Читать книгу Der Grossvater und seine Enkelin - Dominique Lara Belleda - Страница 6

Unter den Linden

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„Wir sind da, Lilly. Aufwachen.“

Mit vom Schlaf verklebten Augen richtete sich Lilly auf. Der Rücken tat ihr weh vom Liegen auf dem Sitz des Busses. Sie rieb sich die Augen und blickte sich um.

Sie waren mitten in einer riesigen Stadt. Massen von Menschen waren auf den Straßen unterwegs: Menschen allen Alters und Aussehens. Autoschlangen quälten sich die Straßen entlang und beim Überholen sah Lilly oftmals gehetzte Gesichter hinter dem Steuer des einen oder anderen Autos. Sie blickte zu Großvater. Er wirkte nicht aufgebracht, es spielte sogar schon wieder ein Lächeln um seine Lippen, während er den Bus langsam die Straße entlang fuhr. Noch nie hatte sie ihren Großvater aufgebracht oder wütend gesehen. Sogar um die Großmutter herum war er immer die Ruhe selbst gewesen. Und genau so saß er nun hinter dem Steuer des Busses. Lilly konnte einen leisen Anflug von Stolz nicht unterdrücken. Das war er. Ihr Großvater. Und gemeinsam waren sie in ihrem roten VW-Bus zu einem Abenteuer aufgebrochen.

Lilly blickte wieder auf die Stadt hinaus. In den abzweigenden Straßen konnte sie alle möglichen Läden sehen: Buchhandlungen, Bäckereien, Kleidergeschäfte.

„Lilly, sieh mal. Da ist das Brandenburger Tor“, rief Großvater auf einmal aufgeregt. Lilly wandte den Kopf und folgte Großvaters ausgestrecktem Arm.

Vor ihnen erhob sich ein riesiges Tor. Es bestand aus fünf Bögen und darauf thronte ein Wagen aus Bronze, gezogen von vier riesigen Pferden. Auf dem Wagen stand eine Gestalt mit einem Stab in der Hand, auf dem wiederum ein Adler mit ausgestreckten Flügeln saß.

Großvater hielt den Bus vor einem vornehmen Hotel an. Die Pagen, die vor dem Eingang standen staunten nicht schlecht, als sie den roten Bus sahen. Einer von ihnen kam schließlich näher.

„Was kann ich für sie tun?“, wollte er höflich wissen. Neugierig sah Lilly den Mann an. Er trug eine rote Uniform und sah sehr elegant aus. Gespannt wartete sie auf Großvaters Antwort.

„Wenn sie bitte den Bus in die Garage fahren würden. Und dann wären da noch etwa drei Taschen im Kofferraum, die man hinein tragen sollte. Wissen sie, ich bin schon ein bisschen älter und - “

„Haben sie vor, hier zu nächtigen?“, fragte der Mann erstaunt.

„Aber natürlich.“ Damit stieg Großvater aus und übergab den Schlüssel des Busses dem ziemlich verdutzten Pagen. Großvater kam um den Bus herum gelaufen und half Lilly beim Aussteigen. Inzwischen hatte der Page sich wieder gefasst und zwei weitere zur Unterstützung gerufen. Gemeinsam schleppten die beiden die drei Taschen, die Großvater ihnen zeigte, und nach kurzem Zögern stieg der erste Page in den Bus und fuhr davon. Lilly sah dem roten Bus nach. Ihm durfte nichts passieren. Er war ihr Abenteuer. Aufmunternd klopfte Großvater ihr auf den Rücken, als er ihren besorgten Blick bemerkte und Lilly beruhigte sich wieder.

Die beiden Pagen mit den Taschen waren bereits einige Schritte voraus und Lilly und Großvater folgten ihnen ins Innere des Hotels. Hinter der großen Tür standen weitere Pagen, die sie freundlich anlächelten.

„Willkommen im Adlon“, begrüßte sie der eine. Lilly sah, wie Großvater dem Mann kurz zunickte und machte es ihm nach.

Die Frau an der Rezeption wirkte ähnlich erstaunt wie der Page, doch sie fasste sich schnell wieder und gab ihnen den Schlüssel für ihr Zimmer. Lilly und Großvater folgten den Pagen, die ihnen den Weg zeigten und endlich standen sie vor ihrem Zimmer.

Schnell griff sich Großvater die rote Tasche und verstaute sie im Schrank.

Lilly nahm ebenfalls ihre Tasche entgegen und stellte sie neben das große Bett. Großvater legte sich hin.

