, freundlich zu klingen.

»Auf der Bentham.«

»Ah! Dann waren sie ja auf dem gleichen Schiff wie Anjiara. Ich wusste gar nicht, dass Mitglieder des Karndalf-Kantons auch auf Schiffen des Andragon-Kanton-Zusammenschlusses arbeiten können.«

»Tja.« Viktoria zog die Augenbrauen nach oben, ohne aufzublicken.

Eine unangenehme Pause entstand.

Zu Kargans Glück öffnete sich im nächsten Moment die Tür und Barg-Sa kam wie immer grinsend hereingerumpelt. »Was gibt’s, Kinder« sagte er und ging zur Kühltheke.

Nachdem er und Kargan sich eines der aufzuwärmenden Kompakt-Lunchpakete zubereitet hatten, setzten sie sich an einen der Tische.

»Werland hat mich dazu beauftragt, während seiner Abwesenheit etwas über die Sabotage am Generator herauszufinden«, fing Kargan an.

»Was für eine Sabotage«, fragte Viktoria. Kargan hatte bereits gute Lust, sie absichtlich zu ignorieren, doch Barg-Sa sagte: »Halb so wild, Kleine. Lass mal gut sein. Also pass auf, mein Junge. Ich habe einige Miniaturkameras, die unbenutzt im Lagerraum herumliegen. Wenn es dich beruhigt, werde ich ein paar davon in der Station aufstellen. Dann aktivieren wir eine ganztätige Überwachungsaufzeichnung und du kannst dich an deinem Plasmamonitor im Kom-Turm austoben und sie dir alle anschauen.«

»Das ist doch schon mal etwas!« Kargan war hinsichtlich Barg-Sas Unterstützung erleichtert.

»Und was ist mit Privatsphäre? Das kann doch nicht euer ernst sein, die ganze Station zu überwachen. Wir sind doch hier nicht bei ...«

»Deine geliebte Dusche werden wir schon nicht überwachen«, unterbrach Barg-Sa die Ärztin. »Übrigens habe ich noch etwas für dich, Kargan. Pass auf.« Er ignorierte den zickigen Blick von Viktoria und kramte nach etwas in der Seitentasche seines Jacketts. Zum Vorschein kam ein Objekt, das Kargan nicht identifizieren konnte. Es war milchig weiß, kugelrund und hatte einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern. Die Kontur eines Knopfes zeichnete sich fast unmerklich an seiner Unterseite ab.

»Das ist eine Miniatursonde«, sagte Barg-Sa und berührte fast unmerklich den Knopf. Die milchige weiße Farbe der Kugel schien aufzuglimmen und wurde heller, bis sie eine stattliche Leuchtkraft entwickelt hatte. Das Objekt schwebte langsam aus Barg-Sas Handfläche und summte leise.

Kargan staunte. »Hab von so was gehört ... aber noch nie gesehen! Wozu ist das gut?«

Die Sonde schwebte bis etwa fünfzig Zentimeter über Barg-Sas Hand und gab dann ein leises klickendes Signal von sich, das Kargan automatisch als ‚Bereit‘-Signal interpretierte.

»Du kannst sie für alles Mögliche benutzen. In erster Linie braucht man sie zum Suchen von Spuren. Sie haben über sechs Milliarden verschiedene Materialien und Stoffe eingespeichert. Sind sozusagen Superschnüffler. Also wenn du zum Beispiel wissen willst, wo sich Viktoria befindet, kannst du einfach nach ihrem Parfüm suchen lassen.« Barg-Sa grinste über beide Backen.

Viktoria verschränkte die Arme und schaute genervt. Ein gewisses Interesse konnte man dennoch von ihrem Gesicht ablesen.

»Wie steuert man die Sonde?«, wollte Kargan wissen.

»Das werde ich dir jetzt demonstrieren. Ihre KI ist primitiv, aber sie reagiert auf deutlich ausgesprochene Sätze mit dem Vorwort ‚Sonde‘. ‚Sonde‘ ist der aktuelle Default-Name, kann jedoch geändert werden.

‚Sonde‘: finde Parfüm ‚Haute Couture‘, Auswahl: Kürzeste Entfernung.«

Die Sonde gab ein Klickgeräusch von sich und steuerte ohne Umschweife auf Viktoria zu, die immer noch mit verschränkten Armen aber nun unsicher an die Theke gelehnt dastand. Etwa einen Meter vor ihrem Gesicht bremste das Objekt ab und tänzelte klickend davor herum.

»Woher kennst du mein Parfum, du Spinner«, fragte sie, während sie erschrocken zurückwich.

»Bin eben Profi«, lachte Barg-Sa.

»Faszinierend«, stellte Kargan fest und betrachtete die leuchtende Kugel in der Luft.

»Sie gehört dir, Junge. Vielleicht wird sie dir mit deiner ‚Sabotage‘ nützlich sein.«

Kargan fragte sich, warum offensichtlich alle auf der Station außer ihm diese Sache nicht ernst nahmen.

»Ich schicke dir nachher noch die Bedienungsanleitung über das Netz in deinen Kom-Turm wenn du willst.« Barg-Sa fixierte die Sonde. »‚Sonde‘: Besitzerwechsel. Authentifizierung: Barg-Sa Gerents. Code: Stinkmorchel. Ziel: Menschlicher Eigengeruch von Kargan Saturon. Personenbezogener Ort: Auf dem Stuhl gegenüber von mir.« Barg-Sas kleine Augen funkelten belustigt.

Die Sonde knackte und schwebte langsam zu Kargan. Sie knackte mehrmals hintereinander und fing an, mit ein Meter Abstand in einer Art Miniaturumlaufbahn um Kargans Kopf zu rotieren.

»Ich danke dir!«, freute sich Kargan und bestaunte die leuchtende Kugel über sich.

»Das Ding würde mich ja wahnsinnig machen«, murmelte Viktoria skeptisch.

Kargan ignorierte sie.

Nachdem Barg-Sa die Kameras installiert hatte, zeigte er Kargan, wie er die Aufzeichnungen ansehen und den Live-Stream der gewünschten Kamera auf seinen Monitor schalten konnte. Sie hatten eine Kamera direkt im Generatorraum, eine im Kellergeschoss darüber, sowie zwei im Erdgeschoss und zwei weitere im ersten Stock. Die sechs Streams wurden auf Monokristallen mit enormer Speicherkapazität rund um die Uhr aufgezeichnet. Kargan fragte sich erneut, warum das verdammte Karndalf-Kanton an Komfort sparte und was die Ausrüstung betraf vom Feinsten zur Verfügung stellte.

Um 1400 nahm Kargan die Kom-Verbindung mit dem Außenteam auf.

»Marcus Werland, Außenoperation eins mit dem Außenteam des SHIRE Alpha Teams meldet sich zur ersten regelmäßigen Kom-Verbindung mit Andragon Outrange 15«, meldete sich Werland über das Kom. »Status?«

»Status Quo Vadis«, gab Kargan zurück. Die Klassifizierung Quo Vadis wurde im Karndalf-Kanton als Synonym für ‚Alles in regulärem Ablauf‘ gebraucht. Kargan hatte noch nie verstanden warum, angesichts der eigentlichen Bedeutung der Worte.

Werland war klar und deutlich über das Kom zu hören. »Bestätigt. Wir befinden uns auf halber Strecke zwischen der Station und dem Gorres-Massiv.

Bisheriges Voranschreiten ohne Probleme. Wir haben jedoch etwas im Süden identifiziert, was nach einem Sandsturm aussehen könnte.« Der Motor des Crawlers donnerte im Hintergrund.

»Bestätigt«, antwortete Kargan. »Ich habe eine ähnliche Vermutung. Wirkt sich das auf die Mission aus?«

»Negativ. Voranschreiten ohne Einschränkungen möglich. Bis wir das Massiv erreicht haben, wird der Sturm hoffentlich vorbei sein. Wenn nicht, werden wir ihn im Crawler abwarten.«

»Bestätigt.«

Das Gespräch wurde noch einige Zeit fortgeführt und schließlich von Werland beendet. Kargan stellte fest, dass Werland sich bereits nicht mehr im Geringsten um den Vorfall am Generator interessierte und voll und ganz seinem Entdeckerruhm entgegen zu schweben schien.

Anschließend studierte Kargan die Bedienungsanleitung auf alle möglichen Befehle für die Sonde und entschloss sich, noch einmal in den Generatorraum zu gehen. Er aktivierte sein Abwesenheitsmakro an der Kom-Station und stieg durch die Luke die Leiter hinunter.

Kurze Zeit später stand er unschlüssig vor dem summenden Generator und starrte in den Flux. Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass das Gitter, hinter dem sich der durchtrennte Kabelstrang befunden hatte, an seinem Platz war.

Er entfernte es.

Mario hatte ordentliche Arbeit geleistet. Die Stränge waren neu plasmageschweißt und isoliert.

Kargan aktivierte seine Sonde. Die kleine, summende Kugel erhellte den dunklen, geöffneten Schacht unter dem Flux. »‘Sonde‘: Identifiziere Gerüche und Spuren in diesem Schacht.«

Die Sonde klickte und schwebte langsam in den Schacht. Kurze Zeit später klickte sie erneut und rotierte mehrfach um ihre eigene Achse. Sie flog aus dem Schacht heraus und positionierte sich vor Kargans Blickfeld. Ein leises Summen in einer anderen Frequenz ertönte und ein kleines Hologramm wurde vor Kargan projiziert.

Das Hologramm zeigte eine riesige Liste mit Stoffen und Gerüchen. Das meiste an Stoffen waren gewöhnliche Komponenten der Generatorbauteile: Flarretkonstrukte, Isolationsmaterialien und elektronische Bauteile. Was Gerüche anging, sah es interessanter aus. Die Sonde hatte den menschlichen Eigengeruch von ihm, Barg-Sa, Anjiara und Mario Winston an den Kabelsträngen identifiziert. Des Weiteren waren einige Geruchsmarken aufgeführt, von Anjiaras Gesichtscreme über den Geruch der Elektroteile bis hin zum Geruch von Marios Schweißbrenner.

Und da stand noch etwas im unteren Teil der Liste.

Unbekannter Geruch.

Kargan lief ein Schauer über den Rücken. Bei sechs Milliarden bekannten Gerüchen und Stoffen war es äußerst seltsam, einen unbekannten Geruch ausgerechnet am Ort der Sabotage zu finden. Dies bedeute jedoch auch, dass es sich offensichtlich nicht um einen Saboteur von der Station selbst handeln konnte.

»‘Sonde‘: Identifiziere unbekannten Geruch.«

Die Sonde klickte zweimal, was das Zeichen für ‚nicht möglich‘ war.

Etwas Fremdes war vielleicht in diese Station gekommen. Vielleicht ein Sucher?

Kargans Puls wurde schneller. Nein, kein Sucher. Der Geruch eines Sucherwesens war glücklicherweise in den sechs Milliarden Elementen der Sonde mit einbegriffen, da er von getöteten Wächtern abgeleitet werden konnte. Es war definitiv etwas Unbekanntes. Vielleicht etwas von diesem Planeten. Der Planet Infidelis war als Klasse B eingestuft worden. Das bedeutete, dass zwar Lebewesen in einer sauerstoffreichen Atmosphäre, jedoch keine intelligenten vorhanden waren. Der Planet war von der RS Terranigma ausgiebig gescannt worden. Die Scanner hatten noch nie gelogen. Aber etwas war hier. Vielleicht sogar hier in diesem Kellergeschoss.

Kargan schaute sich verbissen um, als könne ein Monster aus den dunklen Ecken des schwach beleuchteten Generatorraums hervorspringen. Er hatte plötzlich Angst. Es war eine andere Angst als die, die er in Mol Ondune vor den Schlägertypen gehabt hatte. Es war die Angst vor etwas Ungewissem, Unsichtbarem.

Damit stellte sich die nächste Frage. Sollte tatsächlich ein Eindringling aus unerklärlichen Gründen unbemerkt an den Sensoren in und außerhalb der Station vorbeikommen und feindlich gesinnt sein, was bezweckte er dann mit der Sabotage eines Generators?

Kargan wollte urplötzlich sofort aus dem Kellergeschoss, aber ihm kam eine Idee. »‘Sonde‘: Folge Geruchsspur. Klassifizierung: Unbekannter Geruch.«

Die Sonde klickte und setzte sich summend in Bewegung. Zu Kargans Erleichterung steuerte sie in Richtung der Treppe nach oben. Er folgte ihr. Alle paar Infidelis-Sekunden verharrte sie und tänzelte kurz hin und her, als müsse sie die Spur des Geruchs neu finden, aber offensichtlich konnte der Geruch tatsächlich verfolgt werden. Dieser Erfolg bestätigte gleichermaßen Kargans Vermutung und auch seine Angst.

Im ersten Kellergeschoss vollführte die Sonde mehrere seltsame Kursänderungen, die keinem konkreten System zu folgen schienen. Es hat hier herumgesucht, schoss es Kargan durch den Kopf.

Die Sonde flog weiter, erreichte schließlich erneut die Treppe und flog in das Erdgeschoss. Oben angekommen steuerte sie geradewegs auf die Hauptschleuse zu, die in die endlose Teneib-Wüste führte. Vor der Schleuse kam sie zum Stillstand und klickte energisch.

Kargan sah sich um.

Niemand schien sich im Moment im Erdgeschoss zu befinden, alle waren im zweiten Stockwerk in ihren Spezialräumen und widmeten sich ihren Aufgaben. Kargan überlegte sich, was die Ärztin als solche wohl zu tun hatte. Er verdrängte den Gedanken, starrte wieder auf die Hauptschleuse und überlegte stillschweigend mehrere Infidelis-Sekunden.

Schließlich ging er entschlossen zu der kleinen Konsole am Rand und aktivierte die Schleuse. Mit einem lauten Zischen schossen die beiden massiven Flarretstahltüren auseinander.

Die Hitze schoss Kargan entgegen. In der Station wurden Klimaanlagen benutzt, aber außerhalb konnte man ohne einen Expeditionsanzug wohl nicht länger als einige Stunden überleben.

Vor Kargan befand sich die Rotsandwüste. Rechts und links ragten die großen Betonklötze wie nebeneinander stehende Wände empor. Der Nexus wanderte bereits schräg nach Süden weiter und erhitzte dennoch unermüdlich den Wüstenboden von Infidelis. Der Wind schien zugenommen zu haben.

Kargan spürte das Prickeln von feinen Sandkörnern auf seiner ungeschützten Haut. Sie kamen durch die Schneise zwischen den Betonklötzen heran geschossen, durch die der Crawler nach draußen gefahren war.

»‘Sonde‘: Setze Spurfolge fort. Klassifizierung: Unbekannter Geruch.«

Die Sonde, die im grellen Tageslicht nur wie eine kleine, milchig weiße Kugel aussah, klickte bestätigend und setzte sich erneut in Bewegung. Zuerst folge sie ein Stück der Schneise, bis sie dann nach rechts abbog und zwischen zwei Betonwänden hindurchsteuerte. Der Wind bereitete ihr offensichtlich Schwierigkeiten, die Geruchspur zu halten. Immer wieder wurde sie langsamer und tänzelte hin und her, näherte sich dem Boden und rotierte um ihre eigene Achse.

Schließlich flog sie immer weiter in wirren Kursen zwischen die vielen Betonklötze um die Station herum. Es war hier wie in einem Labyrinth, fand Kargan und blickte die fünf Meter hohen Wände rechts und links von ihm hinauf.

Der Eingang von Andragon Outrange 15 zeigte nach Süden. Kargan hatte jedoch das Gefühl, dass er sich mittlerweile irgendwo westlich von der Station befinden musste.

Ihm war nicht so unheimlich zu Mute wie in den düsteren Kellergeschossen der Station. Er konnte sich jedoch einer leichten konstanten Anspannung nicht verwehren.

Die Sonde führte ihn um eine Ecke und wurde zwischen zwei parallel angeordneten Betonblöcken langsamer. Ein Klickgeräusch signalisierte Kargan das Ende der Spur.

Da war nichts.

Ein Anflug von Enttäuschung überkam Kargan. Was hatte er erwartet? Dass die Spur bei einem kleinen grünen Männchen enden würde, das ihm mit einem utopischen Schneidelaser zuwinken würde ‚Hallo, ich bin’s, der Saboteur‘?

Er sah die Sonde an. Sie schwebte reglos etwa einen Meter über dem Wüstenboden. Kargan sah den Wüstenboden darunter genauer an. Da war doch etwas. Es war eine Art Schneckenmuster im Sand, ein kreiselförmiges Muster.

Kargan kannte diese Art von Muster. Sie blieben oftmals in verformbaren Oberflächen – wie Wüstensand – zurück, nachdem Teleportationsvorgänge stattgefunden hatten. Aus Gründen die Kargans Wissen überstiegen, blieben bei der Raumkrümmung des Teleportationsvorgangs meistens Kringel als Überbleibsel nach dem Vorgang übrig. Diese waren in der Regel zehn Zentimeter groß.

Dieser hier hatte einen Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern. Abgesehen davon erinnerte es mehr an einen Schlund, in den etwas hineingesaugt worden war.

Kargan spürte die Angst wieder in sich hochsteigen. Er musste das unbedingt den anderen berichten.

