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Reise nach B

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Es waren nicht viele andere Autos unterwegs. Lilly machte sich einen Spaß daraus, Autos gleicher Farbe zu zählen. Großvater hatte das Radio angeschaltet und Lilly wippte abwesend mit dem Fuß den Takt mit.

Nach einer Weile wurde ihr das Spiel zu langweilig und sie griff nach ihrem Buch. „Emil und die Detektive“, von Erich Kästner.

Nach einer Stunde taten ihr vom Lesen die Augen weh. Sie machte eine Pause und betrachtete Großvater.

Er saß ganz entspannt am Steuer des alten Busses und schien es zu genießen, wenn draußen ein Kind ganz aufgeregt auf den farbigen Bus deutete. Dann huschte jedes Mal ein leichtes Lächeln über sein faltiges Gesicht. Lilly mochte seine Falten. Sie erzählten ihr von all den Jahren, die Großvater schon gelebt hatte und von den vielen Dingen, die er erlebt hatte. Früher hatte sie stundenlang auf seinem Schoss sitzen können, versunken in eine eingehende Betrachtung seines faltigen Gesichtes. Sie hatte sich ausgemalt, was für ein Abenteuer hinter jeder dieser Falten versteckt war. Jedes Mal, wenn sie sich bei einer Falte nicht ganz sicher gewesen war, hatte sie Großvater gefragt und dieser hatte ihr eine seiner tollen Geschichten erzählt. Geschichten von Piraten und Räuber und von exotischen Orten, geheimnisvollen Schätzen, dunklen Höhlen und von der Farbe des Meeres.

Dieses Mal jedoch, nahm sie sich vor, den ganzen Großvater zu betrachten. Er trug ein langärmliges, rot kariertes Hemd und eine Hose mit Bügelfalten. Die schlanken Hände, die das Lenkrad umfasst hielten, waren ebenfalls voller Falten.

„Großvater, erzählen deine Hände auch Geschichten?“, wollte sie neugierig wissen. Großvater nickte lebhaft.

„Aber natürlich tun sie das. Diese hier“, er zeigte ihr eine tiefe Falte auf seinem Handrücken, „habe ich bei einem Überfall bekommen. Ich habe dir doch erzählt, dass Großmutter und ich einmal in Amerika gewesen sind. Wir fuhren damals mit einem Dampfer auf dem Mississippi, als wir plötzlich überfallen wurden. Sie kamen in einem Motorboot und stellten sich uns in den Weg. Der Kapitän unseres Dampfers musste anhalten und dann sind die Männer auf den Dampfer geklettert. Sie wollten von allen Geld und Wertsachen, doch Großmutter und ich hatten keine dabei. Das wollte einer von ihnen nicht glauben und hat versucht, mir meine Jacke abzunehmen, um selbst nachzusehen. Aber ich habe ihn gepackt und in den Fluss geworfen. Als die anderen Männer das sahen, bekamen sie Angst und flohen. Dabei ließen sie auch all die Wertsachen zurück, die sie eigentlich hatten stehlen wollen. Zum Dank hat mir dann eine der bestohlenen Damen die goldene Kette geschenkt, mit der du immer so gern gespielt hast.“

„War das deine erste Falte?“, wollte Lilly von Großvater wissen.

„Nein, das war nicht die erste. Aber das werde ich dir ein andermal erzählen.“ Lilly gab sich mit dieser Antwort zufrieden und wandte sich wieder ihrem Buch zu.

Auch Großvater warf immer wieder einen Blick zu seiner Enkelin. Dass sie kaum sprach störte ihn nicht weiter. Er war der Meinung, dass sie selbst entscheiden sollte, wann sie etwas sagen wollte. Sie trug einen ihrer wollenen Pullover, die ihre Großmutter für sie gestrickt hatte und eine Jeans. Lange braune Haare umspielten ihr schmales Gesicht. Bald würde sie dreizehn Jahre alt werden. Und noch immer hatte sie keine Anzeichen einer Besserung gezeigt. Sie war ungewöhnlich ernst für ihr Alter, benahm sich manchmal wie eine Erwachsene, redete kaum, lachte nicht, spielte auch nicht mit Gleichaltrigen, sondern las viel. Trotzdem liebte er seine kleine Enkelin und konnte ihre Andersartigkeit akzeptieren, doch er kam nicht umhin, zu bemerken, dass es für seine Tochter Alexandra eine enorme Belastung war.

Lilly sah von ihrem Buch auf. Vor ihr erstreckte sich eine riesige Wasserfläche. Sie hatten den Bodensee erreicht.

„Wir kommen an die Grenze“, erklärte der Großvater. Lilly nickte. Sie wusste, dass sich auf der anderen Seite des Sees ein anderes Land verbarg.

Über dem See hing Nebel so dicht, dass man das andere Ufer nicht mehr sehen konnte. Lilly versuchte sich vorzustellen, dass hier das Meer anfing. Sie war noch nie am Meer gewesen. Aber sie hatte schon viele Bücher darüber gelesen.

Der Zöllner hielt sie nur kurz auf, als sie an die Grenze kamen, dann konnten sie weiterfahren. Eine Weile noch betrachtete Lilly das neue Land vor sich. Als sie jedoch zugeben musste, dass sich nicht viel geändert hatte, wurde es bald langweilig und sie fing wieder an, zu lesen.

Erst als Großvater den Bus an einer Raststätte anhielt, wurde sie aus der Geschichte gerissen. Fragend sah sie ihn an.

„Möchtest du den Sonnenuntergang sehen?“

Lilly nickte lebhaft und legte das Buch weg. Großvater stieg aus, kam um den Bus herum und half ihr, die Jacke anzuziehen. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie auf eine Brücke hinauf, von wo aus man auf die umliegenden Bauernhöfe, einen Fluss und natürlich den Sonnenuntergang sehen konnte.

„Sieh nur, diese Farben! So eine Schönheit kann nur die Natur hervorbringen.“ Lilly sah auf das Schauspiel. Das Blau des Himmels bildete eine ebenmäßige Leinwand, Wolken zeichneten Landschaften darauf und die Sonne malte diese mit rosa Farbe an. Ganz konzentriert sah Lilly sich das Bild an und verankerte es in ihrem Gedächtnis. Sie nahm die Stimmung in sich auf, zusammen mit dem kribbelnden Gefühl von Abenteuer in ihrem Bauch und schloss sie in ihre Seele ein, um sie nie wieder zu vergessen.

Sie gingen erst zum Bus zurück, als auch noch die letzte Farbe vom Himmel verschwunden war, und schon der erste Stern am Himmel blinkte. Im Bus stellte Großvater die Lehne ihres Sitzes nach hinten, damit sie besser schlafen konnte, holte eine Decke und ein Kissen aus dem Kofferraum und bereitete Lilly ein Bett. Er half ihr einzusteigen und schnallte sie an.

„Schlaf gut.“ Dann ging er um den Bus herum und setzte sich wieder hinters Steuer. Lilly schloss die Augen, zog sich die Decke bis an die Nase, drückte Leo an sich und ließ sich vom gleichmäßigen Brummen des alten Busses in den Schlaf singen.

Der Grossvater und seine Enkelin

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