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6. Juni 1944

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4266 Landungsfahrzeuge begleitet von 700 Kriegsschiffen halten auf die Normandieküste zu. Drei Luftlandedivisionen starten von englischem Boden.

Mitternacht. Die ersten Fallschirmjägertruppen landen auf französischem Boden, im Hinterland der für die Landung der Alliierten vorgesehenen Strände.

3 : 14 Uhr. Beginn der systematischen Beschießung der deutschen Küstenverteidigungsstellungen in der Seine-Bucht.

6 : 30 Uhr. Bei mittlerem Seegang beginnt die Landung der englischen und kanadischen Truppen an den Strandabschnitten Gold, Juno und Sword an der Orne-Mündung. Wenig später landen die amerikanischen Truppen an den Küstenabschnitten Utah und Omaha der Halbinsel Cotentin.

Paris, 4 Uhr früh. Zwei Citroëns fahren dicht hintereinander im Schritttempo und ohne Licht durch die Avenue Henri-Martin. Die Stadt ist dunkel, verlassen, still bis auf das Rauschen der Windböen in den Kastanien, eine Stadt unter Ausgangssperre. Die beiden Wagen halten leise vor Hausnummer 50, ein vornehmes Wohnhaus, Quaderstein, hohe Fenster und schmiedeeiserne Balkone. Vier Männer steigen aus, schließen geräuschlos die Wagentüren, formieren sich, gegürtete schwarze Ledermäntel, tief in die Stirn gezogene Filzhüte, drei von ihnen tragen eine Maschinenpistole über die rechte Schulter gehängt. Im Gleichschritt überqueren sie den Bürgersteig, bleiben vor einem hohen, schweren, mit Bronzeskulpturen geschmückten Holzportal stehen. Von einem eingezäunten Nachbarvorgarten weht mit jedem Windstoß der Geruch nach Rosen und feuchter Erde herüber. Der Anführer, ein gewisser Loiseau, hochgewachsen, hager, kantiges, zerklüftetes Gesicht, drückt auf die Klingel, hält sie gedrückt. Die Türglocke hallt durch die Stille, dann undefinierbare Geräusche und eine angstvolle Frauenstimme hinter der Tür.

»Was ist denn los?«

»Deutsche Polizei. Machen Sie auf.«

Stille, kaum ein, zwei Sekunden, das Portal öffnet sich einen Spalt, der Anführer schiebt sich mit der Schulter voran hinein, drängt eine alte Frau im Morgenrock, klein, rundlich, langer, weißer geflochtener Zopf auf dem Rücken, bis in ihre Loge. Niemand da. Er reißt das Telefonkabel heraus, treibt die Alte zurück zum Hauseingang und hält ihr seinen deutschen Ausweis unter die Nase. »Wohnt hier Benezet?«

Benommen blickt sie auf das Stück gelbe Pappe. Schubs von hinten. »Ja. Im ersten.«

Loiseau dreht sich zu seinen Männern um. »Morandot, du bewachst die Hintertreppe, damit niemand kommt und uns stört. Nur zur Vorsicht. Ihr zwei kommt mit mir.« Er packt die Alte am Arm. »Komm, Oma, du begleitest uns.«

Monumentaler Treppenaufgang, Holzgeländer mit Schnitzereien, dunkle Täfelung, roter Teppich. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock eine einzelne, zweiflüglige Tür. Sturmklingeln. Dann eine wispernde Frauenstimme hinter der Tür: »Wer ist da?«

»Gestapo.«

Ein Aufschrei, ein lautes Klirren. Hinten in der Wohnung knallt eine Tür, Hektik, laute Stimmen. Falicon, ein unscheinbarer flinker Kerl, zerschießt auf ein Zeichen des Anführers das Schloss, die Männer drücken die Tür auf, stürzen in die Diele, die MP auf ein Mädchen im Nachthemd gerichtet, dunkelbrünett, zerzaust, entgeistert, mit nackten Füßen in den Scherben einer riesigen Porzellanvase. Morandot kommt aus dem hinteren Teil der Wohnung, er schleift den leblosen Körper eines jungen Mannes in Unterhose hinter sich her und lässt ihn mitten in der Diele mit dem Gesicht nach unten fallen.

»Wo ist Benezet?«, brüllt Loiseau und schüttelt das Mädchen.

Sie zeigt auf eine Tür. Er stößt sie auf. Ein alter Mann streift sich gerade eine Hausjacke im Schottenkaro über seinen marineblauen Pyjama. Loiseau treibt ihn in die Diele und schubst ihn in die Ecke zu den beiden Frauen, die Concierge murmelt Gebete.

Die vier Gestapomänner betrachten den leblos daliegenden Körper. Loiseau nagt an seiner Unterlippe. Er dreht sich zu dem Alten um. »Der da, wer ist das?«

»Weiß nicht.« Etwas Schaum im Mundwinkel. »Noch nie gesehen.«

Die beiden Frauen nicken.