Er wollte zurückgehen, als er plötzlich registrierte, dass die Härchen auf seinen Armen aufstanden. Er war zwar nervös, aber etwas fühlte sich anders an. Dies war kein Schauer, der die Haare aufstellte. Es war wie Elektrizität.

Bald merkte er auch, dass sein T-Shirt an ihm haftete wie ein eng anliegender Taucheranzug. Er spürte die Spannung, die in der Luft lag, als wäre sie greifbar.

Sie wurde mit jeder Sekunde stärker.

Dann hörte er das Summen.

Erst wie ein Brummen, das wie ein ferner leiser Ton im Rauschen des Wüstenwindes zu vernehmen war. Dann lauter wie ein Elektrizitätswerk in der Nähe.

Kargans Herz fing schneller zu klopfen an. »Was geschieht hier«, keuchte er, seine Hände betrachtend. Er sah zu den Seiten. Die riesigen Betonwände versperrten jegliche Sicht. Oben konnte er den Wüstenhimmel erkennen, der wie ein unbeteiligtes ruhiges blaues Meer über Infidelis verharrte.

Das Summen wurde laut. Ein Knistern fügte sich hinzu. Kargan hatte das Gefühl, mitten in einem Hochspannungswerk zu stehen. Er konnte nicht erklären warum, doch er war wie gebannt. Er konnte nicht Wegrennen, irgendetwas schien ihn verharren zu lassen.

Das Summen und Knistern schien sich langsam aber sicher lokalisieren zu lassen. Es kam von hinter der Betonwand links von Kargan.

Kargan starrte wie besessen auf die Wand. Das Summen wurde noch lauter, war nun fast unerträglich. Kargan ging in langsamen Schritten rückwärts, ohne den Blick von der Wand abzuwenden, die wie ein gesichtsloser grauer Dämon vor ihm prangte. Kargans Atem ging schwer. Er war stark angespannt.

Dann fasste von hinten eine Hand auf seine linke Schulter und lies ihn herumfahren.

»Was zum Teufel machen Sie hier draußen?«

Kargan registrierte erst nachdem der unglaubliche Schock halbwegs nachgelassen hatte, dass der rote Punkt in der silbernen Scheibe, die er anstarrte, nicht das Auge eines todbringenden Wesens sondern das seltsame Ersatzauge von Rukkbert war.

Kargan wirbelte erneut herum und starrte die Betonwand an. Das Summen war wie aus dem Nichts abgeklungen. Das leichte Rauschen des Windes war zu vernehmen, als wäre nichts passiert. Die Betonwand war nichts weiter als ein schweigender grauer Klotz und Kargan spürte keine Elektrizität mehr.

»Haben sie das gerade gehört?«, keuchte er und musste sich beherrschen, seine Stimme nicht überschlagend klingen zu lassen.

»Ich dachte das könnten sie mir sagen. Und jetzt beantworten sie meine Frage: Was machen sie hier draußen? Warum sind sie nicht im Kom-Turm?«

Rukkberts Stimme klang wie eine rostige Maschine.

Kargan fühlte sich überhaupt nicht wohl. Auch wenn allen Anscheins nach nichts mehr passierte, wollte er sofort weg von hier. »Das erkläre ich ihnen in der Station! Jetzt müssen wir hier weg, und zwar sofort! Schnell, beeilen sie sich!« Er starrte Rukkbert an.

Rukkbert starrte zurück und sagte nichts. Einen Augenblick dachte Kargan, Rukkbert würde wie in einem Horrorfilm das Gesicht zu einer Fratze verziehen und ihn anfallen.

Doch eine Sekunde später knurrte er: »Dort will ich eine Erklärung.«

Kargan befahl seiner Sonde, den Rückweg zu leiten und hastete an dem unbeeindruckten Rukkbert vorbei durch das Labyrinth aus Betonwänden. Auch wenn kein Zeichen mehr auf das Erlebnis von eben hindeutete, wurde Kargan sein ungutes Gefühl im Bauch nicht los. Er blickte sich ununterbrochen um, als würde er ein Gespenst sehen können.

Als er bei der Hauptschleuse angekommen war, wartete er ungeduldig, bis Rukkbert hinter einem der Betonklötze hervorkam und ihn mürrisch musterte. Kargan hatte fast das Gefühl, als käme der Mann absichtlich langsam daher getrottet.

»Sperren sie die Schleuse wenn sie drin sind!«, rief Kargan in fast befehlshaberischem Ton und rannte durch den Eingang in die Station.

»Warten sie im Besprechungsraum, Saturon«, vernahm er das Knurren von Rukkbert, der hinter ihm die Schleuse erreichte.

Kargan entschied sich, dem Befehl vorerst nicht Folge zu leisten, sämtliche Verbleibenden SHIRE Alpha Teammitglieder zusammenzusuchen und in den Besprechungsraum zu bitten. Sie hatten seinen Verdacht belächelt und ihn nicht ernst genommen. Aber jetzt sollten sie zuhören. Jetzt würde er sie eines Besseren belehren.

Viktoria kam als letzte in den Besprechungsraum. Sie hatte gerade – am helllichten Tag und während der Arbeitszeit – geduscht und sich noch die Haare geföhnt, wie Kargan fassungslos feststellen musste.

Er war gerade dabei, auf die Plasmamonitore zu starren und verbissen zwischen den verschiedenen Überwachungskameras hin- und herzuschalten, als sie den Raum betrat. Ihre Haare waren noch leicht feucht und ihr Gesichtsausdruck war mehr als mürrisch.

»Also, was soll nun das Ganze, wenn ich mal fragen darf?«, fragte der Geologe ungeduldig, den Kargan noch nicht kannte. Der eher unscheinbare Mann sah ihn stirnrunzelnd an.

Kargan wandte sich von den Monitoren ab und sah in die Runde. Auf der linken Seite sah er Anjiara und Barg-Sa, die ihn freundlich und dennoch erwartungsvoll ansahen. Die Ärztin hatte neben Rukkbert Platz genommen, der Kargan musterte, als würde er versuchen, seine Gedanken zu lesen. Auf der rechten Seite saß der Geologe, der die Frage gestellt hatte und nun abwartete.

Kargan holte tief Luft und erzählte ihnen alles. Er fing bei seiner von Werland ignorierten Vermutung der Sabotage an, erzählte vom unbekannten Geruch, den die Sonde registriert hatte und endete bei dem Muster im Sand und beim seltsamen Erlebnis zwischen den Betonwänden. Anschließend fiel ihm das Geräusch ein, das der Terra-Kom-Receiver im Kom-Turm geliefert hatte. Auch dass Dagobert von der Andragon Outrange 14 beim letzten Gespräch von einem seltsamen Signal gesprochen hatte, behielt er nicht für sich.

Nachdem er fertig war, lag ein Schweigen in der Luft.

Kargan vermochte anhand der Blicke nicht zu interpretieren, ob sie ihn nun des Verfolgungswahns bezichtigen oder beistimmen würden.

Nicht zum ersten Mal war Barg-Sa wieder derjenige, der als erster das Wort ergriff. »Es tut mir leid, Kargan.«

Aber du bist völlig verrückt, hörte Kargan die Stimme in seinem Kopf den Satz fortsetzen.

»Es tut mir leid, dass ich die Sache nicht ernst genommen habe. Die Dinge von denen du berichtet hast verursachen mir Ärger über mich selbst, dass ich überhaupt so dumm sein konnte, die Geschichte so zu ignorieren.«

Aus dem Augenwinkel sah Kargan den Geologen leicht nicken. Anjiara starrte nachdenklich ins Leere.

Barg-Sa fuhr fort. »Wir haben zwar keine konkreten Fakten und ich hätte nicht die geringste Ahnung, wie jemand in diese Station unbemerkt eindringen könnte, um sinnloserweise einen Generator zu sabotieren. Aber dennoch sollten wir auf der Hut sein. Da ich der Sicherheitsoffizier bin und es eh unter meinen Aufgabenbereich fällt, werde ich ab jetzt, wenn immer es mir möglich ist, die Kamerastreams überwachen. In der Nacht werde ich Sicherheitsrundgänge einlegen, damit ihr in Ruhe schlafen könnt.« Er drehte sich zu Anjiara. »Wie ich das durchhalte, werde ich mir allerdings noch überlegen müssen«, murmelte er.

»Wir wechseln uns ab.« Der Geologe kaute lässig an einem Kaugummi. Die anderen sahen ihn an. »Jeder ist mal dran. Einmal er, dann mal ich, dann mal du ...« unbeeindruckt und kauend blickte er die entsetzte Ärztin an.

»Was soll ... glaubt ihr etwa alle diesem Spinner? Was ist in euch gefahren? Diese Station ist absolut sicher. Was ist mit den Bewegungssensoren und so? Bloß weil dieser Verrückte sich seltsame Signale einbildet und irgendwo ein Summen außerhalb der Station hört – pah. Das war bestimmt der Wind«.

Viktoria sprach in arrogantem Tonfall und fuhr sich durch die Haare.

»Was bildest du dir eigentlich ein! Du widerliche Zicke. Du hast nicht die geringste Ahnung! Und du beschuldigst ihn ...« brach es aus Anjiara heraus.

Rukkbert, der bisher noch keinen Ton gesagt hatte, unterbrach sie mit seiner rostigen Stimme. »Schluss mit dem Gezeter. Das bringt hier niemanden weiter.

Ich kann im Moment noch nicht sagen, was ich von der ganzen Sache hier halten soll. Aber wie Gerents korrekterweise gesagt hat, müssen wir dennoch auf der Hut sein. Ich selbst war außerhalb der Station bei Saturon und habe das summende Geräusch gehört, bevor es abrupt verstummt ist. Es war definitiv kein Wind.« Er warf Viktoria einen mürrischen Blick zu. »Dennoch müssen wir uns kontrollieren und dürfen nicht unseren Verstand verlieren. Wir müssen unserem Arbeitsverlauf folgen. Das Karndalf-Kanton setzt Erwartung in uns. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich werde einen Schichtplan aufstellen, der ab sofort in der Nacht gelten wird.«

Die Erwartungen des Karndalf-Kantons sind mir scheißegal, dachte sich Kargan.

»Das ist doch alles absurd. Ein Eindringling. Auf diesem Planeten! Und wie sollte er jemals an den Sensoren vorbei ...«, schimpfte Viktoria leise vor sich hin, aber ihre Stimme wurde vom Geräusch der rutschenden Stühle übertönt, als die anderen langsam und miteinander murmelnd aufstanden.

Im Hinausgehen sagte Rukkbert zu Kargan: »Melden sie das heute Abend Werland, haben sie verstanden?«

»Wenn er mir mal zuhören würde«, konnte sich Kargan nicht verkneifen.

Rukkberts Antwort war lediglich ein düsterer Blick, der durch das rote Leuchten in seinem silbernen Ersatzauge noch düsterer wirkte.

Als Kargan selbst durch die zischende Tür gehen wollte, hielt Anjiara ihn sanft am Arm fest. Sie lächelte ihn an, als er sich zu ihr herumdrehte. Sie schien sich jedoch nicht ganz darüber im Klaren zu sein, was sie eigentlich sagen wollte.

»Unheimliche Sache«, gab Kargan spontan von sich. »Da will man sich gar nicht mehr gern ohne Gesellschaft irgendwo aufhalten. Als ich vorhin alleine da draußen war ...« Er verdrehte viel sagend die Augen.

Anjiara schmunzelte.

»Ich bin ja kein Angsthase, aber das war mir wirklich suspekt«, fügte Kargan hinzu.

»Dann müssen wir wohl was gegen das Alleinsein unternehmen.« Anjiara legte den Kopf leicht schief. Ihre intensiven grünen Augen strahlten trotz des begrenzt beleuchteten Besprechungsraums.

Kargan kam sich vor wie in einer kitschigen Liebeskomödie, aber dennoch brachte er heraus: »Dann komm doch zu mir hoch in den Kom-Tower wenn du Zeit hast. Ich bin da ja eh noch bis 1900 Infidelis-Zeit oben wegen der Außenteam-Kontaktierung. Dann kann ich dir mal meine kleine Welt zeigen.«

»Okay.« Anjiara schaute verschmitzt. »Hab’ um 1700 Feierabend nach regulärer Arbeitszeit. Also, man sieht sich.« Sie warf ihm noch ein Nicken zu und verschwand durch die Tür.

Kurz nach 1750 Infidelis-Zeit, als Kargan gerade weitere Optionen seiner Sonde studierte, klopfte es an der Luke im hinteren Bereich des Kom-Raumes.

Der Anblick einer unsicheren Anjiara, die an den oberen Sprossen der Leiter klammerte und ihn durch die Luke anschaute, amüsierte Kargan nicht wenig.

Er reichte ihr die Hand und hievte sie sachte in den Kom-Raum.

»Hier arbeitest du also«, sagte sie interessiert und sah sich um. Dabei fiel ihr Blick auf die nach Norden, Westen und Süden gerichteten großen Flarretglasfenster. »Kein schlechter Ausblick!«, staunte sie. »Da wird man schon neidisch. Und du bist so ungestört hier.« Ein viel sagender Blick vermittelte Kargan, dass Anjiara gerne auf ihre Gesellschaft im Terraforming-Raum verzichtet hätte.

»Schau.« Kargan deutete in Richtung des südlichen Horizonts. »Dort braut sich etwas zusammen.«

»Oh.« Anjiara wirkte verwirrt.

»Wahrscheinlich ein ziemlich starker Sandsturm. Die Analysen von Infidelis haben eigentlich ausgesagt, dass Sandstürme in der Teneib-Wüste eher selten sind, besonders starke. Deswegen verwundert mich das ein wenig. Aber andererseits habe ich irgendwelchen Analysen noch nie vertraut.« Kargan klang lässig, bemerkte jedoch ein kritisches Blitzen in Anjiaras Blick. »Ähm ... Womit natürlich die ... Terraforming-Analysen nicht mit einbegriffen sind«, fügte er hastig hinzu.

Seine Einschränkung war zu offensichtlich und beide merkten es. Anjiara lachte und Kargan konnte sich ein verteidigendes Grinsen nicht verkneifen.

In den folgenden Infidelis-Minuten zeigte Kargan ihr seine Transceiver, die verschiedenen Funktionen der Geräte und seine Sonde, die er von Barg-Sa bekommen hatte. Sie wirkte interessiert und entspannt den Zeitraum über.

Sie erzählten sich gegenseitig vergangene erlebte Dinge und diskutierten über die verschiedenen Andragon-Kantone sowie Maurizius Ravenberg und den Andragon-Kanton-Zusammenschluss.

Da Anjiara Kargans Interesse an neuen Technologiefortschritten in der Wissenschaft bemerkte, brachte sie ein spezielles Waffensystem zur Sprache, das offensichtlich gerade entwickelt wurde.

»Ich habe das ganz am Rande mitbekommen, als ich auf der Bentham war. Die superschlauen Köpfe vom Karndalf-Kanton haben da gerade mit einem Geheimprojekt begonnen, das komplett auf Nanotechnologie basieren sollte«, sagte sie gerade. »Dieses ‚Geheimprojekt‘ war in dem Sinne keins mehr, als durch einen Wissenschaftler Informationen nach draußen gesickert sind, die sich natürlich verbreitet haben wie ein Virus. Details sind nicht bekannt, nur dass es sich um Nanozellen handeln soll, die in die menschliche Hand integriert werden. Dann soll der Benutzer diese Zellen über einen Skin-Connector oder dergleichen ansteuern können.«

»Das hört sich ja faszinierend an«, warf Kargan ein. »Aber was bewirken die Nanozellen?«

»Ich kenne mich da auch zu wenig aus«, murmelte Anjiara. »Es hieß jedoch, dass man die Vorstellungskraft als Waffe einsetzen könne. Das war das Besondere an dem Gerät.«

»Hmm. Wie soll man sich so etwas vorstellen?«

»Ich denke, man visualisiert sich in Gedanken zum Beispiel eine Flammenwand, und diese wird dann durch die Nanozellen tatsächlich generiert.«

»Unglaublich.«

»Ja. Aber stell dir das vor! Was man für unglaubliche Sachen damit machen könnte.« Anjiaras hellgrüne Augen leuchteten, als sei sie keine junge Wissenschaftlerin mehr sondern ein begeisterter Rekrut der Karndalf-Kantongarde.

Kargan konnte sich ein Lachen angesichts des Anblicks nicht verkneifen.

Anjiara bemerkte seine Reaktion. »Du lachst mich aus!«, sagte sie übertrieben entrüstet und fiel dann jedoch mit ein.

»Oh, es ist fast 1900 Infidelis-Zeit«, bemerkte Kargan schließlich erschrocken. »Ich muss die Vorbereitungen für die Kom-Verbindung treffen.« Er betätigte einige Knöpfe auf seiner Konsole.

»Soll ich ...?« Anjiara deutete auf die Luke im hinteren Teil des Raumes und machte Anstalten zu gehen.

»Nein, nein! Du kannst natürlich hier bleiben wenn du willst.« Kargan versuchte, nicht zu hastig zu klingen. Aber er konnte sich nicht verleugnen, dass ihm Anjiaras Anwesenheit sehr angenehm war.

Zu Mittag hatte sich Werland um Punkt 1400 gemeldet. Deswegen verwunderte es Kargan nun, dass er um 1903 die Kom-Verbindung immer noch nicht aufgebaut hatte.