Die nächsten vier Stunden verbrachte Lilly lesend am großen Fenster. Ab und zu hob sie den Blick und sah auf die Straße hinunter, wo eine endlose Masse von Menschen hin und her wogte. Sie beobachtete das bunte Treiben der Straßenmusikanten, die Arbeiter auf der Baustelle vor dem Hotel und die Obdachlosen, die auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor um Spenden bettelten.

Als Großvater fertig ausgeschlafen hatte, winkte er Lilly, zum Schrank zu kommen, in dem er die rote Tasche versorgt hatte. Neugierig trat Lilly zu ihm und wartete. Mit einer großen Geste öffnete Großvater die Tasche und zog ein schwarzes Etui hervor. Nach kurzem Zögern hielt er Lilly das Etui hin. Diese nahm es vorsichtig entgegen und öffnete es. Zum Vorschein kam ein Fotoapparat. Einer von denen, bei dem das Foto gleich vorne raus kam.

„Das ist für die Farben, die wir sammeln werden“, meinte Großvater. Und dann machten sich die beiden auf den Weg, hinunter in den Lärm der Großstadt.

Hand in Hand gingen die beiden die breite Straße entlang. Neugierig sah Lilly sich um und besah sich die Namen der Geschäfte links und rechts. Madame Tussauds, las sie an einer roten Hauswand, unter der eine lange Schlange von Touristen darauf wartete, eingelassen zu werden. Sie suchte nach einem Straßenschild. Unter den Linden, las sie schließlich an einer weißen Hauswand.

Nach einer Weile erreichten sie eine Brücke. Lilly blieb stehen und sah auf das Wasser hinunter, auf dem alle Arten von Schiffen zu sehen waren. Als sie den Blick wieder hob, fiel ihr ein riesiges Gebäude ins Auge, das auf der anderen Seite der Brücke stand. Es war mit Statuen verziert, gekrönt von drei türkisfarbenen Kuppeln und die Wände sahen aus, als wären sie geschwärzt. Es musste eine Kirche oder so etwas sein, denn auf der höchsten der Kuppeln war ein Kreuz befestigt. Großvater hatte ihren Blick gesehen.

„Das ist der Dom.“ Lilly nickte. Sie gingen weiter. Auf der anderen Seite der Brücke wechselten sie auf die linke Straßenseite und gingen ans Ufer des Flusses hinunter. Rundfahrten auf der Spree stand auf einem Schild geschrieben. Ohne zu zögern steuerten sie darauf zu und bestiegen das nächste Schiff, das anlegte.

Es war ein langes, niederes Schiff, vollgestellt mit Bänken und Stühlen für die Touristen. Lilly und Großvater setzten sich in die Mitte des fast leeren Schiffes. Die Sonne schien durch die Wolken auf das Glasdach des Schiffes, sodass es darunter schnell sehr warm wurde, obwohl es noch immer Winter und draußen recht kalt war. Bald schon wurde es so warm, dass Lilly ihre Jacke ausziehen musste.

Sie fuhren erst unter der Brücke durch und kamen am Palast der Republik vorbei, oder zumindest an seinen Überresten. Vier Betonpfeiler ragten noch aus dem Schutt und wirkten inmitten der blühenden Stadt wie vertrocknete Äste. Sie fuhren weiter am Marx-Engels Forum vorbei, bis zu den Schleusen, dann kehrten sie um und fuhren zurück, an ihrem Ausgangspunkt vorbei und weiter in die andere Richtung. Aufgeregt deutete Lilly auf eine wunderschöne, verzierte Kuppel, die über den anderen Häusern thronte.

„Das ist die Kuppel der neuen Synagoge“, erklärte ihr Großvater.

Sie fuhren weiter und gelangten schließlich ins Regierungsviertel. Der Reichstag mit seiner in der Sonne spiegelnden Glaskuppel zog an ihnen vorbei, dann zwei weitere Regierungsgebäude, links und rechts der Spree, die durch eine schmale Brücke miteinander verbunden waren. Wenig später kam der Bahnhof in Sicht, doch Großvater deutete auf das andere Ufer.

„Das da ist die Schweizer Botschaft“, erzählte er, „Sie ist noch relativ neu.“

Lilly folgte seinem ausgestreckten Arm und erkannte einen seltsamen Gebäudekomplex, mit blitzförmigem Grundriss.

Nach dem Regierungsviertel folgte ein Park, dort kehrte das Boot um und fuhr zurück.

Eine Stunde später waren sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen.

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