»Ein Engländer, würde ich meinen«, sagt Morandot. »Jedenfalls schrie er was auf Englisch. Er schlief in einem kleinen Zimmer hinten in der Wohnung. Ist riesig da, und komplett unbewohnt. Er wollte über die Hintertreppe abhauen, da hab ich ihm mit meiner MP eins übergezogen.«

Loiseau kaut nervös auf seiner Lippe. »Irgend so ’n Pennbruder, der war nicht eingeplant, versaut uns nur das Geschäft, lassen wir ihn laufen.«

Falicon tritt zwei Schritte vor, zwischen Loiseau und den Bewusstlosen. »Bin nicht dafür. Wenn er Engländer ist, bringt er eine hübsche Prämie. Und das Mädchen da stinkt vor Angst, das ist ein gutes Zeichen. Gucken wir doch erst mal, was im Tresor ist, bevor wir entscheiden.«

Loiseau verzieht das Gesicht. Falicon, dieser miese, hinterfotzige Westentaschenzuhälter. Der ist cleverer. Eines Tages wird er den Scheißkerl umlegen. Aber bis dahin … Er packt den Alten am Arm, schiebt ihn Richtung Salon, Falicon ihm auf den Fersen. Ein großer, herrschaftlicher Raum, hohe Decke, drei Fenstertüren zur Avenue Henri-Martin, sorgsam verdeckt von langen braunen Samtvorhängen. Er schaltet einen Kristalllüster in der Deckenmitte ein, bei dem die Hälfte der Glühbirnen fehlt. Louis-XV-Mobiliar, zu dicht gedrängt, viel Art-Déco-Nippes, und an den beige-seiden tapezierten Wänden sorgsam gerahmte und gehängte impressionistische Gemälde, Monet, Pissarro, Renoir, Sisley … Loiseau zählt rasch nach. Vierzehn, wie angekündigt. Er durchquert den Salon, den schlurfenden Alten weiter vor sich hertreibend, bleibt vor Boudins Regatta in Honfleur stehen, schwenkt das Bild zur Seite. In der Wand ein Tresor. Er wendet sich zu dem Alten um. »Sie sind illegal im Besitz von Gold. Wie Sie sehen, hat man Sie angezeigt. Wir sind zur Beschlagnahme hier. Öffnen Sie Ihren Tresor.«

Der Alte dreht an den Knöpfen und öffnet ihn seufzend. Ein paar von Gummibändern zusammengehaltene Bündel Briefe und Papiere. Und vier Stoffsäckchen. Nicht dick. Loiseau nimmt sie, wiegt sie in der Hand. Schätzungsweise fünf- bis sechshundert Münzen.

Falicon höhnt: »Doll ist das nicht. Zum Glück haben wir noch den Engländer.«

Zurück in die Diele. Der Mann am Boden kommt zu sich. Morandot hat ihm die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt.

Loiseau richtet sich zu ganzer Größe auf, nagt an seiner Unterlippe. »Wir nehmen alle mit, auch die Concierge. Ab nach Hause in die Rue de la Pompe.«

Auf dem Gehweg dreht sich Morandot noch einmal um. Der große Altbau, dunkle Fenster, geschlossene Läden, sieht völlig unbewohnt aus. Er streicht zärtlich über seine Waffe, hebt den rechten Arm, stützt die MP auf den linken Unterarm und schickt eine kurze Salve zu den oberen Etagen. »Schlaft gut, ihr Lämmer.«

Eine wahrhaft spartanische Dachkammer im sechsten Stock in der Rue d’Assas. Roher Holzboden, geweißte Wände, ein schmales Eisenbett, ein Spülstein, ein Gaskocher, ein kleiner Tisch, ein Schrank, zwei Velourssessel, ein paar Bücher, nur erlaubte Literatur und eine Bibel. Einziger Luxus: eine Fenstertür, die auf einen winzigen schmiedeeisernen Balkon führt, der blassblaue Himmel, von fliehenden weißen und grauen Wolkenfetzen durchzogen, und die je nach Licht ihre Farben und Formen ändernden Dächer von Paris. Domecq, müde nach einer schlaflosen Nacht, die er damit verbracht hat, dem durch die stille Stadt fegenden Wind zu lauschen, hat seinen Sessel vor die offene Fenstertür gerückt, die Füße aufs Balkongeländer gelegt und genießt mit geschlossenen Augen die Morgensonne. Von Zeit zu Zeit trinkt er kleine Schlückchen eines vorzüglichen brühheißen Kaffees, sehr würzig, nicht bitter, konzentriert sich auf diesen Geschmack, der ihn durchströmt, sich dann langsam in seinem Mund verflüchtigt. Ein Päckchen Kaffee, das der Wirt des Capucin, auf anhaltend gutes Einvernehmen mit den Inspektoren von der Sitte bedacht, ihm gestern zugesteckt hat wie jede Woche.