»Hmm. Dann werde ich die Verbindung selbst aufbauen«, entschloss Kargan. Er konnte eine gewisse Nervosität, besonders angesichts der vergangenen Geschehnisse in und außerhalb der Station, nicht verbergen.

Er baute die Verbindung auf und sprach in das Kom-Mikrofon: »Andragon Outrange 15, Offizier Kargan Saturon ruft das Außenteam von SHIRE Alpha.«

Rauschen und Knistern war zu hören. Anjiara sah Kargan fragend an.

Der Nexus war mittlerweile fast nicht mehr über dem südlichen Horizont zu sehen. Der Himmel hatte eine dunkle Färbung angenommen, die in der Nähe der Sonne in einen blutroten bis orangefarbenen Ton überging.

Doch Kargan war nicht daran interessiert, sondern schien mit zusammengekniffenen Augen nach Nordwesten in Richtung des Gorres-Massivs zu starren.

Er wollte seinen Satz wiederholen, doch er wurde von Werland unterbrochen. »Hier ist das SHIRE Alpha Außenteam! Bestätige Empfang.«

»Gott sei Dank, ich dachte schon ...« Kargan stockte und fuhr nach einer kleinen Pause fort. »Erbitte Lagebericht.«

»Was dachten sie?«, fragte Werland zu Kargans Erstaunen.

»Nichts«, antwortete er knapp. »Erbitte Lagebericht. Wie geht es euch da draußen?«

Der folgende Gesprächsverlauf glich dem von 1400 Infidelis-Zeit. Werland schien optimistischer denn je und machte sogar einige Witze, die jedoch kein Gelächter der anderen im Hintergrund veranlassten.

Sie schienen unmittelbar vor dem Gorres-Massiv zu sein.

Als Werland zum Ende kam, sprach Kargan die Dinge an, die sich bei Andragon Outrange abgespielt hatten. Zu Kargans steigender Wut schien er an Werland geradezu vorbeizureden. In seinem Enthusiasmus schien Werland völlig desinteressiert an dem zu sein, was sich an Andragon Outrange abspielte.

»Werland, hören sie mir zu! Etwas stimmt hier ganz und gar nicht! Wir sind womöglich in Gefahr! Eine fremde Intelligenz, von der wir nichts wissen, könnte ... nach meinen Vermutungen auf diesem Planeten sein!«

»Saturon, bitte beruhigen sie sich. Sie scheinen unter Raumkoller zu leiden. Oder ich sollte besser sagen ‚Stationskoller‘, nicht wahr?« Er lachte dümmlich.

Niemand lachte mit.

»Vollidiot«, murmelte Anjiara, die das gesamte Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.

Kargans Wut stieg ins Unermessliche. Er musste sich beherrschen, seine Seriosität in der Stimme zu bewahren, anstatt Werland mit ausgefallenen Schimpfwörtern zu beschimpfen.

»Entschuldigen sie, Saturon«, sagte Werland schließlich, »aber ich verstehe ihr Verhalten nicht. Sensoren lügen nicht, das wissen sie.«

»Und was ist mit der Spur, die die Sonde entdeckt hat? Das Signal? Der seltsame Rückstand im Sand, von dem die Geruchsspur nicht mehr weiterging?«

Kargan schrie fast.

»Ich weiß ni ...« Jemand im Crawler unterbrach Werland. Es entstand eine Pause. Offensichtlich war Werland kurz abgelenkt.

»Ich beende die Kom-Verbindung. Wir haben hier ein elektromagnetisches Feld entdeckt, das sich offensichtlich mitten in der Wüste ...« Er wurde wieder abgelenkt. Er schien mehr mit sich selbst zu reden als mit Kargan.

Marios Stimme war kurz zu hören. Dann die von Luis ‚Die Brille‘ Raugen.

Kargans Gedanken rasten. »Fahren sie nicht zu dem elektromagnetischen ...!«

»Ich beende die Kom-Verbindung«, überging ihn Werland. »Wir hören uns dann wieder. Morgen um ... 900 Infidelis-Zeit. Außenteam SHIRE Alpha Ende«

»Passen sie auf sich auf!« rief Kargan in das Kom-Mikrofon.

Die Kom-Verbindung war bereits beendet.

»Passen sie auf sich auf ...« Kargan flüsterte fast und starrte das Mikrofon an.

Anjiara war von ihrem Stuhl aufgesprungen und hatte begonnen, hektisch auf und ab zu gehen, soweit das in dem kleinen Raum möglich war. »Werland ist ein unfähiger, engstirniger Kotzbrocken!«, schleuderte sie die Worte in den Raum.

Kargan schüttelte nur still den Kopf und starrte ins Leere.

»Er hat nicht einmal richtig zugehört. Hat nur noch sein bescheuertes Energiemuster im Kopf«, schimpfte Anjiara weiter.

»Wenigstens glaubst du mir«, stellte Kargan in den Raum.

»Natürlich glaub’ ich dir, was dachtest du denn. Alle außer Werland glauben dir. Auch Barg-Sa und ... und sogar Rukkbert.« Sie machte eine hebende Geste mit den Händen.

»Na ja, Viktoria nicht.« Kargan zog einen Mundwinkel nach oben.

»Die?« Anjiaras Stimme überschlug sich. Das ausgesprochene Wort allein sagte schon alles aus, was sie über die Ärztin dachte. »Wer gibt den schon einen Scheiß darauf, was die glaubt und was nicht.«

Kargan lachte kopfschüttelnd ob Anjiaras direkter Art, worauf sie ihn boshaft grinsend ansah.

Er wurde wieder ernst. »Aber ehrlich. Ich habe Angst vor heute Nacht. Wirklich Angst, was passieren wird.«

Anjiara sah ihn nachdenklich an.

Kargan sah Dunkelheit.

Langsam wurde ein fahler Schimmer sichtbar. Er sah verschiedene Gesichter die ihn teilweise ansahen und teilweise ignorierten, die sprachen oder schwiegen. Gesichter, die sich bewegten oder starr waren.

Er sah Barg-Sa grinsen. Dann sah er Werlands konzentriertes stummes Gesicht, das an ihm vorbei zu starren schien. Dann sah er Rukkbert, der ihn ausdruckslos mit seinem silbernen Ersatzauge anblickte. Dann sah er das bösartige Lächeln von Raul Densing.

Dann sah er Anjiara. Ihre grün schimmernden Haare waren offen und sie lächelte ein seltsames Lächeln. Sie war nackt, und sie bewegte sich langsam auf Kargans Hüfte. Sie schloss wie in Zeitlupe ihre Augen und warf den Kopf langsam zur Seite. Sie streichelte seine Brust mit ihren schlanken blassen Händen und öffnete ihren geschwungenen Mund zu einem geräuschlosen Stöhnen.

Kargan strich über ihre Brüste, nahm ihr Gesicht in seine Hände und fuhr ihr sanft mit den Daumen über ihre Wangenknochen. Sie öffnete langsam die Augen. Das intensive hellgrüne Strahlen ihrer Iris fixierte Kargan und schien sich in seine Seele zu bohren.

Mit einem Mal fing ihr Körper an zu verschwimmen, ein unspürbarer Hauch vertrübte das Bild und Anjiara verschwand in Dunkelheit.

Kargan stand auf der Korrossklippe nahe Endeavours größten Weltmeeres.

Der Himmel bestand aus einer Mischung von gelben Schwaden auf pechschwarzem Hintergrund.

Kargan war nackt. Der eisige Wind zerrte an seinem Körper wie eiskalte Klingen aus Flarretstahl. Kargan versuchte sich durch seine Hände zu schützen, doch die Kälte drang durch und durch.

Er fühlte einen Sog, der ihn zur Klippe zu ziehen schien. Stolpernd setzte er sich in Bewegung. Das Tosen des Windes erzeugte einen Lärm in seinen Ohren wie ein startendes Flugzeug. Die Windböen wurden stärker und er schien hin- und hergerissen zu werden.

Schließlich stand er an der Kante. Wenige Zentimeter vor ihm schoss der Fels senkrecht in die Tiefe und ließ die tobende Brandung des Meeres erkennen.

Das Meer lag etwa fünfhundert Meter unter ihm. Es schien zu brodeln und zu wüten wie eine lebendige, dunkelblaue Menschenmasse.

EINSICHT.

Das Wort traf ihn in seinem Kopf wie ein Messerstich. Parallel dazu erfuhr er einen ruckartigen Schlag einer unsichtbaren riesigen Faust auf seinem Rücken, wodurch er über die Klippe gestoßen wurde.

Kargan öffnete den Mund zu einem Schrei in Todesangst, doch nichts drang aus seinem Organ. Das rasende Toben des Windes und des Meerrauschens überstürzte seine Sinne in einer ansteigenden, unausweichlichen Dominanz.

Doch Kargan stellte fest, dass er nicht fiel. Er schwebte etwa einen Meter von der Klippe entfernt starr mit ausgebreiteten Händen und offenem Mund über dem Moloch eines Meeres. Er konnte sich nicht bewegen und schien wie eine Marionette mit eisernen Fäden über den Abgrund gehalten zu werden.

Das Tosen schien immer lauter zu werden und das Meer schien in sich in einer bizarren Bewegung zu verändern. An drei Stellen unter Kargan entstanden Schlieren im Wasser, die sich zu drei separaten Strudeln entwickelten. Die Strudel wurden zu gaffenden schwarzen Löchern, die in Dreiecksformation angeordnet waren. Die Löcher schienen immer größer zu werden und erinnerten Kargan an ein Gesicht. Das Gesicht nahm Gestalt an. Zwei der schwarzen Löcher bildeten die Augen und ein weiteres Loch einen offenen Mund.

Kargan schien von einer Woge Angst unermesslichen Ausmaßes durchflutet zu werden.

WERTLOSIGKEIT

AUFLÖSUNG

WISSEN

Das entsetzliche Gesicht schien Kargan die Worte in seinen Kopf zu schmettern wie ein Vorschlaghammer. Die Worte waren nicht hörbar und auch nicht vernehmbar. Sie waren wie Explosionen in seinem Kopf, die sich wie eine Pistolenkugel in sein Gehirn bohrten.

Dann fiel er.

Das Tosen wurde unerträglich laut, der kalte Wind riss an seinem Körper wie ein eisiger Schneesturm und das schwarze Loch, das den Mund des Gesichts darstellte, rückte mit unglaublicher Geschwindigkeit näher.

Nichts.

Das letzte Wort schien von einer fernen Frauenstimme zu erklingen, die Kargan noch nie in seinem Leben gehört hatte.

Kargan schoss so schnell aus seinem Stahlbett, dass er fast mit dem Kopf die Pulslampe über seinem Kissen zertrümmerte. Der Schweiß lief ihm in Strömen über seine Stirn und er keuchte so laut, dass er einen regelmäßigen leisen Ton von sich gab.

Er konnte ohne Zweifel sagen, dass der eben geträumte Traum der schlimmste sowie der realistischste Alptraum gewesen war, den er jemals erlebt hatte.

Er strich sich über die Stirn und blickte auf die Uhr. Es war 342 Infidelis-Zeit.

Wertlosigkeit, Auflösung, Wissen, echote es in Kargans Kopf.

Er hatte am Vorabend nicht mehr geglaubt, dass er Schlaf finden konnte.

Doch schließlich hatten Schlafmangel und Erschöpfung durch den anstrengenden Tag über ihn gesiegt und er war in einen unruhigen Schlaf gefallen.

Kargan stieg aus dem Bett und machte das Licht an. Er sah die Quartierstür an und überlegte. Er hatte sie am Vorabend felsenfest verriegelt, sie war nur von innen zu öffnen. Kargan dachte an Barg-Sa, der sich bereiterklärt hatte, die erste Nacht komplett Nachtwache zu halten. Wahrscheinlich würde er gerade im abgedunkelten Besprechungsraum sitzen und die Plasmamonitore überwachen.

Kargan beneidete ihn um keinen Deut. Er überlegte sich angesichts dessen, dass er nun eh wach war, zu Barg-Sa zu gehen und ihm Gesellschaft zu leisten. Der Anblick der verschlossenen Tür jedoch hielt ihn davon ab. Niemand würde ihn jetzt durch diese Tür in den dunklen Gang kriegen.

Kargan war normalerweise nicht leicht zu ängstigen. Doch im Moment fühlte er sich, als würde er sich am liebsten in die kleinste Ecke seines Quartiers verkriechen und sich auf die Größe eines Staubkorns reduzieren.

Er ging etwa zwanzig Infidelis-Minuten auf einem Fleck in der Mitte des Raums auf und ab, bis er sich schließlich halbwegs beruhigt hatte. Langsam ließ er sich auf sein Bett sinken und entschied sich darin zu versuchen noch etwas Schlaf zu finden, bevor der Nexus die Rotsandwüste Infidelis’ wieder zum Strahlen bringen würde.

Kargan hatte erstaunlich gut geschlafen, nachdem er sich mitten in der Nacht wieder hingelegt hatte. Zu gut, denn er hatte seinen Wecker überhört.

Es war 844 Infidelis-Zeit und somit kaum mehr Spielraum bis zur nächsten Kom-Verbindung mit dem Außenteam. Frühstück würde warten müssen, doch Kargan hatte sowieso keinen Hunger.

Nachdem er sich angezogen und gewaschen hatte, ging er direkt in den Kom-Raum und aktivierte seine Geräte.

Ein Blick auf den Plasmamonitor zeigte ihm gerade das Überwachungsbild des Speisesaals. Er sah er Anjiara und Barg-Sa, die sich gestikulierend mit Rukkbert unterhielten. Er hätte gerne gewusst, über was sie sich unterhielten, doch das Kom-Gespräch mit Werland stand unmittelbar bevor und war von hoher Priorität. Vorerst musste Kargan damit zufrieden sein, dass sie wohlauf waren und miteinander redeten, als wäre nichts Schlimmes passiert.

Eigentlich ist ja auch nichts Schlimmes passiert, stellte Kargan grimmig fest. Aber es würde etwas passieren, das Gefühl wurde er einfach nicht los.

Er war erleichtert, als Werland sich um 899 Infidelis-Zeit meldete. Kargan registrierte den üblichen Statusbericht nahezu überhaupt nicht, sondern wartete lediglich, bis Werland ihn zu Wort kommen ließ.

»Was war mit dem elektromagnetischen Feld, von dem sie gesprochen hatten? Sind sie dort hingefahren?«, fragte er ungeduldig, als der die Gelegenheit dazu bekam.

»Nein, konnten wir eben nicht. Wegen dem Maschinenschaden, verstehen sie?« Werland klang irritiert.

»Ach ... so ...«, stotterte Kargan.

»Haben sie gerade nicht zugehört? Ich habe ihnen doch gesagt, wir hatten den Maschinenschaden kurz nach unserem letzten Kom-Gespräch. Dadurch konnten wir nicht zu dieser seltsamen Anomalie. Sie hat sich dann relativ schnell in Nichts aufgelöst.

Wir mussten den Crawler reparieren. Es handelte sich um eine Fehlfunktion im Maschinenzylinder. Winston konnte den Schaden beheben, doch er hat uns in unserem Zeitplan um einige Stunden zurückgeworfen. Deshalb sind wir jetzt noch nicht beim Gorres-Massiv. Doch es kann sich nur noch um etwa eine oder zwei Infidelis-Stunden handeln, bis wir mit dem Aufstieg auf das Plateau beginnen.«

Kargan überlegte, ob er noch einmal die Geschehnisse auf Andragon Outrange 15 ansprechen sollte, ließ es dann jedoch bleiben. Werland schien sowieso kein Interesse zu haben.

»Hat sie der AKZ schon kontaktiert?«, fragte der Expeditionsleiter gerade.

»Negativ. Noch nicht.«

»Dann wird das bald der Fall sein. Nun, sie wissen ja, was sie dann zu tun haben.« Werland erläuterte noch einige in Kargans Augen unwichtige Einzelheiten und beendete schließlich die Kom-Verbindung.

Kargan saß nachdenklich über seinen Geräten. Konnte es sich bei den elektrischen Aufladungen und den elektromagnetischen Anomalien, von denen Werland sprach, um erklärbare Naturphänomene handeln? Sah Kargan doch Gespenster? Aber was hatte dann der unbekannte Geruch zu bedeuten? Nein. Kargan zweifelte nicht an sich selbst, stellte er schließlich fest. Etwas war im Gange, und würde sich bald deutlicher zeigen. Vielleicht eher, als er es sich erhoffte.

Aus dem Augenwinkel sah er am Monitor, dass Viktoria nun auch im Speisesaal war und sich offensichtlich mit Anjiara stritt. Kargan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Anjiara wild gestikulierend vor Viktoria stehen sah. Die Ärztin hatte die Arme verschränkt und sah sie giftig an. Barg-Sa schien zu versuchen dazwischen zu gehen, doch Anjiara schob ihn genervt beiseite.

Kargan konnte noch nicht gehen, weil er um 950 seine tägliche Rückmeldung zum Karndalf-Kreuzer RS Terranigma hatte.

Die Rückmeldung erfolgte wie gewohnt, doch Grazens war nicht wenig erstaunt über den Außeneinsatz im Auftrag des AKZ und die Dinge, die in und um die Station herum passiert waren. Grazens meinte, dass er nicht wüsste, weshalb es in einer Wüste zu elektrischen Feldern oder dergleichen kommen sollte.

