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III Zürich im Februar 1916
ОглавлениеDies ist also ein lustiger Bruder, etwas exzentrisch, Experte in Gesang und russischem Tanz, fähig, Nachtlokale bis spät in der Nacht zu besuchen und dort eine gute Figur abzugeben, den wir im Februar 1916 in Zürich wiederfinden. Was aber sucht er dort? Einige Werke in den, verglichen mit Bern, viel besser dotierten Bibliotheken zu Rate ziehen – dies ist die offizielle Version.42 In Wahrheit aber sucht er Gelegenheiten, sich zu zerstreuen. Krupskaja gibt es in ihren Erinnerungen an Lenin zu: «Dann schoben wir unsere Rückkehr nach Bern wieder hinaus, bis wir schliesslich ganz in Zürich blieben, das (…) lebhafter als Bern war. (…) Überhaupt machte sich der kleinbürgerliche Geist weniger stark geltend.»43 In ihrer «Lebhaftigkeit» stand die kleine Russen-Gruppe den Stadtzürchern wahrhaftig nicht nach. Hören wir dazu Valeriu Marcu, der damals mit Lenin und dessen Freunden in Berührung kam:
Die Moskowiter (…) belebten aber als landfremde Elemente die Tische einheimischer Kaffeehäuser.44
Solche Zeugnisse tragen dazu bei, dass wir schliesslich eines der Rätsel aufklären können, welches noch immer die Anfänge des Cabaret Voltaire umgibt. Im sonst ausserordentlich genauen Bericht über den Eröffnungsabend vom 5. Februar, den sein Organisator Hugo Ball kurz danach niederschreibt, bleibt ein Programmpunkt tatsächlich merkwürdig dunkel, da anonym:
Mde. Hennings und Mde. Leconte sangen französische und dänische Chansons. Herr Tristan Tzara rezitierte rumänische Verse. Ein Balalaika-Orchester spielte entzückende russische Volkslieder und Tänze.45
Augenblicklich bemächtigt sich eine Hypothese unseres Verstandes: Lenin und seine Freunde! Wahrhaftig, wer sonst, wenn nicht sie, diese aufrichtigen Russen von revolutionärer Gesinnung, hätte es denn wagen können, in einem Künstler-Cabaret der Avantgarde zu singen, um den «Volksliedern» Russlands im Zürich von 1916 den Weg zu bereiten? Einige könnten an ein Orchester auf der Durchreise denken, das an diesem Tag in der Schweizer Stadt haltgemacht hat. Das käme einem Wunder gleich. Denn viele Russen waren damals auf den Strassen nicht anzutreffen, auch auf den schweizerischen nicht. Kommt hinzu, dass diese russische Präsenz keineswegs von kurzer Dauer war. Hugo Ball erklärt im bereits zitierten Text, dass sie nach dem Eröffnungsabend eine «Russische Soiree» veranstaltet hätten. Und unter dem Stichwort «Russische Soiree» vermerkt er am 4. März 1916 in seinem Tagebuch:
Ein kleiner gutmütiger Herr, der schon beklatscht wurde, ehe er noch auf dem Podium stand, Herr Dolgaleff (sic), brachte zwei Humoresken von Tschechow, dann sang er Volkslieder. (…)
Eine fremde Dame liest Jegoruschka von Turgenjew und Verse von Nekrassow.46
Wir wissen um den Kult, den Lenin mit genau diesen drei Schriftstellern trieb, was so mancher Historiker, Biograf oder Zeuge bestätigt, Krupskaja* an erster Stelle, die ihm darin wie in so vielem anderen** folgte, und wir dürfen so mit gutem Recht die wahre Identität dieses sogenannten Herrn Dolgaleff vermuten und auch kaum Mühe haben zu erraten, wer diese «fremde Dame» sein könnte, die ihn begleitete. Immerhin schliesst Hugo Ball seine Präsentation des Cabaret Voltaire mit den Worten: «Das kleine Heft, das wir heute [15. Mai 1916, d. h. dreieinhalb Monate später] herausgeben, verdanken wir (…) der Beihilfe unserer Freunde in Frankreich, Italien und Russland.»47 Beweis genug für die kontinuierliche Anwesenheit und Unterstützung.
