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II Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret

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Eine Bemerkung zunächst: Was Janco wie beiläufig offenbart hat, dürfte diejenigen, die mit der Lebensgeschichte Lenins vertraut sind, nicht überraschen. Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret hat ihren Ursprung nicht erst im Jahr 1916. Die durchaus verständliche Verschwiegenheit von Historikern oder Zeugen desselben politischen Lagers, wie auch jene des Betroffenen selbst in seiner Korrespondenz, konnte nicht verhindern, dass einige präzise Hinweise durchgesickert sind. Krupskaja verrät uns schon viel, wenn wir sie nur richtig zu lesen wissen. Die 1901 bis 1902 in München verbrachte Zeit etwa blieb dem revolutionären Paar, wie sie schreibt, «stets in angenehmer Erinnerung». Schamhaft versucht sie, «die harmlose Fröhlichkeit zu erklären, mit der wir uns auf dem Karneval amüsierten, und jene übermütige Laune, die allerseits (…) herrschte».18 Ein wenig später, in London, treibt sein Gefallen an der Arbeiterklasse Wladimir Iljitsch gar so weit, sich überall dorthin zu begeben, «wo er die Massen traf: ins Freie, (…) in die Trinkhallen …».19 Zudem verrät sie uns an anderer Stelle, dass Lenin den Gesang liebt:

In Paris begeisterten wir uns, wie ich mich erinnere, eine Zeit lang für das französische revolutionäre Chanson. Wladimir Iljitsch schloss Bekanntschaft mit Montéhus, einem ausserordentlich talentierten Verfasser und Sänger revolutionärer Lieder.20

Das Ehepaar geht an die entlegensten Orte, um den Sänger zu hören. Aline, ein Zeitzeuge, schildert die erste Begegnung:

Nach der Vorstellung von Montéhus verschwand Lenin. Wir suchten ihn im Saal, aber er war nicht mehr da. Wir erfuhren, dass er hinter den Kulissen Bekanntschaft mit dem Chansonnier geschlossen hatte. Im Laufe ihrer Unterhaltung begeisterten sie sich derart füreinander, dass sie, ohne es zu merken, bis vier Uhr morgens blieben.21

Diese «Begeisterung», die uns einen nachtschwärmerischen Lenin offenbart, führte sogar zu einer Einladung: «Montéhus», schreibt Krupskaja, «kam einmal an einer unserer russischen Soireen singen.»22 (Man merke sich den Ausdruck.) Fahren wir fort: In Brüssel fand im Juli / August 1903 der zweite Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands statt. Krupskaja berichtet:

Die Delegierten schlugen im «Goldenen Hahn» ihr lärmendes Quartier auf, und Gussew [Delegierter der Don-Region] sang abends, wenn er ein Gläschen Kognak getrunken hatte, mit so mächtiger Stimme Opernarien, dass sich unter den Fenstern des Gasthofes eine Menge ansammelte. Wladimir Iljitsch liebte Gussews Gesang sehr. Besonders gern hörte er das Lied «Nicht in der Kirche sind wir getraut».23

Bei seinem Biografen Jean Jacoby lesen wir, dass sich der berühmte Mann nicht damit begnügte, zuzuhören:

… während der Kongress-Arbeiten isolierte sich die Gruppe von Lenin; abends versammelte man sich in einem Kaffeehaus, wo die lärmende Bande mit ihrem Heisshunger, ihrem Lachen und ihren Gesängen die Stammgäste in Staunen versetzte. Der Russe ist Musiker aus Instinkt; er hat das Bedürfnis, seine Empfindungen lyrisch auszudrücken. Es brauchte sich nur eine Melodie zu erheben, ein Motiv, und sei es kaum hörbar, von weit entfernt, die Diskussionen verstummten, die Gesichter veränderten ihren Ausdruck je nach Laune der Musik. Und so sang man im Chor …24

Ein weniger schönfärberisches, dafür ernsthafteres Bild zeichnet sein Bruder Dmitri, wenn er uns dessen Freude am Singen – allein oder in der Gruppe – bestätigt. Sie kam wahrscheinlich von der Mutter, denn sie «liebte das Klavierspiel sehr. Sie musizierte und sang viele alte Lieder und Romanzen.»25 «In den Jahren 1888 bis 1890», präzisiert Dmitri Uljanow, «sang Wladimir Iljitsch oft mit Olga [seiner Schwester] zum Klavier»; und er fährt fort, Lenins Lieblingslieder – darunter das berühmte Kriegslied von Valentin aus dem Faust von Gounod – aufzuzählen.26 Ebenso berichtet uns Krupskaja, wie sie und Lenin einige Jahre später während des Exils in Sibirien, wo sie ihn wirklich kennenlernt, mit einigen Freunden zusammen heitere Lieder in «Russisch, dann (…) auf Polnisch» anstimmen.27 Und in Paris, so erzählen André Beucler und Grégoire Alexinsky, habe der für Montéhus schwärmende Lenin keine Gelegenheit verpasst, «in den Refrain des Saales einzustimmen».28