Kargan wunderte sich nicht, weshalb ihn diese Erkenntnis nicht überraschte.

Im Speisesaal hatte sich die Situation bereits beruhigt, als Kargan hinunter kam. Als er Anjiara auf den Streit ansprach, winkte diese lediglich mit einem wütenden »Ach« ab, um ihn anschließend verwundert zu mustern, weshalb er eigentlich Bescheid wusste. Anscheinend hatte sie vergessen, dass Kargan die Überwachungskameras auch von seinem Kom-Raum aus ansteuern konnte.

»Frauen und besetzte Duschen«, flüsterte ihm Barg-Sa leise zu, während Kargan sich an der Theke einen Kaffee zubereitete.

Schließlich fragte er: »Wie war die Nacht, Barg-Sa?«

»Halb so wild!« Die Augenschatten des Sicherheitsoffiziers sagten etwas anderes. »Gab nichts Besonderes.« Er mampfte genüsslich ein Stück Kompaktriegel.

»Hast du die Streams überwacht?«, wollte Kargan wissen und nahm sich auch einen Riegel.

»Aye. Und habe Rundgänge gemacht. Den Keller rauf und runter, dann im ersten Stock herum, dann wieder in den Besprechungsraum zu den Überwachungsstreams. Absolut friedliches Nächtlein.« Barg-Sa schmatzte.

»In den ... Keller? In der Nacht ... hmm, ich muss dich bewundern. Ich denke da würde ich Schiss bekommen so alleine.« Kargan grinste.

»Hey! Ich bin Sicherheitsoffizier schon vergessen? Ich bin solche Rundgänge gewohnt!« Barg-Sa kniff seine kleinen Augen zusammen und grunzte vergnügt. Mit seinem runden Kopf und dem schwarzen Vollbart erinnerte er Kargan mehr an den Kapitän eines Schiffes. Es fehlte lediglich die Kapitänsmütze.

»Und auf den Bändern ist auch nichts, sagst du ...« Kargan nahm den Löffel aus seinem Kaffee.

»Nö. Habe nichts gesehen, was auch immer man sehen sollte. War halt nicht immer ganz bei der Sache, wie du dir wohl denken kannst. Als ich die Rundgänge gemacht habe natürlich auch nicht. Aber du kannst dir ja gern die aufgezeichneten Streams anschauen, wenn du willst.« Barg-Sa nahm sich einen zweiten Riegel. Oder war es schon der dritte?

»Werde ich eventuell«, murmelte Kargan in Gedanken versunken. »Und zwar jetzt.«

Kauend und mit Hamsterbacken sah Barg-Sa verdutzt Kargan nach, der wieder in den Kom-Turm ging.

Dass Kargan seinen Kaffee und den Riegel liegengelassen hatte, bemerkte er erst, als er bereits wieder im Kom-Raum war. Aber es war ihm egal.

Er aktivierte sämtliche aufgezeichneten Kamerastreams und ordnete sie auf dem Plasmamonitor nebeneinander an, so dass er drei Fenster in der oberen und drei weitere in der unteren Hälfte des Bildes hatte. Er stellte die Abspielgeschwindigkeit auf zweifach und versuchte, möglichst alle sechs Bilder gleichzeitig anzusehen, was sich als schwierig aber erstaunlicherweise nicht als unmöglich herausstellte. Bei dieser Geschwindigkeit würde er etwa ein Drittel des Tages brauchen, um die gesamte Aufzeichnung der vergangenen Nacht anzusehen.

Kargan wusste nicht genau, nach was er eigentlich suchte. Aber er wusste, dass er suchen wollte. Das war Grund genug für ihn. Er ließ seine gesamte normale Arbeit stehen und liegen und konzentrierte sich den ganzen Vormittag auf das Monitorbild.

Um 1133 Infidelis-Zeit pausierte Kargan die abgespielte Aufzeichnung.

Er konnte nicht mehr. Er rieb sich angespannt seine gereizten Augen und stützte anschließend seinen Kopf mit dem Ellenbogen auf dem Pult, an dem der Monitor angebracht war. Die Uhrzeit auf dem Bild zeigte 019 Infidelis-Zeit an. Barg-Sa hatte gerade einen Rundgang gemacht, stand gerade im ersten Kellergeschoss und war mitten in der Bewegung eingefroren. Sonst zeigte das Bild absolut nichts Besonderes. Genauso wenig Besonderes, wie Kargan bisher etwa fünf Stunden lang gesehen hatte.

Kargan ging in den Speisesaal und holte seinen bereits eiskalt abgekühlten Kaffee und den offenen Kompaktriegel, was beides immer noch unberührt auf der Theke lag. Er trug beides in den Kom-Raum, wo er den Riegel zusammen mit dem kalten Kaffee herunterwürgte und anschließend zumindest versuchte, wenige Augenblicke zu entspannen.

Bald war es 1200 Infidelis-Zeit und somit Zeit für das tägliche Kom-Gespräch mit Dagobert von Andragon Outrange 14.

Normalerweise war Dagobert immer der schnellere. Er baute die Kom-Verbindung frühzeitig auf und Kargan nahm sie schließlich an. Doch heute meldete er sich nicht.

Also öffnete Kargan die Kom-Verbindung und sendete. »Andragon Outrange 15, Funkoffizier Kargan Saturon ruft Dagobert Detlefson von Andragon Outrange 14, bitte kommen.«

Das leise Rauschen der Langstrecken-Kom-Verbindung war zu hören.

»Andragon Outrange 15, Funkoffizier Kargan Saturon ruft Dagobert Detlefson von Andragon Outrange 14, bitte kommen«, wiederholte Kargan.

Niemand antwortete. Kargan wurde nervös. ‚Etwas war im Gange, und würde sich bald deutlicher zeigen. Vielleicht eher, als er es sich erhoffte‘, hörte Kargan seine eigenen Gedanken im Kopf widerhallen. Immer die Ruhe. Nicht die Nerven verlieren.

»Andragon Outrange 15, Funkoffizier Kargan Saturon ruft Dagobert Detlefson von Andragon Outrange 14, bitte kommen.«

Stille.

Kargan atmete tief ein und wieder aus. Anschließend rief er Andragon Outrange 14 erneut, etwa zwanzig Infidelis-Minuten lang ununterbrochen. Sollte Dagobert kurz abwesend sein, etwa um auf die Toilette zu gehen oder etwas zum Essen zu holen, sollte er nun allmählich wirklich zurück sein.

Kargan wartete weitere nervöse zehn Infidelis-Minuten in Stille ohne etwas anderes zu tun und rief dann erneut.

Er bekam keine Antwort.

Kargan fluchte. Er musste es den anderen berichten.

Er ließ sich die Leiter herunter gleiten, ohne die Sprossen zu benutzen und hastete zum Oberflächen- und Geologieraum. Auf dem Gang kam ihm Barg-Sa entgegen und schaute verwundert.

»Andragon Outrange 14 meldet sich nicht!«, rief Kargan im vorbeirennen.

Barg-Sa sah ihm nach, drehte sich um und entschied sich, Kargan zu Rukkberts Raum zu folgen. Anjiara, die Kargans Stimme auf dem Gang gehört hatte, steckte ihren Kopf aus dem Terraforming-Raum heraus und schloss sich kurz darauf dem keuchenden Barg-Sa an, der kaum hinter Kargan Schritt halten konnte.

Rukkbert und der andere Geologe drehten sich erstaunt um, als Kargan hinter ihnen hereinplatzte. Während Rukkbert wie immer ausdruckslos starrte, schien der andere mit Hochgeschwindigkeit Kaugummi zu kauen.

»Sir«, keuchte Kargan. »Andragon Outrange 14 meldet sich nicht! Ich habe sie nun etwa dreißig Infidelis-Minuten versucht zu erreichen. Nichts.«

Rukkbert, der ein ärmelloses Shirt trug und so seine faszinierende Muskelmasse an den Armen preisgab, starrte ihn an und zeigte keine Reaktion.

Der Kaugummi kauende Geologe musterte Kargan durchdringend und fragte schließlich: »Muss das zwangsläufig etwas heißen? Oder kann es auch ein ...«, er überlegte kurz, »zum Beispiel ein Defekt am Transceiver sein?«

»Extrem unwahrscheinlich. Die Technologie versagt so gut wie nie« antwortete Kargan entschlossen.

In seinen neun Jahren als Funkoffizier hatte er noch nie einen Transceiver erlebt, der den Geist aufgegeben hatte. Die Technologie des Karndalf-Kantons war sehr modern in der Funktechnik.

»Hinzu kommt, dass ich auf allen Breitbandfrequenzen gesendet habe. Wir haben oben nicht nur einen Transceiver im Kom-Raum. Verstehen sie was ich sagen will? Er hätte etwa drei andere Transceiver benutzen können, mich zu empfangen geschweige denn zu antworten. Die Sache stinkt ...«

»Langsam krieg ich hier auch Schiss«, warf Barg-Sa leise ein und runzelte die Stirn. Anjiara starrte ihn erschrocken an.

Der Kaugummi kauende Geologe überlegte weiter. »Oder könnte es eine kaputte Antenne sein?«

»Jeder Transceiver hat eine eigene Antenne. Das wären bisschen viel kaputte Antennen.«

Kargan stand nun regungslos mit verschränkten Armen mitten im Raum.

Der Geologe kaute langsamer. »Dann hört es sich mir eher nach etwas an, was zum Beispiel mit der Stromversorgung zu tun hat ... wie ... äh ... zum Beispiel ...«

» ... Ein sabotierter Generator.« Rukkberts kalte rostige Stimme schien den kleinen Raum zu zerreißen wie ein wütendes Kind ein Blatt Papier. Alle sahen ihn an.

Anjiara ergriff wieder das Wort. »Aber ... Aber es könnte doch sicher auch nur ein Zufall sein, dass die Station sich nicht meldet, oder? Also ich meine ... dass sie zum Beispiel gerade Geburtstag von jemandem feiern, oder ... oder was weiß ich ...« Die letzten Worte klangen trotzig.

»Ich würde mich nicht drauf verlassen«, murmelte Barg-Sa.

»Okay, immer langsam.« Rukkbert stand langsam von seinem Sessel auf. »Können sie die anderen Stationen kontaktieren? Wenn ja, dann machen sie das.«

Kargan legte die Hand ans Kinn und schien in den Boden zu blicken. Er überlegte laut. »Andragon Outrange 14 ist die vorherige Station in der Kette. Auf dem Planeten befinden sich meines Wissens nach etwa dreihundert Stationen, die immer die Nächstgelegenen regelmäßig kontaktieren, Daten übermitteln, aneinander angleichen und so weiter. Die Stationen eins bis siebenundzwanzig sind in der Teneib-Wüste verstreut.

Die näheren Stationen davon kann ich ohne weiteres mit dem Kurzstreckentransceiver kontaktieren. Für die anderen könnte ich den Langstreckentransceiver benutzen, der normalerweise für Interstellar-Kom-Verbindungen benutzt wird, wie beispielsweise bei einer Kom-Verbindung mit der RS Terranigma. Ich werde mich mit den anderen Stationen unterhalten ... wenngleich uns das auch nicht viel weiterhelfen wird, da nur die Station Andragon Outrange 13 in der Kette vor Andragon Outrange 14 ist. Das bedeutet, dass Dagobert mögliche Probleme wenn nicht an mich dann nur an diese Station gemeldet hätte. Verstehen sie was ich meine?«

Anjiara und Barg-Sa blickten etwas fragend drein angesichts Kargans leicht verwirrenden Monologs.

Rukkbert blieb ausdruckslos und sagte lediglich: »Kontaktieren sie die anderen Stationen.« Er drehte sich wieder zu seinem Arbeitsplatz um als wäre das Thema gegessen.

Ein Monitor zeigte eine blinkende Fläche, die sich im Süden der im Bild zentrierten Station befand. Kargan vermutete, dass die Oberflächensensoren der Station den Sandsturm im Süden identifiziert hatten. Die Fläche sah bedrohlich groß im Vergleich zu Andragon Outrange 15 aus.

»Was ist das?« Anjiara deutete auf die blinkende Fläche.

»Ein Sandsturm. Und zwar ein richtig großer.« Der Geologe neben Rukkbert schien wieder schneller auf seinem Kaugummi zu kauen. Er hatte richtig vermutet, dachte Kargan.

»So einen gab’s hier noch nie. Das wird spaßig, wenn der hier eintrifft.« Der Geologe zeigte ein Grinsen, das seinen Kaugummi zwischen den Schneidezähnen erblicken ließ.

»Aber kein Problem für die Station nehme ich an?«, Barg-Sas Worte waren eher eine rhetorische Frage.

»Nein. Die Station ist ...«

»Bitte«, unterbrach Rukkbert den Geologen gereizt und wandte sich an die anderen, »könntet ihr das Büro nun verlassen und euch wieder eurer Arbeit widmen? Danke.«

Kargan kam es vor, als wäre das rote Licht in Rukkberts Ersatzauge heller und aggressiver als sonst. Dumme Einbildung, dachte er, entschied sich jedoch, Anjiara und Barg-Sa nach draußen zu folgen.

Im Kom-Raum kontaktierte Kargan zuerst Andragon Outrange 13. Der Funkoffizier der Station erklärte Kargan, dass er den regelmäßigen Kom-Kontakt mit Dagobert nach Karndalf-Planung immer um 1700 Infidelis-Zeit betrieb. Am Vortag hatte sich Dagobert wie gewohnt gemeldet, hatte jedoch aufgeregt von einem seltsam klingenden Signal am Terra-Kom-Receiver berichtet, dessen Ursprung sich nicht hatte feststellen lassen.

»Wie klang das Signal? Hat er da irgendwelche Details übergeben? Und wie nah war das Signal zu orten?« Kargan umklammerte unruhig sein Kom-Mikrofon.

»Wie gesagt konnte er den genauen Ausgangspunkt des Signals nicht orten.

Deswegen gibt es keine Entfernungsangabe. Aber er hat es als kratzendes Geräusch bezeichnet, wenn ich mich recht erinnere. Warum wollen sie das wissen?«

»Er hat auch von diesem Signal geredet, als ich zuletzt mit ihm gesprochen habe.« Die nächsten Worte wählte Kargan vorsichtig und mit Bedacht. »Ich ... vermute eine ... Lebensform oder ... etwas ... auf diesem Planeten, das unseren Instrumenten verborgen bleibt. Auf unserer Station gab es mehrere seltsame ... Vorfälle. Ich würde sie inständig bitten ...« Kargan machte eine bezeichnende Pause um die Worte wirken zu lassen und fuhr fort. »Wenn sie auch dieses Signal empfangen sollten, bitte kontaktieren sie mich umgehend.

Und am besten auch ihre nächstgelegenen Stationen.«

Es entstand eine kurze Pause, in der absolute Stille herrschte.

»Verstanden. Ich ... Ich werde sie kontaktieren wenn ich ... etwas empfange«, kam es aus dem Kom.

»Ich danke ihnen.« Kargan beendete die Kom-Verbindung. Er war sich mittlerweile sicher, dass das Signal, von dem auch Dagobert gesprochen hatte, etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte.

Kargan selbst hatte es am Vortag gehört, als er die Leiter heruntergestiegen war. Zuerst hatte er es für eine Täuschung oder einen Streich seiner Sinne gehalten. Doch jetzt war er sich fast sicher, dass es das gleiche Signal war, welches Dagobert gehört haben musste.

Jetzt kam keine Antwort mehr von Andragon Outrange 14.

Kargan kontaktierte nacheinander sämtliche Outrange-Stationen in der Teneib-Wüste. Viele davon antworteten zwar, beendeten jedoch schnell die Kom-Verbindung. Das Karndalf-Kanton erlaubte keine Kom-Verbindungen mit Stationen, die nicht in der gleichen Kette lagen, aber das interessierte Kargan nicht im Geringsten angesichts der Situation.

Einige Funkoffiziere der Stationen, die Kargan zu Wort kommen ließen, versprachen zu seiner Erleichterung, eine Rückmeldung bei Empfang des beschriebenen Signals zu erstatten. Wenige Weitere berichteten zu Kargans Schrecken ebenfalls vom kurzen Empfang eines solchen Signals. Sie sagten jedoch alle das Gleiche: Es war nur kurz zu vernehmen, hörte sich nach einem kratzenden Geräusch an und der Ursprung konnte nicht lokalisiert werden.

Kargan stellte plötzlich erschrocken fest, dass es schon 1402 Infidelis-Zeit war. Der Kom-Kontakt mit Werland war überfällig. Warum hatte der Expeditionsleiter sich nicht selbst gemeldet?

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft das Außenteam von SHIRE Alpha«, sprach Kargan in das Mikrofon, nachdem er die Verbindung aufgebaut hatte. »Werland, bitte kommen!«

Es kam keine Antwort.

Bitte nicht. Bitte, bitte melde dich, dachte Kargan und spürte erneut Nervosität in sich aufsteigen. »Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft das Außenteam von SHIRE Alpha. Bitte meldet euch!«

Stille.

»Verflucht noch mal! Meldet euch! Was ist hier los, gottverdammt!«, brüllte Kargan in das Kom-Mikrofon.