* «Anton Tschechow (…) hatte Lenin gern. [Die] Erzählungen Tschechows, deren Gestalten ihm im Gedächtnis blieben, sowie seine Dramen gefielen ihm. (…) Von Sibirien aus bat Lenin seine Mutter im Jahre 1898, ihm eine 12-bändige Ausgabe von Turgenjew in russischer Sprache zu schicken, dessen durchsichtiger klassischer Stil ihm Freude machte. Später bat er seine Schwester Anna, ihm Turgenjew auf Deutsch zu schicken, damit er durch den Vergleich der beiden Ausgaben Deutsch lernen könne» (Louis Fischer, Das Leben Lenins, a. a. O., S. 603). «Wladimir Iljitsch hatte Turgenjew (…) nicht einmal, sondern mehrere Male gelesen; er kannte die Klassiker ausgezeichnet und schätzte sie sehr» (Nadeschda Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, a. a. O., S. 44). «Abends las Wladimir Iljitsch» im sibirischen Schuschenskoje «gewöhnlich (…) Nekrassow» (ibd.). «Nekrassow ist sicherlich eine jener literarischen Gestalten, die Lenin am meisten schätzte» (Jean-Michel Palmier, Lénine, l’art et la révolution, Paris, Payot, «Bibliothèque historique», 1975, S. 170). «Wolodja [Kosename für Wladimir] kann (…) Nekrassow schon fast auswendig» (Krupskaja in einem Brief vom 26. Dezember 1913 an die Mutter von Lenin, der diesen mitunterzeichnet, in: Werke Bd. 37, a. a. O., S. 442). ** Siehe etwa den Brief vom 26. Dezember 1913, der in der vorangehenden Fussnote zitiert wurde. Eine Passage dieses Briefes handelt von ihrem künstlerischen Geschmack, und Krupskaja drückt mit dem fortwährenden «wir» aus, dass sie in ihrem wie in Lenins Namen spricht. Was Nekrassow betrifft, berichtet Krupskaja in einem anderen Aufguss ihrer Erinnerungen, dass sie ihm die Werke nach Sibirien gebracht und zum Lesen gegeben habe («Was Iljitsch aus der schönen Literatur gefiel», in: Das ist Lenin, a. a. O., S. 112).
An dieser Stelle könnte uns ein Einwand dazu zwingen, unsere Studien abzubrechen. Der Einwand nämlich, dass Lenin am 5. Februar 1916 noch gar nicht in Zürich angekommen sei! Wenigstens dann, wenn wir uns auf das Gedächtnis von Krupskaja verlassen. Erst «Mitte Februar», schreibt sie 1931 (fünfzehn Jahre später, vergessen wir das nicht), «hatte Lenin in den Zürcher Bibliotheken zu arbeiten».48 Die übrigen Biografen schliessen sich dem selbstverständlich an.* «Ungefähr Mitte Februar», schreibt beispielsweise Maurice Pianzola, «fuhr Lenin (…) nach Zürich.»49 Auf der Schrifttafel, die die Stadtzürcher Behörden an der Fassade des Hauses Spiegelgasse 14 anbringen liessen, können wir heute noch lesen, dass Lenin vom 21. Februar 1916 bis 2. April 1917 hier gelebt habe. Willi Gautschi jedoch spricht vom 20. Februar.50 Die Unsicherheit wird bei der Durchsicht von Lenins Korrespondenz noch vergrössert, obwohl dieses Dokument aus erster Hand eigentlich alle Zweifel ausräumen sollte. Ist nicht ein Brief von Zürich an Olga S. N. Rawitsch mit «13. Februar 1916» datiert? Lenin gibt dort als Adresse an: «Uljanow (bei Frau Prelog) 7I Geigergasse 7I. Zürich. i.»51 Tatsächlich wissen wir aus den Erinnerungen von Krupskaja, dass sich das Paar nicht sofort an der Spiegelgasse niedergelassen hat. «Wir suchten uns ein Zimmer», schreibt sie. «Dabei kamen wir zu einer gewissen Frau Prelog, die eher den Eindruck einer Wienerin als einer Schweizerin machte.»52 Doch, so fährt sie fort, «wir hatten uns schon bei ihr eingerichtet, als sich am nächsten Tag herausstellte, dass ihr früherer Mieter wieder zu ihr zurückkehrte. (…) Frau Prelog bat uns, ein anderes Zimmer zu suchen.» (ibd.) Das bestätigt auch Pianzola: Lenin verliess das Zimmer bei Frau Prelog «schon am folgenden Tag».53 Wenn der Brief Lenins, der die Unterkunft bei Frau Prelog angibt, vom 13. Februar datiert, so müsste der Umzug zur «Schuhmacherfamilie Kammerer»,54 wohin sie gemäss allen Biografen, an erster Stelle Krupskaja, sogleich gingen, am 14. Februar stattgefunden haben. Was also geschah zwischen dem 14. und dem 20. oder 21. Februar (dem offiziellen Datum ihres Einzuges in die Spiegelgasse)? Ein erstes Rätsel. Aber es gibt noch ein weiteres: dass nämlich Lenin sogar schon vor dem 13. in Zürich ist! Tatsächlich ist ein Brief erhalten geblieben, den Lenin am 12. Februar von Zürich an Gregor Sinowjew geschickt hat.55 Und es kommt noch besser: In einem Brief von Bern an Moissei Markowitsch Charitonow, datiert vom 29. Januar 1916, kündet Lenin an:
* Mit Ausnahme David Shubs, der in seinem Lenin, Geburt des Bolschewismus erklärt: «Im Januar 1916 zogen Lenin und seine Frau aus Bern nach Zürich» (S. 170, Hervorhebung des Autors). Leider können wir dieser Aussage nicht den geringsten Glauben schenken, obwohl sie doch so gut in unser Konzept passen würde. Nicht nur mangelt es ihr an Beweisen oder Erörterung, sie beruht auch auf gänzlicher Unkenntnis der Korrespondenz Lenins, die unzweifelhaft beweist (siehe weiter unten), dass sich unser Mann noch am 30. Januar 1916 in Bern aufhielt!