Wie hätte dieser in Gesang und herzliches Beisammensein vernarrte Mann sich denn auch um den Genuss von häufigen Cabaret-Besuchen bringen können, zumal in einer Stadt wie Paris, wo solche in Hülle und Fülle vorhanden sind? Jean Fréville hat sich wie viele Historiker oder Geschichtsschreiber, die der Kommunistischen Partei nahestehen, Mühe gegeben, uns in seinem Lénine à Paris davon zu überzeugen, dass Wladimir Iljitsch die literarische und künstlerische Boheme des Montparnasse gemieden hätte und dass bei ihm im Allgemeinen «die Zerstreuungen, wo andere sich zu vergessen suchen», kaum Anklang fanden.29 Ärgerlich ist nur, dass eine Reihe zeitgenössischer Schilderungen genau das Gegenteil belegen. Es sind da zuerst die eingeschobenen Bemerkungen von Lise de K. zu erwähnen, die Lenin von 1905 bis 1914 kannte – und, so scheint es, sehr intim –, Bemerkungen, die von Beucler und Alexinsky gesammelt und kommentiert worden sind. Mit der Zeit, so erfahren wir da, habe Lenin

die Bibliothèque nationale immer seltener besucht und es stattdessen vorgezogen, in Gesellschaft Kamenews, Sinowjews und anderer oder, falls es Pariser waren, mit Rykow und Schuljatikow, dem Säufer der Bande, Bier trinken zu gehen. (…) Er hätte Museen und Konzerte besuchen und in künstlerischen Kreisen verkehren können, aber er bevorzugte Fabriken, Kaffeehäuser und die Vorstädte.30

Vor allem aber gibt es diese «Nacht im Rabelais», von der Franz Toussaint in einem Kapitel seines Lénine inconnu so mitreissend berichtet, aufgrund von Notizen, die er sich, wie er sagt, unmittelbar nach dem Ereignis gemacht hat. Ereignis in der Tat für den Erzähler, der Lenin (er wohnte damals – im Sommer 1911 – in Longjumeau) völlig überraschend in einem Pariser Etablissement begegnet ist:

Lenin im Rabelais, diesem grossen Nachtlokal, dessen Champagner so miserabel ist wie die zwei Orchester! Vabre [der gemeinsame Freund, der den Autor eingeladen hat] hätte mich wahrscheinlich weniger ins Staunen versetzt, wenn er mir mitgeteilt hätte, der Erzbischof von Paris wäre im Tabarin und der Präsident der Republik ginge kommenden Sonntag in Lourdes zum Abendmahl. (…) Lenin, in einer dieser Spelunken, wo Greise, ein Papphut auf dem Kopf, mit Papierschlagen um sich werfen und satten Affen gleich rülpsen! Lenin, betäubt von amerikanischen Trompeten, angeekelt von argentinischen Tangos, angerempelt von Tänzern und umworben von Mädchen!31

Ein Wunsch trieb den zukünftigen Chef der sowjetischen Revolution an diesen so besonderen Ort, er wollte einen Georgier wiedersehen, den er zur Zeit seiner Gefangenschaft in Samara gekannt und der ihm damals Dienste erwiesen hatte. Dank diesem Georgier, den das Schicksal nach Paris verschlagen hatte, wo er als Kellermeister eine Anstellung fand – und heimlich die Etiketten wechselt –, konnten Lenin und seine Freunde «Mumm extra-sec» zum Preis eines gewöhnlichen Fusels trinken. Die drei Gäste entkorken eben ihre vierte Flasche und kommen auf jenen Schriftsteller zu sprechen, dessen Name dem Cabaret als Aushängeschild dient – eine Art Hommage, wie sie Hugo Ball in Zürich, 1916, spontan wiederfinden wird! –, da antwortete Lenin auf die Frage, ob er Rabelais liebt, welch Zufall (oder welch Vorahnung!), mit folgenden Worten:

Ja und nein. Aber eher ja. (…) Er hat Voltaire den Weg bereitet. Rabelais und Voltaire sind eure besten «Jahrgänge»!32

Apropos Wein, hier sei noch geschildert, wie der Abend – immer gemäss den Notizen von Franz Toussaint – zu Ende gegangen ist:

Wir sind um fünf Uhr morgens gegangen. Der Georgier hatte nicht wiederkommen wollen, trotz der Ermahnungen des Oberkellners. Vabre folgerte daraus, dass es eine Geschichte gegeben hatte wegen der Flaschen.33

Lenin im Cabaret! Fréville kann es nicht glauben. In einer Anmerkung seines Buches qualifiziert er das Zeugnis von Toussaint als «absurde Hirngespinste», «Dummheiten» und «Unwahrscheinlichkeiten» ab.34 Wie peinlich für ihn, dass es der Betroffene selber in seinen Briefen bestätigt. Am 2. Januar 1910 etwa schreibt er seiner Schwester Manjascha, die nach Russland zurückgekehrt ist:

Überhaupt haben wir an den Feiertagen «gebummelt» (…). Auch heute habe ich vor, in ein Vergnügungslokal zu gehen, wo «Sänger» (ungeschickte Übersetzung von chansonniers) goguettes révolutionnaires* singen.35

* revolutionäre Liedchen, Couplets (Hervorhebung vom Autor)

Gut, könnte man sagen. Aber es ist nicht das Gleiche, ob einer manchmal ein Cabaret betritt oder ob ihm das auch noch gefällt, er sein Wort an Nachbarn richtet und fröhlich lärmt, das heisst: ob er wirklich teilnimmt! Wohlan denn, darüber besteht kein Zweifel: Lenin hat teilgenommen! Hören wir Lise de K.:

Lenin hatte sich für diese Gelegenheit mit einem hellgrauen Anzug gekleidet, der auf wundersame Weise von sämtlichen Flecken gereinigt worden war, und er trug seinen steifen Hut schief auf dem Kopf, wie es einige Pariser taten, die ich mit ihm in den Cabarets des Boulevard de Clichy und in den Kaffeehäusern der Place de la République gesehen hatte.36

Dann der Genosse Aline (es handelt sich um einen Abend am Neujahrstag im Keller eines Kaffeehauses nahe der Porte d’Orléans):

Alle amüsierten sich. Wir sangen. Lenin sang aus vollem Herzen mit, als wir «Stienka Rasin» anstimmten. Er versuchte, den Bariton zu intonieren, aber es gelang ihm nicht, und so fuhr er fort, so gut er konnte, und schlenkerte dabei verzweifelt mit den Armen. Gegen vier Uhr spazierten wir angeheitert auf dem verlassenen Boulevard. Die Frau von N. A. Semaschko und Ilja Safir (Moissejew) begannen einen russischen Tanz. Aber Polizisten auf Fahrrädern verlangten höflich, dem Lärm ein Ende zu bereiten.37

Offensichtlich sind Frau Semaschko und Moissejew nicht die einzigen, die liebend gerne tanzen. Krupskaja zum Beispiel erzählt, dass sich Wladimir Iljitsch und sie im Sommer 1916 während sechs Wochen in den Flumserbergen im Erholungsheim Tschudiwiese, unweit von Zürich, aufgehalten haben: «Abends spielte der Sohn der Wirtin auf seiner Harmonika, und die Gäste traten zum Tanz an …»38 Und wie schaffte es Lenin, gut zu tanzen? So wie er alles tat: mit einem ungewöhnlichen Eifer. Denn wenn er ruhigere Zeiten verbrachte, erklärt uns Nicolas Valentinov, der ihn gut kannte,

war dies nur von kurzer, manchmal minimaler Dauer. Der Normalzustand wich einer Leidenschaftlichkeit; dann veränderte Lenin sich psychisch. Dieser neue Zustand zeichnete sich durch Masslosigkeit und ein Element immenser Begeisterung aus, was Krupskaja mit einer «Raserei» verglichen hat. Dieser Persönlichkeitswandel kam im Laufe seines Lebens in Sibirien plötzlich zum Vorschein: Nachdem er sich Schlittschuhe gekauft hatte, begann Lenin von morgens früh bis abends spät auf dem Fluss eiszulaufen und, wie Krupskaja erzählt, «die Bewohner durch seine Riesenschritte und seine spanischen Sprünge in Erstaunen zu setzen».39

Dieses erstaunlich farbige und bewegte Lenin-Bild, ein wenig Don Quichotte und Monsieur Fenouillard, gewinnt in der Tat noch an Glaubwürdigkeit, wenn uns seine Gefährtin selbst beschreibt, wie er in Sibirien jagte:

Wladimir Iljitsch war ein leidenschaftlicher Jäger, er schaffte sich Lederhosen an und stapfte durch alle Sümpfe.40

Für einen Augenblick ist zu unserem grössten Vergnügen dieser Lenin dem Flaubert von Bouvard et Pécuchet und dem Daudet von Tartarin sehr ähnlich.

Zum Schluss legt uns ein anderer Schriftsteller nahe, dass diese kabarettistische Lebenskraft sich noch andere Ventile als den Tanz zu finden wusste. Es ist dies – wer hätte das geglaubt? – der liebenswürdige und fromme Julien Green, der am 5. Februar 1932 in seinem Tagebuch notiert:

Ein Maler erzählt mir von Lenin, den er 1912 im Quartier Latin kennengelernt hat. «Wir teilten unsere Mädchen. Lenin war sehr lustig, sehr gut und, in der Liebe, sehr schamlos.»41


«Ein Element immenser Begeisterung ...» Lenin, rechts, 1908 in Capri, zusammen mit Alexander Bogdanow, links, und Maxim Gorki (Foto: Editions Robert Laffont SA, Paris).

Lenin dada

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