Immer noch keine Antwort.

»Nicht ihr auch, verdammt. Nicht ihr auch!«

Kargan aktivierte das Abwesenheitsmakro an der Kom-Station und sprang abrupt auf. Er bewegte sich gezielt durch die Luke im hinteren Bereich des Raums und die Leiter hinunter in den ersten Stock.

Er riss erneut die Tür zu Rukkberts Raum zur Oberflächenüberwachung und Geologie auf ohne zu Klopfen und rief: »Werland meldet sich nicht! Ich sage ihnen doch, etwas passiert hier!«

Im Gegensatz zu vorhin, als Kargan die ausbleibende Antwort von Dagobert verkündet hatte, spiegelte sich nun eindeutig Sorge auf Rukkberts vernarbtem Gesicht wider.

Die anderen hatten Kargan auf dem Gang gehört und kamen nun auch wieder in den Oberflächen- und Geologieraum herein.

»Was? Was ist los?« Viktoria hatte nasse Haare. Sie hatte offensichtlich gerade geduscht.

»Das sind definitiv schlechte Neuigkeiten«, knurrte Rukkbert und sah zu Boden.

Der Geologe neben ihm hatte abrupt aufgehört, Kaugummi zu kauen.

»Sie müssen versuchen sie zu kontaktieren, hören sie? Ununterbrochen!«

Rukkbert starrte Kargan an. »Was haben sie durch die anderen Outrange-Stationen in Erfahrung bringen können?«

Kargan berichtete kurz.

Rukkbert hörte zu und schien auf einmal nervös zu werden. »Ich ... Ich habe etwas Dringendes zu erledigen. Bitte gehen sie alle aus meinem Büro. Auch sie, Asruan.«

So seltsam hatte Kargan den zweiten Teamleiter noch nie erlebt.

Der Geologe neben Rukkbert schaute verdutzt. Sein Kaugummi hing ihm leicht aus dem offenen Mund. »Ich?«

»Raus hier! Sofort! Alle!« Rukkberts Stimme schallte so laut durch den Raum, dass Kargan den Drang spürte, sich die Ohren zuzuhalten. Alle machten fragende Gesichter, trotteten jedoch langsam aber sicher aus Rukkberts Büro.

»Und sie erreichen Werland, verstanden Saturon?«

Kargan nickte langsam und ging rückwärts aus dem Raum, ohne den Blick von Rukkbert abzuwenden.

Im Gang warfen sich alle Anwesenden verwirrte Blicke zu.

»Was sollte die Show eben?« Barg-Sa kratzte sich am Kopf.

»Das frage ich mich auch«, knurrte Kargan. »Dass Andragon Outrange 14 sich nicht gemeldet hat, schien ihn nicht besonders zu interessieren. Aber dass Werland nun ebenfalls ... Natürlich, sie sind Bestandteil unseres Teams, aber dennoch ...«

»AKZ sag ich bloß.« Asruan kaute wieder an seinem Kaugummi, als sei nichts passiert.

»Was meinst du«, fragte Anjiara.

»Der Zusammenschluss. Hat er seine Finger im Spiel, ist irgendwas faul und es passieren komische Dinge.«

Kargan fragte sich, wie man Kaugummi kauen und gleichzeitig reden konnte.

Aber Asruan demonstrierte es ihm phänomenal.

»Er hat recht.« Barg-Sa kniff seine Augen zusammen. »Kargan hatte von Anfang an recht. Etwas stinkt. Was macht Rukkbert jetzt allein da drin?«

»Nun, wir werden sehen was passiert.« Viktoria fuhr sich durch ihre feuchten blonden Haare. Ihr Tonfall erinnerte eher daran, als hätte sie ein neues Shampoo getestet.

»Die Videoaufzeichnungen«, murmelte Kargan.

»Die Kameras? Wir haben keine Kamera im Geologieraum.« Barg-Sa musste niesen.

»Nein. Ich muss die Aufzeichnungen weiter anschauen. Vielleicht finde ich da etwas.« Kargan ließ die anderen im Gang stehen und hastete zum Kom-Raum.

Kargan stellte sich ein Konzept auf. Alle zehn Infidelis-Minuten versuchte er Andragon Outrange 14 und Werland zu rufen. In der Zwischenzeit sah er die Videoaufzeichnungen an.

Als die Videoaufzeichnung bei 311 Infidelis-Zeit war, machte Kargan eine kurze Pause.

Werland und Andragon Outrange 14 antworteten nicht. Auf den Videoaufzeichnungen hatte er auch noch nicht das Geringste entdeckt. Außer Barg-Sa, der etwa einmal pro Infidelis-Stunde einen Rundgang machte, herrschte absolute Regungslosigkeit auf allen sechs Bildern.

Kargan warf einen Blick nach Nordwesten. Das Gorres-Massiv war nur als eine verschwommene dunkle Wand in der Ferne zu erkennen. Im Süden näherte sich der Nexus wieder dem Horizont.

Kargan wandte sich wieder dem Kurzstreckentransceiver zu und versuchte, Werland oder Andragon Outrange 14 zu erreichen.

Als er keinen Erfolg hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Videostreams.

Nach einigen Infidelis-Minuten fragte sich Kargan ernsthaft, weshalb er sich all diese Aufzeichnungen ansah. Wäre ein von Sensoren nicht erfassbarer Aggressor in die Station eingedrungen, hätte er dann nicht auch etwas getan?

Die Nacht war ruhig verlaufen, hatte Barg-Sa gesagt.

Für Barg-Sa vielleicht, aber nicht für ihn, dachte Kargan. Ihm brannten die Augen.

Eine Fluktuation war am Rande des dritten Bildes für einen Sekundenbruchteil zu sehen.

Kargan sprang vor Schreck von seinem Sessel auf. Sofort ging sein Puls nach oben.

Das Bild zeigte nichts Besonderes: Barg-Sa saß im Besprechungsraum. Die anderen fünf Bilder zeigten den Generatorraum, den Hauptgang im ersten Kellergeschoss, den Gang vor der Hauptschleuse im Erdgeschoss sowie die zwei Hauptgänge zu den Quartieren im ersten Stock.

Kargan fasste sich langsam und setzte sich wieder in seinen Sessel. Die Erscheinung war am dritten Bild von links sichtbar gewesen, also einer der Hauptgänge zu den Quartieren.

Kargan spulte zurück und schaltete die Abspielgeschwindigkeit von zweifach auf einfach.

Da war es. Nur ein Bruchteil einer Sekunde.

Dass Kargan es zum zweiten Mal sah, verhinderte nicht, dass er erneut erschrocken zusammenzuckte. Das Bild schien sich kurzzeitig zu verzerren und etwas bewegte sich vom Seitengang zum Hauptgang hin.

Kargan schaltete Bild drei auf den gesamten Monitor. Er spulte zurück und ließ die Aufzeichnung mit null Komma einfacher Geschwindigkeit abspielen.

Die Stelle kam. Er pausierte das Bild.

»Scheiße«, flüsterte Kargan. Er zitterte. Das gesamte Bild schien sich an dieser Stelle verzerrt zu haben, als würde eine Oberfläche aus Wasser durch Wind zu Unruhen bewegt werden. Doch was Kargan entsetzte, war ein schemenhafter Umriss aus dem Seitengang ragend, der an einen dünnen nadelförmigen Arm mit mehreren fadenartigen Fingern erinnerte.

Kargan betrachtete das reglose, festgehaltene Bild der Aufzeichnung. Die Urzeit zeigte 341 Infidelis-Zeit. Er schnappte nach Luft. Er konnte sich noch genau an die Anzeige der Uhr erinnern, die er nach dem Alptraum in der Nacht gehabt hatte: 342 Infidelis-Zeit.

Was zum Teufel wird hier gespielt, dachte Kargan. Sein Puls raste. Langsam stand er auf und bewegte sich rückwärts, ohne die Augen von dem Monitorbild abzuwenden.

Er stieß einen lauten Schrei aus, als Anjiaras Stimme ihn von unten durch die Luke beim Namen rief.

»Kargan ... Kargan? Alles in Ordnung? Kargan, du solltest ... runterkommen. Und zwar schnell.«

»Allerdings«, murmelte Kargan und glitt durch die Luke nach unten. Er ließ sich an den Seiten der Leiter herunterrutschen, ohne die Sprossen zu benutzen. Hätte Anjiara nicht einen Sprung nach hinten vollbracht, hätte Kargan ihr vermutlich seine Füße gegen den Kopf gestoßen, als er im ersten Stock herunterdonnerte.

»Rukkbert und die anderen ...«, fing Anjiara an, aber Kargan hastete an ihr vorbei.

»Wo sind sie?« schrie er, als er niemanden im Raum für Oberflächenanalyse und Geologie vorfand.

»Sie sind unten, sie sind ...« Weiter kam Anjiara nicht, weil Kargan bereits die Treppe hinunterhastete.

Was, wenn jetzt eine dünne Hand mit fadenartigen Fingern um die Ecke fassen würde, schoss es Kargan kurzzeitig durch den Kopf. Niemand war hier mehr sicher. Aber er schaffte es, den Gedanken zügig zu verdrängen.

Die anderen standen im Gang vor der Hauptschleuse.

»Hört alle zu! Ich habe etwas, das ihr unbedingt sehen müsst! Kommt alle in den Besprechungs ...« Er stockte, als er die anderen genauer ansah. Sie hatten alle Expeditionsanzüge an. Rukkbert war über einen offenen Kompaktbehälter gebeugt und brachte irgendwelche Gegenstände darin unter, die Kargan nicht erkennen konnte. »Was zum Teufel macht ihr hier? Kann mir jemand sagen was hier los ist?«

»Deswegen wollte ich dich holen«, sagte Anjiara hinter ihm. Sie hatte auch einen Expeditionsanzug an. Barg-Sa sah betreten zur Seite. »Wir gehen und suchen Werland und das Außenteam.«

»Was?« Kargans Stimme überschlug sich. Doch er zügelte sich und sagte: »Ich komme mit! Wir müssen hier alle weg und zwar ...«

»Sie bleiben hier.« Rukkbert knallte den Kompaktbehälter zu.

»Das ist nicht ihr Ernst.« Kargan flüsterte fast. Er war fassungslos. »Warum? Und warum diese spontane Aktion?«

»Hören sie.« Rukkbert richtete sich zu seiner vollen Größe auf und stand wie ein Riese vor Kargan. »Es muss so gehandhabt werden. Einer muss in der Station bleiben, das ist Pflicht. Sie sind der Kommunikationsoffizier. Sie halten die Stellung. Sie werden den Kontakt zu uns und zu den anderen Stationen halten. Sie werden weiterhin versuchen Werland zu erreichen. Niemand von uns kann das, deswegen bleiben sie hier. Haben sie verstanden?«

»Was soll diese Aktion? Was wollen sie erreichen? Ihr habt nicht einmal einen Crawler! Wir müssen Hilfe anfordern von der ... der RS Terranigma!«

»Sie wissen, dass sie nach Zirkulationspfaden kursiert und erst morgen wieder erreichbar sein wird«, knurrte Rukkbert.

»Warum müssen sie jetzt los? Es ist fast Nacht! Es wird eiskalt und ihr werdet nichts sehen! Was soll diese unüberlegte Vorgehensweise? Warum können wir nicht warten?« Ein Ton von Aggression schlug sich zu Kargans Fassungslosigkeit in der Stimme.

Rukkbert versteinerte seine Miene als verschweige er etwas und wandte sich ab.

Kargan fiel die Erscheinung auf der Aufzeichnung ein. »Ich kann nicht allein auf dieser Station bleiben. Hören sie mir wenigstens zu, gottverdammt. Ich habe eine Aufzeichnung des unbekannten Wesens! Sie müssen sich das ansehen! Es war in der Station!«

Die anderen, die bislang betreten und zurückhaltend die Diskussion beobachtet hatten, starrten ihn nun fragend an. Auch Rukkbert wandte sich ihm wieder zu und starrte ihn mit seinem silbernen Ersatzauge an. »Lassen sie sehen. Schnell!«

Die sechs Menschen hasteten in den Besprechungsraum.

Kargan holte die Aufzeichnung der entsprechenden Kamera auf einen der Monitore und spulte zu Infidelis-Minute 340. Bei Minute 341 hielt er dem Stream gezielt an.

Alle starrten auf den Monitor.

»Was ist das.« Anjiara Stimme war kaum zu hören. Asruans Mund stand offen. Barg-Sa kniff seine wachsamen Augen zusammen während Rukkbert nur ausdruckslos auf den Monitor blickte. »Ich ... ich weiß nicht was das ist! Aber wir müssen jetzt los!« Er sprang ruckartig auf und bewegte sich zur Tür des Besprechungsraums.

Kargan platzte der Kragen. »Was zum Teufel soll dieses Verhalten, Rukkbert?«, brüllte er und sprang auf. Er rannte zu Rukkbert, fasste ihn an der Schulter und riss ihn herum. »Raus damit!«

»Wir müssen jetzt gehen! Und sie bleiben hier, das ist ein Befehl, verstanden? Sie wissen, dass ich der Teamleiter bin, seit Werland die Station verlassen hat, also nehmen sie ihre Finger von mir weg!« Beim Wort ‚Finger‘ schubste er mit einer abfälligen Bewegung Kargans Hand von seiner Schulter.

Der Funkoffizier starrte ihn an. »Was ist das für ein Befehl? Das ist nicht ihr Befehl.«

Rukkbert wirkte, als würde er mit sich selbst kämpfen. Nach einer Pause sagte er: »Es ... Es ist der Andragon-Kanton-Zusammenschluss.«

Ich hatte recht, dachte Kargan. Es gab eine Geheimleitung. Eine, die offensichtlich nur der AKZ und der Leiter des Teams – erst Werland und nun Rukkbert – benutzen konnten.

»Der AKZ. Deswegen wollten sie vorhin alleine sein«, murmelte er. »Warum haben sie das nicht gesagt?«

Die anderen schienen auch erstaunt zu sein. Aus dem Augenwinkel sah Kargan, wie Anjiara ihre Stirn runzelte. Barg-Sa und Asruan sahen sich gegenseitig an. Lediglich die Ärztin zupfte ununterbrochen an ihrem Expeditionsanzug herum, als wäre er ihr zu groß. Dabei zeichneten sich ihre kleinen Brüste deutlich an ihrem schlanken Oberkörper ab.

»Ich ... Ich durfte nicht.« Rukkbert stammelte fast. »Seit ich denen von ihrem Verdacht der Sabotage berichtet habe, läuft das Ganze unter absoluter Geheimhaltung. Ich verstehe den Sinn selbst noch nicht, da der Einsatz ja bereits unter dem Namen des AKZ angekündigt wurde. Aber ... verdammt, warum erzähle ich ihnen das alles eigentlich! Wir müssen dem Befehl Folge leisten!«

Er ging durch die Tür. Die anderen folgten ihm.

»Wir müssen überhaupt nichts!« Kargan rannte neben Rukkbert und versuchte mit ihm Schritt zu halten. »Sie können mich hier nicht alleine zurücklassen!«

Sie waren vor der Hauptschleuse angekommen.

Rukkbert drehte sich zu Kargan. »Der Befehl ist vom AKZ. Sie müssen mich verstehen, Saturon. Ich wünsche ihnen viel Glück.« Sein letzter Satz klang endgültig. Er betätigte den Knopf, der die Schleuse öffnete. Mit einem Zischen stoben die Flarretstahlwände auseinander. Dahinter erstreckte sich die Rotsandwüste. Der Nexus berührte bereits fast den südlichen Horizont vor ihnen. Kargan bemerkte jedoch eine große, düstere Wolke links daneben, die aussah, als hätte ein Maler einen unabsichtlichen braunen Farbklecks auf einem Bild angebracht. Der Sandsturm, schoss es Kargan kurz durch den Kopf.

»Warum müssen sie alle gehen? Warum nicht nur ein Teil?«, fragte er dann.

»Sie scheinen die Priorität der Mission nicht ganz zu durchblicken Saturon. Ich muss mit bestmöglicher Mannstärke eingreifen. Wir müssen Werland finden!«

Er setzte sich in Bewegung. Die anderen folgten ihm zögerlich und warfen Kargan verlegen Blicke zu.

»Was ist mit euch allen? Was soll das?«, schrie Kargan sie an. »Barg-Sa? Anjiara! Was soll das! Anjiara!«

Anjiara verharrte und bewegte sich dann langsam zu ihm zurück. Er hörte, wie Rukkbert wütend knurrte, sich umdrehte und wieder stehen blieb.

»Anjiara, hast du nicht gesehen was auf dem Stream war? Die Station ist nicht sicher. Warum soll ich alleine hier bleiben? Bitte, bleib bei mir.« Kargans letzte Worte klangen kleinlaut. Aber es war ihm egal. Er wollte nicht hier allein zurückbleiben.

Anjiara fasste sanft seine Schulter an. »Kargan, es tut mir leid. Ich ... Ich kann nicht.«

Kargan warf ihr einen fragenden Blick zu. »Wieso kannst du nicht? Ich dachte ...« Er schwieg.