Lieber Genosse! (…) Wir kommen am 4. Februar. Wenn möglich, suchen Sie uns ein Zimmer, das man jeweils für eine Woche mieten kann, für zwei Personen.56
Konnte das (Wohn-)Problem geregelt werden, und ist somit der 4. Februar das reale Ankunftsdatum Lenins in Zürich? Oder müssen wir gar noch weiter zurückgehen? Ein präziser Hinweis drängt uns dazu: Ein weiterer Brief vom folgenden Tag an denselben Empfänger weist uns auf den Mittwoch, 2. Februar. Denn dieser mit «Sonntag Abend» (30. Januar) datierte Brief ist ganz einem einzigen Ereignis gewidmet, das drei Tage später stattfinden soll:
Lieber Genosse! Eben erst habe ich erfahren, dass am Mittwoch in Zürich eine internationale Konferenz des Büros der Jugendorganisationen stattfindet. (…) Ich bitte Sie sehr, 1. in Erfahrung zu bringen (taktvoll: das ist alles konspirativ), und zwar möglichst konkret: Datum, Ort, Dauer, Zusammensetzung; 2. festzustellen, ob nicht auch ein Vertreter unserer Partei teilnehmen kann.57
Hier mag Lenin der Form halber Charitonow noch so sehr nahelegen, «selbst teilzunehmen», wir begreifen rasch, dass er darauf brennt, dieser Vertreter zu sein. Ein einziger Umstand scheint dem zu widersprechen, dass er dort war: seine Teilnahme an einer politischen Versammlung am Abend des 8. Februar in Bern, wovon ein Artikel in der Berner Tagwacht zeugt.58 Die beiden Städte aber liegen so weit nicht auseinander – hundertdreissig Kilometer in der Eisenbahn –, und nichts hindert Lenin, sich in Zürich niederzulassen und für einen Abend nach Bern zurückzukehren. Erwiesenermassen verfuhr er bei anderer Gelegenheit ebenso: Etwa am 25. Februar 1916, als er nach Bern kam, um eine Veranstaltung unter dem Titel «Zwei Internationalen» abzuhalten.59 Ausserdem belegt sein Brief vom 17. Februar 1916 an Olga S. N. Rawitsch, dass Lenin den Fahrplan der Züge ab Zürich genauestens kannte und sich daraus auch seinen Vorteil zu ziehen wusste:
Legen Sie also bitte den Termin des Referats selbst fest, entweder vor dem 25. oder nach dem 26., und benachrichtigen Sie mich rechtzeitig. Ich bitte Sie auch sehr, sich mit Lausanne in Verbindung zu setzen, damit ich in 2 Tagen alles erledigen (…) kann. (…) Es gibt einen günstigen Zug: Er kommt in Genf 9.15 abends an. Ob ich den benutzen kann? Falls nicht, kann dann das Referat in Lausanne nicht am Tag vorher gehalten werden?60
Wenn wir im weiteren berücksichtigen, dass er nicht sofort jede seiner Adressänderungen allen seinen Briefpartnerinnen mitteilte (erst am 12. März 1916 zum Beispiel meldet er seiner Mutter: «Meine liebe Mama! Ich schicke Dir Fotografien (…). Wir wohnen jetzt in Zürich.»61), so werden wir es als sehr wahrscheinlich gelten lassen, dass er sich in Zürich schon einige Zeit vor dem ungefähren Datum («Mitte Februar») aufgehalten hat, an das sich Krupskaja fünfzehn Jahre später erinnert und das – diskussionslos – von allen Biografen übernommen wurde. Anders gesagt: Lenin war früh genug in Zürich, um am Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire teilzunehmen. Und der Einzug Lenins in unmittelbarer Nachbarschaft erscheint uns nicht länger als Zufall, wie wir eingangs dachten, sondern als ganz und gar gewollter Akt.