»Wir halten ununterbrochen Kontakt, aber du musst die RS Terranigma kontaktieren, Kargan! Ich kann dir jetzt nicht ... sagen warum, aber ich muss mitgehen. Ich ... muss!« Sie legte den Kopf leicht schief. Kargan hätte, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht ‚nein‘ zu ihren grünen, strahlenden Augen sagen können, die ihn jetzt so intensiv wie nie zuvor ansahen. Dann drehte sie ihren Kopf zur Seite.

Er glaubte, ohne einen erdenkbaren Grund, den Bruchteil einer Sekunde etwas wie grenzenlosen Hass in ihrem Blick zu sehen. Dann wandte sie sich ihm wieder zu, flüsterte »Pass auf dich auf!«, so dass nur er es hören konnte und küsste ihn auf seine rechte Wange. Sie drehte sich um und hastete aus der Schleuse.

Kargan stand mit hängenden Arme in der Schleuse und starrte nach draußen.

Rukkbert stand da und schien immer noch mit sich selbst zu kämpfen, als fechte er einen Krieg zwischen dem Befehl der AKZ und seinem eigenen Instinkt aus. Kargan wünschte in diesem Moment, er könnte Gedanken lesen.

Plötzlich sagte Rukkbert: »Asruan. Sie bleiben hier.«

Asruan öffnete fassungslos den Mund. Sein Kaugummi fiel heraus. »Wieso ich? Wieso nicht sie ...« Er deutete willkürlich auf Viktoria.

»Sie bleiben hier!«, donnerte Rukkbert. Seine Stimme hallte von den Betonblöcken wieder.

Die Ärztin zuckte zusammen. Barg-Sa schaute nur unschlüssig.

»Die anderen folgen mir und zwar auf der Stelle!« Rukkbert setzte sich zügig in Bewegung. Die anderen folgten ihm letztendlich. Anjiara warf Kargan noch einen traurigen Blick mit ihren hellgrünen Augen zu. Barg-Sa machte eine salutierende Geste, die Kargan so viel sagte wie ‚Alles Gute, mein Freund‘.

Als sie durch die Schneise nach Süden in die offene Wüste gelangt waren, schlugen sie nach rechts ein, um die Betonblöcke vor der Station nach Nordwesten zum umwandern.

Asruan stand regungslos mit offenem Mund im Sand wie bestellt und nicht abgeholt. Er starrte ihnen hinterher.

Kargan entschloss, ihn anzusprechen und das Beste aus der Situation zu machen. Er konnte sich nicht verleugnen, dass ihn Rukkberts Befehl an Asruan nicht unwesentlich erleichtert hatte.

Doch in dem Moment, als die anderen hinter dem Betonblock verschwunden waren, bewegte sich Asruans rechte Hand. Es war ein äußerst komisches Bild.

Der schlanke, hoch gewachsene Geologe, dessen sonstige Gliedmaßen völlig regungslos verharrten, fuhr sich mit der rechten Hand in die Hosentasche, brachte einen Kaugummi zum Vorschein und legte ihn sich kommentarlos in seinen immer noch offen stehenden Mund. Erst als er zu kauen anfing, schien der Geologie wieder zum Leben erwachen.

Kargans Angst, die sich seit dem Monitorbild des unbekannten Wesens entwickelt hatte, schien zu verfliegen, als er Asruan so sah.

Der Mann drehte sich um und kam wild kauend auf Kargan zu. »Shit happens«, sagte er beiläufig und ging durch die Schleuse in die Station.

Kargan folge ihm. »Okay Asruan, ich bitte sie mir zuzuhören.« Er versiegelte die Schleuse mehrfach, wenngleich er wusste, dass es einen Eindringling wie den auf der Aufzeichnung nicht aufhalten würde. »Wir müssen uns unbedingt ... was überlegen.«

»Mhmm.« Asruan blickte lässig durch die Gegend. Kargan interpretierte es als Unsicherheit.

Die Mini-Walkie-Talkies, dachte er. »Ich habe eine Idee. Sie nehmen sich eins der Mini-Walkie-Talkies, und wir bleiben in Dauerkontakt. Ich muss in den Kom-Turm, um die anderen und die Outrange-Stationen zu kontaktieren. Wenn ihnen irgendwas auffällt ... wenn sie irgendwas hören oder sehen, dann funken sie mich sofort an, kapiert?«

»Klare Sache«, sagte Asruan fast gelangweilt. Das Zucken in seinen Augen zeigte Kargan jedoch, dass er nicht der einzige war, der Angst vor etwas Ungewissem hatte.

Zusammen hasteten sie in einen der Frachträume im Erdgeschoss.

Alle möglichen Utensilien und technischen Geräte lagen verstreut in offenen und verschlossenen Kisten. Kargan konnte sich den Gedanken nicht aus dem Kopf treiben, dass Viktoria alles durcheinander gebracht hatte. Vermutlich bei dem Versuch, ein Duschhandtuch oder etwas Ähnliches zu suchen.

Schließlich fand er die Mini-Walkie-Talkies. Dabei handelte es sich um kleine, knopfförmige Geräte, die man leicht in eine Hemdtasche oder dergleichen stecken konnte. Eine einfache Berührung, ein ‚Antippen‘, genügte, um die Sprechfunktion zu aktivieren. Sie hatten nur eine Reichweite von etwa fünfhundert Meter und besaßen nur einen Kanal, was für die Umstände jedoch irrelevant war.

Kargan tippte beide Knöpfchen an, um sie zu aktivieren. Dann gab er eins davon Asruan. Der steckte es sich in seine Hosentasche und nickte ihm zu.

Kargan war fast erleichtert, als er im Kom-Raum angekommen war. Er hatte sich auf dem Weg nach oben mindestens zehn Mal umgeschaut in der unverdrängbaren Angst, von einer dünnen, schwarzen Hand ergriffen zu werden.

Im Kom-Turm fühlte er sich am sichersten in der ganzen Station.

Wenige Infidelis-Sekunden nachdem er oben angekommen war, registrierte er bereits ein eingehendes Kom-Signal aus naher Reichweite auf einem seiner Monitore. Es war Barg-Sa, der den tragbaren Kurzstreckentransceiver zur Kommunikation mitgenommen hatte.

»Barg-Sa Gerents ruft Kargan Saturon, Andragon Outrange 15«, erklang Barg-Sas vertraute Stimme über die Lautsprecher.

»Barg-Sa! Hier Kargan Saturon, Andragon Outrange 15. Statusbericht!«

»Wir sind etwa zwei Kilometer von der Station entfernt und haben glücklicherweise eine Spur des Crawlers entdeckt, die vom Wüstensand stellenweise noch nicht überweht wurde. Der eigentliche Grund weshalb ich dich jetzt schon kontaktiere ist aber ...«, er machte eine kurze Pause und räusperte sich. »Ich habe eine Dienstwaffe, wie du dir denken kannst. Eine kleine Projektilpistole.

Ich hatte ihn in meinem Halfter, als wir losgegangen sind, aber das Halfter war offen. Ich muss ihn irgendwo in der Nähe der Station verloren haben, gleich als wir losgegangen sind. Also wenn es dich beruhigen würde, dann könntest du rausgehen und ihn dir holen. Ich weiß ja nicht, ob man damit einen Aggressor verletzen kann, der von Sonden nicht detektierbar ist, aber ... ich wollte dir einfach Bescheid geben, verstehst du?«

»Ich danke dir, Barg-Sa. Ich denke, ich werde mir die Projektilpistole holen. Sicher ist sicher. Ich werde die Sonde benutzen.«

»Ja, man tut was man kann«, brummte Barg-Sa.

Im Hintergrund konnte Kargan ein deutliches »Ist alles in Ordnung mit ihm?« von Anjiara vernehmen.

»Deine Kleine macht sich Sorgen«, kam von Barg-Sa mit amüsiertem Unterton.

Kargan atmete tief ein. »Noch ist alles in Ordnung. Sag ihr ... Sag ihr, wir werden uns wieder sehen. Egal was passiert. Kargan Ende.« Er beendete entschlossen die Kom-Verbindung, nahm seine Sonde und machte sich an den Abstieg in den ersten Stock.

Kargan war zu konzentriert und zu angespannt um daran zu denken, sein Abwesenheitsmakro zu aktivieren. Das gelbe Signallicht auf seinem Monitor leuchtete bereits erneut, als Kargan am Fuß der Leiter angekommen war.

Kargan sollte nie erfahren, dass Andragon Outrange 13 in diesen Infidelis-Sekunden ununterbrochen versuchte, ihn zu kontaktieren.

Kargan war ein schlechter Schütze, das wusste er. Aber mit Waffe fühlte er sich auf jeden Fall sicherer als ohne. Er atmete tief durch und versuchte seine konstante Angst zu bändigen, als er vor der Hauptschleuse stand.

Es kann nicht weit sein. Die Sonde wird die Waffe schnell finden, versuchte er sich einzureden. Mach dich nicht fertig, eine komische Hand auf einer Videoaufzeichnung, ein unidentifizierbarer Geruch, ein unerklärter Rückstand im Sand, ... was ist das schon. Verdammt, genügend um mir Sorgen zu machen.

Mit grimmigem Blick schlug er auf den Knopf, der den Haupteingang öffnete.

Die Schleuse öffnete sich und Kargan sah nach draußen. Das Bild passte erstaunlich gut zu der Stimmung, in der er war. Der Sandsturm schien nun sehr nahe zu sein. Eine dunkle, rotbraune Wolke bedeckte den gesamten Horizont vor ihm. Die Sonne war kaum mehr dahinter zu erkennen. Auch hatte der Wind enorm zugenommen. Sandkörner fegten prasselnd in die Station hinein.

Kargan musste sich die Hand vor das Gesicht halten, um sich zu schützen. Er beneidete die anderen nicht, wenn der Sandsturm sie erreichen würde.

So konnte er auf jeden Fall nicht hinaus, das bemerkte er schnell.

Er schloss die Schleuse wieder und hastete zum Frachtraum. An der Wand waren mehrere Spinde angebracht. Einige davon standen offen. Kargan hatte richtig vermutet: Rukkbert und die anderen hatten hier ihre Expeditionsanzüge in Eile herausgeholt.

Er ging zu einem der Spinde, öffnete ihn und nahm sich einen zusammengefalteten Expeditionsanzug heraus. Der Anzug hatte eine lederartige Oberfläche und war aus einem Spezialmaterial, dessen Bezeichnung Kargan nicht kannte. Das erstaunliche Stück Technologie war absolut elastisch und anpassungsfähig und hatte trotz diverser Funktionen nur etwa einen Zentimeter Dicke. Kargan wusste, dass man mit so einem Anzug lange in die Wüste gehen konnte. Die Kühllamellen, die an der Innenseite des Anzugs angebracht waren, kühlten die Körpertemperatur des Trägers bei der Wüstenhitze auf eine optimale, Flüssigkeit sparende Temperatur herunter. In der Kälte der Wüstennacht invertierten die Lamellen ihre Funktionsweise. Zusätzlich war innen ein Schlauch für Wasserzufuhr angebracht, der am Kragen des Anzugs endete.

Externe Wasserbehälter konnten zusätzlich zu den Inneren in Gürtelformation am Anzug befestigt werden. Diese versorgten den Träger dann durch den Schlauch mit Wasser. Das System des Anzugs hatte zudem die Funktion, mit externen Bleichzellen die Luftfeuchtigkeit in der Umgebung aufzunehmen und das geringe Wasser daraus zu ziehen, welches in die Wasserbehälter eingeführt wurde.

Doch Kargan brauchte den Anzug jetzt nur als Schutz vor dem Sandsturm.

Er zog sich das elastische Material über und schob den Gesichtsschutz nach oben.

Anschließend ging er zügig zurück zur Schleuse und öffnete sie. Der Anzug war sehr elastisch und ermöglichte uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, dennoch musste Kargan sich geringfügig an das neue Gefühl gewöhnen.

Sand prasselte gegen Kargans Körper, als er nach draußen ging, aber er spürte lediglich ein geringfügiges Kribbeln. Er aktivierte seine Sonde und sagte: »‘Sonde‘: hast du das Material einer Projektilpistole in deinem Archiv?«

Die Sonde klickte bestätigend.

»‘Sonde‘: finde Projektilpistole. Auswahl: Kürzeste Entfernung.« Kargans Stimme klang gedämpft unter dem Gesichtsschutz, aber die Sonde verstand ihn und setzte sich in Bewegung. Sie schien die Pistole bereits per Sensor lokalisiert zu haben. Sie hatte jedoch große Probleme, sich im stärker gewordenen Wind zu bewegen. Oft wurde sie von abrupten Windböen vom Kurs abgebracht und musste sich neu in Position bringen. Sie bewegte sich entlang der Schneise, durch die der Crawler nach Süden gefahren war und durch die auch Rukkbert und die anderen gegangen waren, bevor sie rechts hinter einem der Betonklötze verschwunden waren.

Der Wind heulte in Kargans geschützten Ohren. Die Sonde war nun fast in der freien Wüste angelangt. Kargan sah sich unruhig um. Er konnte mittlerweile nur noch etwa zweihundert Meter weit sehen. Dahinter verschwand die Umgebung in wabernden, rotbraunen Schleiern aus Wüstensand. Bisher hatte er noch nichts Verdächtiges gehört oder gesehen. Er war fast erleichtert darüber, als die Sonde durch die Schneise an den letzten Betonblöcken vorbei in die freie Wüste steuerte und eine Rechtskurve beschrieb. Noch einmal zwischen die hohen Betonwände gehen zu müssen, hätte Kargan beunruhigt.

Die Sonde wurde langsamer und näherte sich dem Boden. In diesem Moment konnte Kargan die Waffe bereits sehen. Erleichtert lief er an die Stelle, kniete sich zu Boden und nahm die kleinkalibrige Waffe in die Hand.

»‘Sonde‘: Zurück zur Hauptschleuse«, sagte er knapp und wandte sich willkürlich nach Süden der offenen Wüste zu, wo er die Gestalt sah.

Alles passierte in wenigen Sekunden.

Kargan stand da wie eingefroren und starrte auf den dunklen Umriss der Gestalt. Er war fast nicht erkennbar aber dennoch klar präsent in etwa zweihundert Metern Entfernung, wie eine unbewegte Säule im Sand. Kargan konnte keine Struktur erkennen, denn das Wesen sah mehr aus wie ein drahtiges dunkles Gebilde im wabernden Chaos des Rotsands. Hinter ihm schimmerte der Nexus fahl durch den tobenden Sand und erzeugte Gegenlicht. Doch Kargan war sich sicher, etwas wie zwei dünne Arme und zwei dünne lange Beine zu erkennen die regungslos an den Seiten des Wesens hinab hingen. Es bewegte sich nicht. Dort wo ein Kopf zu erwarten wäre, konnte Kargan durch den Sand hindurch und gegen das Licht des Nexus nur einen kreisrunden schwarzen Fleck erkennen.

Dann bemerkte Kargan etwas, das endlich seine Starre löste. Die Umgebung des Wesens war nicht nur wegen dem tobenden Sand verschwommen und verwischt. Etwas wie ein unsichtbarer Energiestrom schien von dem Wesen auszugehen, der sein Umfeld in einem äußerst bizarren Antlitz zu verschwimmen und zu verzerren schien. Auch das Wesen selbst schien sich zu biegen und zu verziehen, als würde man ein längliches Stück Plastilin mit den Händen deformieren.

Kargans Herz pochte. Er umklammerte seine Waffe, als würde er sich daran festhalten, um nicht in einen Abgrund zu stürzen.

Doch dann zuckte der Arm des Wesens nach oben. Es war eine Bewegung, die Kargan nicht mit seinem Auge verfolgen konnte. Der Arm schien auf einen Schlag oben zu sein, seitlich weggestreckt, wie die fadenartige Nessel einer Qualle, wabernd im Meereswasser.

Als Kargan das elektrische Summen hörte, rannte er. Er rannte, ohne sich umzudrehen, rannte, ohne auf den Sand zu achten, der in seine Augen gelangte, rannte, ohne auf das Tosen des Windes zu achten. Er rannte und rechnete jeden Augenblick damit, von einer unsichtbaren Waffe, einem plötzlichen elektrischen Schlag oder etwas anderem getroffen zu werden.

Fast zu seiner Überraschung erreichte er die Hauptschleuse, rannte durch den Durchgang und donnerte seine Faust auf den Knopf an der Konsole. Die Flarretstahltüren der Schleuse gaben ein Zischen von sich, das kaum den Sandsturm übertönte. Dann schloss sich der Haupteingang.

Stille. Nur Kargans rasender Atem war zu vernehmen.

Doch der Funkoffizier verharrte nur eine Sekunde. Dann setzte er sich, so schnell dies in den schmalen Gängen von Andragon Outrange 15 möglich war, in Bewegung und rannte in Richtung Asruan, zum Oberflächen- und Geologieraum. Gleichzeitig tippte er panisch sein Mini-Walkie-Talkie an und brüllte in den Gang. »Asruan! Ich hab es gesehen! Es war draußen, ... es ... es kommt auf die Station zu!«

Im Moment als Kargan den ersten Stock erreichte, ging die Tür zum Oberflächen- und Geologieraum auf und Asruan kam erschrocken herausgesprungen. Er warf Kargan einen entsetzten Blick zu und rannte dann an eines der Flarretglasfenster, die nach Süden zeigten.

»Wo? Wo, da ist nichts!« Hektisch blickte er hin und her.

»Runter, zur Hauptschleuse!« Kargan rannte, die Waffe von sich weggestreckt, die Treppe in das Erdgeschoss hinunter. Asruan folgte ihm dicht auf den Fersen.

Im Eingangsbereich vor der Hauptschleuse war nichts. Kargan rannte an eines der Fenster direkt neben der Hauptschleuse, von denen aus man die Schneise nach Süden erahnen konnte. Sehen konnte man mittlerweile bedingt durch den fast stationsnahen Sandsturm nur noch etwa fünfzig bis achtzig Meter. Man konnte nichts erkennen außer den wehenden Rotsandschwaden und den vereinzelten Betonblöcken.

»Da ... ist nichts, Kargan.« Asruan kaute sehr langsam an seinem Kaugummi.

»Asruan, sehen sie mich an. Ich habe es gesehen, das schwöre ich. Es war so wie auf dem Kamerastream.«

»Ich glaube ihnen ja, Kargan. Aber jetzt ist da nichts mehr.«

Kargan schaute kurz zu Boden, dann wieder zum Fenster hinaus. »Haben wir so was wie Selbstschussanlagen? Oder irgendwelche anderen Waffen?«

Asruan gab ein kurzes Lachen von sich. »Selbstschussanlagen? Da muss ich sie enttäuschen. Das ist eine Forschungsstation. Die Projektilpistole, die sie da von Gerents in den Händen halten, ist das einzige in diesem Stahlkäfig, das man als Waffe bezeichnen könnte.

Stahlkäfig, dachte Kargan. Das war die Bezeichnung. Sie waren in diesem Stahlkäfig gefangen und warteten auf ihr Schicksal. Aber warum schien das Wesen mit ihnen zu spielen? Warum griff es sie nicht an oder machte seine Absichten erkennbar? Warum kam es in die verschlossene Station, um scheinbar aus dem Nichts auf einer Kameraaufzeichnung zu erscheinen und anschließend spurlos wieder zu verschwinden?

»Wir sollten ab jetzt zusammenbleiben«, beschloss Kargan.

»Ich habe aber etwas entdeckt, an dem ich noch dran bin«, murmelte Asruan.

Kargan wurde hellhörig. »Was entdeckt? Was meinen sie?«

»Etwas, das die Oberflächensensoren registriert haben. Eine seltsame Temperaturschwankung in der Luft, in der Nähe der Station. Einmal gestern und einmal heute. Vorhin, bevor sie kamen, um genau zu sein.«

»Das Summen. Die Elektrizität.« Kargan wusste sofort, wovon Asruan sprach. »Warum sagen sie das jetzt erst?« Er bemerkte, dass seine Sonde neben ihm schwebte, deaktivierte sie und steckte sie in seine Tasche.

»Weil es minimal war und von den Oberflächensensoren zwar aufgezeichnet, aber nicht registriert wurde. Warum verstehe ich nicht. Ich selbst bin aber durch die Analysewerte draufgekommen. Deswegen habe ich begonnen die Sache genauer anzusehen. Es ist übrigens nicht Elektrizität in dem Sinne. Es ist kein Strom, keine Aufladung. Keine Aufladung in der Luft. Aber es ist eine Aufladung im Antiraum, soweit ich das sagen kann.«

»Was zum Teufel soll das heißen? Im Antiraum?«

»Na ja, ... stellen sie sich vor ...«, Asruan runzelte die Stirn » ... stellen sie sich vor, sie ... stehen vor einem Spiegel und wollen sich ... schminken.«

Kargan starrte Asruan an, als sei er ein Verrückter.

»Nun fassen durch den Spiegel hindurch und schminken ihr Spiegelbild. Das was sie tun, erscheint nun auch auf ihrem echten Gesicht.« Asruan schniefte kurz.

»Was zum ...«

»Ich gebe zu, die Erklärung hinkt leicht«, Asruan kaute wieder schneller an seinem Kaugummi. »Aber deswegen muss ich daran weiter arbeiten. Ich habe so etwas noch nie analysiert. Vielleicht finde ich mehr heraus.«

»Ich verstehe«, knurrte Kargan, obwohl er überhaupt nichts verstand. »Aber nehmen sie ihr Walkie-Talkie immer mit sich und rufen sie mich, verstanden?«

Asruan nickte und sie gingen in den ersten Stock, wo sie sich vor dem Oberflächen- und Geologieraum trennten.

Im Kom-Turm stellte Kargan fest, dass der Monitor immer noch das angehaltene Bild des Wesens zeigte. Er atmete angespannt aus und schaltete die Anzeige wieder auf die sechs Echtzeit-Überwachungsbilder zurück.

Ohne länger zu warten baute er eine Kom-Verbindung zu Rukkbert und den anderen auf. Barg-Sa nahm zu Kargans Erleichterung gleich die Verbindung an, aber die Übertragung war miserabel. Der Funkoffizier konnte Barg-Sa nur in Fetzen sprechen hören. Der Sturm schien sie auch schon zu berühren und den tragbaren Transceiver zu beeinträchtigen. Die Transceiver auf Andragon Outrange 15 durften aufgrund ihrer Leistungsstärke kein Problem mit der Übertragung haben, nicht jedoch der kleine, transportable Transceiver von Barg-Sa.

» ... Gerents ... bestätigt! Soweit ... Ordnung. Haben ... Sandsturm...« Das Rauschen und Knistern übertönte kurzzeitig den kompletten Funkverkehr. »Mehrere Kilometer ... Sturm abwarten ... schwierig die Spur des Crawlers ...« Eine längere Pause geprägt von weiterem Rauschen und Knistern vermittelten Kargan, dass Barg-Sa auf seine Antwort wartete.

Kargan zwang sich, nicht in das Kom-Mikrofon zu brüllen. »Barg-Sa! Ich habe deine Waffe. Als ich draußen war um sie zu holen, habe ich dieses ... Wesen gesehen. Ich weiß nicht was es machen wollte oder ... Es war dann weg ...« Er merkte, dass er den Faden verlor. »Barg-Sa, seid wachsam, hörst du? Seid wachsam!«

Kargan hörte einige Gesprächsfetzen im Rauschen als Antwort. Kurzzeitig glaubte er auch, eine andere Stimme sprechen zu hören. Schließlich ging alles in Rauschen unter und die Verbindung wurde gekappt.

»Verflucht.« Kargan blickte aus den Fenstern. Er konnte nun fast nichts mehr sehen. Der Sandsturm schien nun voll und ganz die Station umschlossen zu haben. Der Kom-Turm war so gut abgeschirmt, dass bis auf das leise Summen der Geräte Stille herrschte. Draußen tanzten die Rotsandschwaden ihren stummen Tanz. Ab und zu vernahm der Funkoffizier ein metallisches Knirschen, als würde der Flarretstahl des Turms, der nicht durch die abschirmenden Betonblöcke geschützt war, arbeiten wie altes Holz.

Die anderen Outrange-Stationen, dachte Kargan und betätigte mehrere Knöpfe auf der Konsole des Kurzstreckentransceivers. Er wollte zuerst Werland und dann Andragon Outrange 13 kontaktieren.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft das Außenteam von SHIRE Alpha. Werland, bitte kommen!« Kargan erwartete keine Antwort mehr. »Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft das Außenteam von SHIRE Alpha. Werland, bitte kommen!«, wiederholte er. Er wartete kurz und entschloss sich, die Frequenz zu ändern und Andragon Outrange 13 zu kontaktieren. »Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft den Funkoffizier der Station Andragon Outrange 13.«

Kargan wartete genau zehn Infidelis-Sekunden. Dann sprach er erneut.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft den Funkoffizier der Station Andragon Outrange 13. Bitte melden!«

Kargan versuchte seinen aufsteigenden Unmut zu verdrängen, aber er schaffte es nicht. Er justierte einige Intervallregler an der Konsole und rief Andragon Outrange 13 erneut.

Nachdem weitere zwanzig Infidelis-Sekunden verstrichen waren, stand Kargan auf. Er lief unruhig mehrere Male im Kreis in dem kleinen Kom-Raum, bis er sich schließlich wieder setzte und mit zitternden Fingern die Frequenz neu justierte.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft den Funkoffizier der Station Andragon Outrange 16.«

Das passive Rauschen der unbenutzten Frequenz war zu vernehmen. Es kam kein Anzeichen auf eine Antwort. Er justierte die Frequenz neu.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft den Funkoffizier der Station Andragon Outrange 17.

Nur das Rauschen war zu hören. Kargan spürte seinen Puls ansteigen. Er überprüfte sämtliche Parameter des Transceivers. Alles war im grünen Bereich.

Er kontrollierte die Verfassung und Funktionalität der Antennen. Sie waren in einwandfreiem Zustand. Er stand auf und beugte sich neben eine der Konsolen.

Er musterte die herausführenden Hauptverbindungen zur Decke des Turmes, die bei den Übergängen zu den Antennen am Dach endeten. Er konnte keine Schäden erkennen.

Trotzdem aktivierte Kargan den Langstreckentransceiver, der normalerweise nur bei Interstellar-Kom-Verbindungen oder Orbital-Verbindungen benötigt wurde. Er fuhr die Leistungsstärke des Sende-Signals fast auf Maximum.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft den Funkoffizier der Station Andragon Outrange 18.«

Die Station antwortete nicht. Kargan justierte die Frequenz neu.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft die Station Andragon Outrange 19.«

Keine Antwort.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft die Station Andragon Outrange 25.«

Der Flarretstahl des Turms knirschte leise. Ein unterschwelliges Wummern war nur minimal zu vernehmen. Draußen wirbelte der Rotsand um die Station.

Es war fast dunkel geworden, was nicht nur auf den Licht abschirmenden Sand sondern auch auf den untergehenden Nexus zurückzuführen war.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft die Station Andragon Outrange 40.«

Kargan schob den Leistungsregler auf Anschlag. Als er auf Sendung ging, wurde das Licht in der Station kurz dunkler, weil der Generator so stark belastet war. »Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft die Station Andragon Outrange 150...«

Kargan spürte das Blut in seinem Kopf pochen, als würde ein Boxer ihn als Boxsack benutzen. Er aktivierte den Frequenzteiler auf alle Outrange-Frequenzen. Missbrauch des Frequenzteilers war im Karndalf-Kanton strafbar.

»Kargan Saturon, Andragon Outrange 15 ruft alle Outrange-Stationen in der Teneib-Wüste ... oder auf ganz Infidelis. Kann mich irgendwer hören?«

Die letzten Worte klangen verzweifelt.

Kchrrrt.

Kargan schrak hoch. Der Schreck traf ihn so tief, dass er fast den Stuhl unter sich umgestoßen hätte.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt.

Es kam aus dem TKR, dem Terra-Kom-Receiver. Laut und deutlich.

Kargan vermochte sich nicht zu bewegen. Er war erneut in einer Starre wie draußen, als er Barg-Sas Waffe geholt hatte. Das Signal war nur kurz erklungen, aber es war laut und deutlich zu vernehmen gewesen. Kargan glaubte nicht, er wusste, dass dieses Signal das kratzende Geräusch gewesen war, dass er schon einmal gehört hatte. Das Geräusch, von dem Dagobert und auch einige andere Stationen berichtet hatten. Berichtet hatten, bevor sie nicht mehr auf die Kom-Anfragen von Kargan reagiert hatten.

Dann ging es los.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kargan unterdrückte den Zwang, sich wie ein kleines Kind die Ohren zuzuhalten und die Augen zu schließen. Es ist so weit, dachte er. Ich muss handeln.

Tu irgendwas Kargan!

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Wenngleich das Geräusch immer dieselbe Lautstärke hatte, schien es immer lauter zu werden und sich in Kargans Gehirn zu bohren. Die Lautsprecher des TKRs schienen zu vibrieren.

Kargan blickte auf den Überwachungsmonitor. Noch herrschte Ruhe in der Station. Die Sechs Bilder wirkten so leblos wie immer.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Die Intervalle des kratzenden Geräuschs schienen immer länger zu werden.

Kargan überprüfte die Anzeigen des Terra-Kom-Receivers und betätigte mehrere Knöpfe auf der Konsole, die verschiedene Filter und Modulationen aktivierten. Er glich das Signal mit der Datenbank des Karndalf-Kantons ab. Ein derartiges Signal war noch nie registriert und aufgezeichnet worden.

Er justierte die Lokalisierungsemitter. Das Signal konnte schlichtweg nicht lokalisiert werden. Es schien von überall gleichzeitig zu kommen. Die Anzeigen wussten damit nichts anzufangen und spielten verrückt.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

»Kargan!« Es war Asruan. Er rief ihn über das Mini-Walkie-Talkie.

»Kargan! Etwas passiert hier! Die Oberflächensensoren scheinen verrückt zu spielen! Etwas Riesiges tut sich im Antiraum um uns herum zusammen ... ich kann nicht sagen was das bedeutet aber ...«

»Asruan, ich komme zu ihnen. Wir sollten jetzt zusammenbleiben, was auch immer passiert. Alle der anderen Stationen haben nicht auf meine Kom-Aufrufe geantwortet!«

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Kargan hieb mit einer energischen Bewegung auf den Knopf, der die Lautsprecher des TKRs deaktivierte. Stille erfüllte den Raum.

Dann sah er es auf dem Überwachungsmonitor. Es schien geradewegs aus der Wand zu kommen, die den Besprechungsraum vom anderen Teil der Station trennte. Gebannt starrte Kargan auf das Schauspiel. Das Licht, das den Besprechungsraum beleuchtete, schien mit einem Mal verschluckt zu werden.

Die gesamte Umgebung schien in wabernden Schlieren zu verlaufen. Etwas wie ein unsichtbarer Energiesturm füllte den Raum, der die Luft, den Tisch, die Stühle darum herum und die Wände zu verzerren schien. Zentral in diesem Spektakel befand sich das Wesen. Es schien nicht zu gehen sondern sich langsam und widerstandslos über den Boden und sogar durch den Tisch und die Stühle zu bewegen. Das Licht des Raumes schien komplett aufgesaugt zu werden und ließ nur noch einen Umriss des Wesens erkennen. Es sah aus, wie Kargan es auch außerhalb der Station gesehen hatte. Der Kopf war nur als kreisrunder, schwarzer verschwommener Fleck zu erkennen. Die Arme und Beine waren dünne schwarze Striche. An den Armen hingen fadenartige Finger.

Das Wesen schwebte quer durch den Raum, schien aber alle paar Sekunden visuell im Besprechungsraum zu verblassen und an einem anderen Ort mehrere Zentimeter versetzt wieder aufzutauchen, als würde es kurze Sprünge in den Antiraum unternehmen und woanders wieder zurückkehren. Teilweise waren die Sprünge so groß, dass Kargan glaubte zu sehen, wie das Wesen kurz auf dem zweiten Kamerabild vom Erdgeschoss aufblitzte und wieder verschwand. Er war sich aber nicht sicher.

Kargan riss sich aus seinem Bann, umklammerte die Waffe von Barg-Sa und begann den Abstieg aus dem Kom-Turm.

»Das Ding ist im Besprechungsraum, Asruan«, flüsterte er in sein Mini-Walkie-Talkie, als er im ersten Stock angekommen war.

Der Oberflächen- und Geologieraum war auf der anderen Seite des ersten Stockwerks. Kargan musste durch den kurzen Abschnitt am Terraforming-Raum vorbei. Er musste durch den langen Gang an der Treppe vorbei nach rechts gehen, die Teamquartiere passieren und würde anschließend erneut nach rechts einschlagen, um vor dem Oberflächen- und Geologieraum zu stehen.

»Was ... Was machen wir jetzt? Scheiße!«, Asruan hörte sich nervöser an, als Kargan ihn jemals gehört hatte.

»Bleiben sie wo sie sind, Asruan, ich komme zu ihnen! Ich habe die Waffe von Barg-Sa.« Kargan setzte sich in Bewegung und rannte in Richtung Asruans Aufenthaltsort.

»Scheiße ... Scheiße, ... ich muss hier raus, ... ich ...« Asruan verlor die Fassung.

»Bleiben sie wo sie sind, Asruan! Hören sie? Verflucht!« Kargan rannte am Terraforming-Raum vorbei, rechts um die Ecke, und erstarrte. In der Mitte des langen Gangs, der sich vor ihm erstreckte, schien das gelbliche Licht der Deckenlampen in den Treppenschacht an der Seite gezogen zu werden. Die Umgebung um den Abstiegsbereich verschwamm in bizarren Schwaden. Kargan vermeinte ein leises Summen zu vernehmen, ähnlich dem, das er außerhalb der Station gehört hatte.

Dann zuckte die Gestalt in mehreren verschwommenen, mit den Augen nicht nachvollziehbaren Bewegungen aus dem Treppenschacht empor und stand – oder besser schwebte – genau zwischen Kargan und Asruan, der mit bleichem Gesicht am anderen Ende des Ganges stand und sich mit den Händen am Rücken gegen die Wand presste.

Kargan hatte plötzlich das Gefühl, einen Sog in seinem Kopf zu verspüren, als würde jemand sein Gehirn mit einem Netz umspannen und daran ziehen.

Er spürte, dass er am gesamten Körper zitterte. Sein Puls pochte an seinen Schläfen und die Angst vor diesem seltsamen Wesen schien ihm seine Sinne zu rauben. Dennoch versuchte Kargan den klaren Verstand zu bewahren.

Das Wesen schien sich wie warmes Plastilin zu verbiegen und zu verziehen.

Es zuckte mehrere Male hin und her, hob dann plötzlich völlig abrupt den linken Arm und schwebte in Asruans Richtung. Asruan fing entsetzt und angsterfüllt zu stöhnen an und bewegte sich seitlich an der Wand entlang von dem Wesen fort.

Ein Summen erfüllte den Gang. Das Licht schien wie durch eine unsichtbare Kamerablende im gesamten Gang verdunkelt zu sein, so dass von allem nur noch die Umrisse zu erkennen waren.

Kargan zögerte nicht lang, zielte auf den verschwommenen Umriss – was sich als nicht einfach erwies – und feuerte seine Waffe ab. Die kleine Projektilpistole gab ein hustendes Geräusch von sich und ein kaum spürbarer Rückschlag erfolgte Zeitgleich mit einem gelben Mündungsfeuer. Zu Kargans entsetzen wurde das abgefeuerte Projektil plötzlich vor dem verschleierten Umriss des Wesens langsamer, als würde jemand die Zeit verlangsamen. Es kam in den wabernden Wogen um das Wesen zum Stillstand und verschwand völlig ohne visuellen Effekt.

Auch wenn der Schuss sein Ziel nicht im Geringsten beschädigt hatte, schien sich doch etwas zu verändern. Kargan konnte nur die Umrisse in dem bizarren Antlitz des Wesens erkennen. Dennoch schien er geradezu zu spüren, dass das Wesen inne hielt und sich ihm zwar nicht optisch, aber mental zuwandte.

Er machte instinktiv einige Schritte rückwärts.

Dann schien für eine Sekunde alles stillzustehen. Asruan, der an der anderen Seite des Gangs an der Wand kauerte, das Wesen in der Mitte des Gangs, der seltsame Schleier um das ganze Wesen herum und die Umgebung verzogen sich wie ein brennendes Stück Plastik.

Im nächsten Moment brach dieser Augenblick in sich zusammen. Das summende Geräusch des Wesens wurde unerträglich laut und veränderte auf einmal übergangslos und wirr seine Tonhöhe. Es war ein Geräusch, das sich anhörte, als würde man verzerrten lauten Gesang auf einer uralten Kassette an einem defekten Kassettenrecorder abspielen. Das Wesen schien hin und her zu zucken, als säße es auf einem elektrischen Stuhl. Seine fadenartigen Gliedmaßen vollführten unnachvollziehbare Bewegungen, verschwanden und tauchten an anderen Stellen wieder auf. Das gesamte Wesen schien sich zu verbeulen und einen entsetzlichen Tanz aufzuführen, bis es sich mit ausgestrecktem Arm zuckend, verschwindend und wiedererscheinend auf Kargan zu bewegte. Der Sog in seinem Kopf schien stärker zu werden und die Wogen, die das Wesen umgaben, schienen unmittelbar davor zu sein, Kargan zu ergreifen.

Der Instinkt gewann die Überhand über Kargans Handlungsfähigkeit.

Mit geöffnetem Mund starrte er das Wesen an. Dann drehte er sich um und rannte davon so schnell er konnte. Er raste um die Ecke am Terraforming-Raum vorbei.

Er saß in der Falle. Der einzige Ausweg war die Hauptschleuse. Der Weg dorthin war versperrt von einem Ding, dessen Anblick allein ausreichte, um Kargan in Schrecken zu versetzen.

Er hatte keine Zeit zum Überlegen. Er rannte zur Leiter und ergriff die Sprossen. Er glaubte einen gellenden Schrei zu vernehmen, der aus dem langen Gang schallte. Einen Blick zurück wagte er nicht zu nehmen. So schnell es ging hastete er die Leiter hinauf, betrat den Kom-Raum und versiegelte die Luke, wenngleich er sich sicher war, dass dies das Wesen nicht aufhalten würde.

Kargans Atem ging rasend. Hektisch blickte er hin und her. Aber es gab keine Möglichkeit auf eine Flucht. Würde das Wesen nun kommen, gab es kein Entrinnen.

Er sah auf die Überwachungsbilder. Asruan lebte noch. Aber das Wesen hatte wieder seine Richtung geändert und bewegte sich zuckend und wabernd auf ihn zu. Er stieß sich von der Wand ab und rannte dem Wesen entgegen, um vor ihm den Treppenschacht zu erreichen. Er schien zu taumeln, als das Wesen in seine Nähe geriet, schaffte es jedoch, die Treppe hinunter zu springen. Das Wesen schien für einen kurzen Augenblick völlig zu verschwinden. Das Licht des Ganges ließ die Umgebung wieder in ihrem gewöhnlichen Bild erscheinen.

Doch dieser Zustand hielt nur eine Sekunde an. Dann zuckte das Wesen hin und her, verbeulte sich und schwebte quer durch die Wand.

Kargan folgte mit Grauen dem Schauspiel, das sich ihm bot. Das Wesen schwebte einen nicht nachvollziehbaren Kurs, blitzte jedoch immer wieder auf, um kurz hinter Asruan zu erscheinen. Der Geologe rannte zur Hauptschleuse.

Dann kam das zweite Wesen.

Es sah genauso aus wie das erste und kam einfach durch die Flarretstahlwände der Hauptschleuse hindurch, als bestünden sie aus Luft.

Asruan bremste ab und blickte sich um. Der Gang nach Osten war noch zu erreichen. Er sprintete los, taumelte, rannte weiter. Doch das zweite Wesen schwebte durch den Boden in das erste Kellergeschoss. Asruan rannte die Treppe hinunter und sah sich erneut dem Wesen gegenüber, das mit wabernden Armen hin- und herzuckte und seine fadenartigen Finger bewegte. Asruan machte Anstalten vorbei zu rennen, aber der Abstand war zu eng.

Oben kam das andere Wesen die Treppe heruntergeschwebt.

Asruan saß in der Falle. Er blickte hin und her. Selbst durch das verschluckte Licht und das schlechte Kamerabild konnte Kargan das kreidebleiche starre Gesicht erkennen, das Asruan im Angesicht seines Todes machte.

Kargan schluckte. Eines der Wesen schwebte direkt auf Asruan zu. In dem Moment, als er in den wabernden Schleier kam, der das Wesen umgab, sank er abrupt auf die Knie. Seine Arme baumelten an seiner Seite herab und eine unsichtbare Macht schien ihn vor dem Umkippen zu hindern. Dann hatte es den Anschein, als würde eine unsichtbare Hand grob seinen Kopf packen und festhalten. Asruan begann zu zucken. Sein Kopf war unnatürlich nach oben verdreht und das Wesen stand regungslos vor ihm, als würde es sämtliche Gedanken und sämtliches Wissen aus seinem Kopf heraussaugen.

Asruans Zucken wurde heftiger. Kargan musste zusehen, wie seine Gliedmaßen herum zu wirbeln anfingen. Sein Kopf, seine Arme und seine Beine zuckten unregelmäßig und heftig umher, als würde sein Körper eine Marionette sein, deren Bewegungsfäden gewaltsam und willkürlich angerissen wurden.

Die Bewegungen wurden immer schneller und immer bizarrer. Schneller, als ein Mensch sich bewegen konnte. Dann wurde Asruans Körper ein Stück durch die Luft geschleudert und sein Kopf und Torso zersprangen gleichzeitig in einer entsetzlichen Wolke aus dunkelroter Masse. Seine Gliedmaßen trennten sich vom Körper und flogen in unterschiedliche Richtungen, um am Boden zum Stillstand zu kommen.

Kargan spürte nichts.

Er war unter Schock. Sein Mund stand halb offen und seine Augen waren starr auf den Monitor gerichtet, wo sich das schreckliche Schauspiel in völliger Stille abgespielt hatte. Doch dann bewegte sich das andere Wesen. Kargan war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass das Wesen in die Kamera blickte. Es zuckte mehrmals hin und her und schien plötzlich näher vor der Kamera zu schweben. Durch den wabernden Strom und die Verzerrungen in der Luft glaubte Kargan den Umriss eines Gesichts zu erkennen. Zwei kugelrunde verschwommene Löcher, die mehr an riesige Augenhöhlen erinnerten, befanden sich im oberen Bereich des Gesichts. Anstelle eines Mundes war ebenfalls ein klaffendes großes dunkles Loch zu erkennen, das zu einem endlosen Schrei geöffnet zu sein schien.

Dann verbog es sich und war weg.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt.

Kargan schrak aus seinem Schockzustand, nur um in einen weiteren zu fallen. Was sollte das? Er hatte den Terra-Kom-Receiver abgeschaltet.

Kchrrrt, kchrrrt, kchrrt. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.

Das Geräusch kam nicht aus dem TKR-Lautsprecher. Es kam aus dem Kurzstreckentransceiver-Lautsprecher. Nicht nur aus dem, es kam auch aus dem Langstreckentransceiver-Lautsprecher. Und aus den Sonarstoßempfängern. Es kam von überall her. Aus jedem Gerät und aus jedem Lautsprecher, den Kargan in seinem Kom-Turm hatte.

Dann kamen weitere der Wesen. Kargan sah sie auf den Überwachungsstreams. Die meisten kamen durch die verschlossene Hauptschleuse. Manche kamen einfach durch die Wand daneben. Es waren mindestens vier oder fünf.

Kargan rann der Schweiß von der Stirn. Erneut blickte er in seinem Raum hin und her, riss die Türen des Spindes auf und sah hinein, blickte zum Fenster hinaus und sah sich nach etwas um, das er nicht finden konnte.

Das Fenster. Draußen war der Sandsturm in vollem Gange. Das Fenster schützte den Turm einwandfrei. Es war aus Flarretglas. Flarret war eine Universalverbindungskomponente, die Jan Flarret kurz nach der Zerstörung der ersten Erde durch die Nanobombe von 2471 entwickelt hatte. Sie war mit fast jedem anderen Stoff zu verbinden, war günstig herzustellen und lieferte gute Qualität meist in Form von Stabilität.

Aber Flarretglas war nicht kugelsicheres Glas.

Ein Summen war zu vernehmen, das konstant lauter wurde. Kargan vermeinte sogar, wieder den minimalen Sog in seinem Kopf zu spüren. Sie kommen, dachte er und schaute auf den Monitor.

Dieser ging jedoch plötzlich aus, bevor Kargan einen genaueren Blick darauf werfen konnte. Er benötigte eine weitere Sekunde, bis er realisierte, dass der gesamte Strom aus war. Kein Notstromaggregat sprang an. Die Geräte in Kargans Kom-Raum waren erloschen. Er saß fast in Dunkelheit. Lediglich ein geringer Lichtschimmer schien noch von draußen durch die roten Schwaden des tobenden Sandsturms herein.

Das Summen wurde lauter. Es nahm wieder den entsetzlichen leiernden Klang an, der an einen kaputten Kassettenrecorder erinnerte. Kargan schwebte in dem Grauen, dass ihn dasselbe Schicksal ereilen würde wie vor wenigen Infidelis-Sekunden Asruan.

Doch er hatte noch Barg-Sas Waffe und er hatte immer noch den Expeditionsanzug an. Er zielte auf das Flarretglasfenster vor sich und drückte ab.

Mit einem lauten Knall schlug das Projektil auf der Glasscheibe ein. An dieser Stelle verformte sich das Glas, splitterte und lies einen milchigen runden Bruch erkennen. Aber die Glasscheibe hielt.

Das Summen wurde unerträglich laut. Sie mussten den Fuß des Kom-Turms erreicht haben.

Kargan feuerte. Dreimal, viermal. Die Glasscheibe hielt stand. Kargan spürte, dass eines der Wesen direkt unter der Luke sein musste. Voller Rage sprang er auf die Bedienungskonsole vor sich und hieb mit voller Wucht mehrmals mit seinem Fuß gegen die Scheibe. Beim dritten Schlag gab die Scheibe nach. Die Scherben stoben nach draußen und wurden durch den tobenden Sandsturm in alle Richtungen fortgerissen.

Kargan fiel durch den Schwung durch die Öffnung hindurch.

Das erste was er realisierte waren die Sandkörner, die wie Nadeln in Höchstgeschwindigkeit auf sein Gesicht einprasselten und ihm die Luft zum Atmen nahmen. Der Wind zerrte an seinem Körper und füllte seine Ohren mit einem Tosen.

Er rutschte von der Kante ab. In letzter Sekunde fand er Halt an einer Querstrebe, die sich entlang des Stahlgerüstes am Turm zog. Barg-Sas Waffe entglitt seinen Händen und verschwand in den rotbraunen Wolken unter ihm.

Kargans Füße baumelten frei in der Luft. Angestrengt versuchte er sich entlang des Gerüstes zu tasten und Halt zu finden. Er spürte eine weitere Querstrebe mit einem Fuß, die den Kom-Raum über der Verbindungsstahlröhre stabilisierte und versuchte, sich darauf zu stützen.

Er erinnerte sich daran, was er gesehen hatte, als er sich beim Anflug auf Andragon Outrange 15 mit dem Perser-Shuttle die Station im Bordcomputer angesehen hatte. Der Kom-Turm hatte bei dem 3D-Modell auch eine Leiter außerhalb des Turmes gehabt, allerdings auf der östlichen Seite.

Irgendwie schaffte er es, sich an den Querstreben um den Turm herum zu hangeln, während der Sandsturm um ihn herum tobte und Rotsand in seine Augen trieb. Auf der anderen Seite erreichte er die externe Leiter und begann hektisch den Abstieg. Kargan betete, dass eins der Wesen nicht auf die Idee kam, durch die Turmwand direkt neben ihm heraus zu schweben. Offensichtlich hatten sie die Fähigkeit, einfach durch Wände zu fliegen. Doch er hatte Glück und erreichte erschöpft und geläutert das Dach über dem ersten Stock.

Dass er keine Zeit zum Verharren hatte realisierte er, als er einen Blick nach oben warf und durch die Sandschwaden vage den Umriss eines Kugelrunden schwarzen Kopfes durch das offene Turmfenster sah. Selbst aus dieser Entfernung konnte Kargan noch erkennen, dass sich die Umgebung um das Wesen verzerrte und verbog. Die eintreffenden Sandkörner um das Wesen schienen viel langsamer zu werden, als würden sie in Wasser fallen und dort langsam zu Boden sinken.

Dann fiel Kargans Blick nach Süden. Der Nexus war nicht mehr zu erkennen, nur noch rotbraune Schwaden im dämmrigen Licht, die über den Boden, über die Betonblöcke und über die kaum erkennbaren Umrisse der Wesen stoben.

Es mussten mindestens vierzehn oder fünfzehn sein. Sie standen wie Kerzen nebeneinander in der südlichen Wüste vor Andragon Outrange 15. Sie hatten allesamt ihre Hände horizontal von ihren dünnen Körpern weggestreckt und schienen nun in ihren seltsamen Auren zu flimmern und zu zucken. Kargan merkte, dass er nun ein deutliches, leierndes Summen über dem Tosen des Sturms vernehmen konnte.

Panisch blickte er nach Norden. In der geringen Reichweite, die er sehen konnte, waren keine der Wesen zuerkennen.

Er rannte zur nördlichen Kante des Dachs. Er bemerkte einen der Betonklötze, der nahe genug war, dass er einen Sprung wagen konnte. Ohne zu zögern rannte er weiter, legte er seine ganze Energie in seine Beinmuskulatur und sprang.

Er wäre beim Sprung fast abgerutscht, hatte aber genügend Schwung, um den Betonklotz zu erreichen. Dadurch hatte er etwa drei Meter Höhe verloren und war dem Boden ein Stück näher. So gut es ging nahm er wieder Anlauf und sprang zum nächsten Betonklotz in nördlicher Richtung. Dies setzte er fort, bis er an der vier Meter hohen nördlichen Außenbetonreihe angelangt war. Er ließ sich an der Außenwand herunter, verlor den Halt, schürfte sich seine Handflächen auf und landete unsanft im Sand. Keuchend raffte er sich wieder auf und rannte in die Richtung, die seiner Meinung nach Nordwesten war. Seine einzige Chance war, die anderen zu suchen.

Nach mehreren hundert Metern wagte er einen letzten Blick zurück. In den Schwaden des Rotsandes, die über die Teneib-Wüste fegten, glaubte Kargan zu erkennen, wie sich die ganze Station veränderte. Die gesamte Luft um die Station schien sich zu verzerren und die Sicht verschwimmen zu lassen. Wo eben noch dunkle Strukturen aus Flarretstahl zu erkennen gewesen waren, war nun ein seltsames, rotes Licht zu sehen, das alles in einem düsteren Schimmer erscheinen ließ.

Dann verschwamm alles. Die gesamte Station tanzte einen verrückten Tanz.

Der Turm verbog sich wie Plastilin, die Ecken und Kanten deformierten sich.

Dann wurde alles in rotem Schein verschlungen und verschwand in den tobenden Böen des Sandsturms.

Das war Andragon Outrange 15, dachte Kargan fasziniert und schockiert zugleich, drehte sich um und rannte so schnell er konnte durch den Rotsand der Teneib-Wüste in Richtung des Gorres-Massivs.

Arym Var

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