Noch ein Schluck. Am Ende hat es den Krieg und die Besatzung gebraucht, damit ich guten Kaffee schätzen lerne. Plötzlich fliegen irgendwo die Fenster auf, knallen gegen die Hauswand, unbekannte Männer- und Frauenstimmen brüllen: »Die Engländer sind da …«

Domecq richtet sich auf, verschüttet seinen Kaffee, verbrennt sich, beugt sich übers Geländer. Kein Mensch zu sehen. Sechs Stockwerke tiefer liegt die Rue d’Assas ruhig im Sonnenschein.

In der Rue de la Pompe ist der Engländer Mike Owen in eine Art fensterlose Abstellkammer gesperrt, mit Handschellen unten an einen Heizkörper gekettet. Er sitzt mit vorgebeugtem Oberkörper auf dem Boden und horcht auf jedes Geräusch. Im Flur reges Kommen und Gehen, Leute betreten die Wohnung, ein Dutzend verschiedene Stimmen, auch die einer Frau. Gleich nebenan muss das Mädchen sein, von dort kein Laut. Er zerrt an seinen Handschellen – der Schmerz schießt ihm wieder die Arme hoch –, will sich nur vergegenwärtigen, dass er am Leben ist.

Deslauriers hat sich sein Büro in einem kleinen Raum am Ende des langen Flurs eingerichtet, der bestimmt einmal ein Jungmädchenzimmer war: Tapete mit Rosenstraußreihen auf weißem Grund, Fischgrätparkett, sehr wenige Möbel, zwei Metallspinde für die Akten, an einer der Wände ein paar unterschiedliche Stühle. Und auf einem gelb-blauen Teppich ein wuchtiger, kunstvoll geschnitzter Schreibtisch aus dunklem Holz, vier Karyatiden in üppiger Blöße tragen eine große, mit abgewetztem rehbraunem Leder bezogene Schreibplatte. Die Fensterläden der im ersten Stock zur Straße hin gelegenen Wohnung bleiben stets geschlossen, und an diesem Morgen ist der Raum in lichten Schatten getaucht.

Vor dem Schreibtisch aufgereiht stehen starr und stumm die vier Männer von Loiseaus Trupp. Der Boss, groß, massig, zerbeultes breites Gesicht, Nase schon mal gebrochen, Schmarre durch die rechte Braue, das braune Haar sorgfältig mit Pomade frisiert, marschiert von Wand zu Wand, das Jackett seines gut geschnittenen grauen Anzugs offen, Hände in den Hosentaschen, die Augen auf seine hellbraunen englischen Glattlederschuhe geheftet, bloß dann und wann ein kurzer Blick zu seinen Männern, die er nur von hinten sieht. Falicon, dem Fenster am nächsten, ein durchtriebener kleiner Zuhälter, der sich für besonders schlau hält und es vielleicht auch ist, tut so, als blicke er zur Straße hinaus. Neben ihm Martin, rund und wohlgenährt, tüchtiger Malocher, arbeitsloser Anstreicher, kam in die Rue de la Pompe, um die Räumlichkeiten zu reinigen und neu zu streichen, und blieb, Mann für alles, wenn nur die Bezahlung stimmt, nie eine eigene Idee, zieht den Kopf ein, wartet auf das Donnerwetter. Morandot, stämmig, dunkler Typ, bankrottgegangener Bäckermeister, aktives Mitglied der Cagoule, vor dem Krieg eine rechtsextreme Putschistengruppe, schloss sich nach dem Waffenstillstand Doriots Kollaborationspartei an, Antikommunist, scharfer Antisemit, Dienstältester in der Truppe der Rue de la Pompe, hält sich für einen geistigen Führer, Pranken hinterm Rücken verschränkt und Beine gespreizt in der Haltung des Soldaten in Rührt-euch-Stellung. Und schließlich Loiseau, nahe der Tür, der größte von allen, kahler Schädel, stramme Haltung, ewiger Traum: an Stelle vom Boss der Boss sein. Deslauriers brütet vor sich hin. Nichtsnutzige Bande. Haben mich in eine beschissene Lage gebracht, von der diese Idioten keinen blassen Schimmer haben. Und nicht haben sollen. Erst den Ungehorsam bestrafen. Dann sehen wir weiter. Er bleibt stehen, strafft sich.

»Wer hat euch in die Avenue Henri-Martin geschickt?«

Loiseau antwortet: »Der kleine Poncin hatte uns den Tipp gegeben, dass da ein großer Fang mit Goldmünzen zu machen wäre.«

»Und ihr habt von selbst die Initiative ergriffen? Das kaufe ich euch nicht ab. Wer hat euch dorthin geschickt?«

Loiseau schweigt.

»Wer?«

Immer noch nichts. Deslauriers zieht seinen Revolver aus dem Holster, das er praktisch im Rücken trägt, drückt ihn Falicon ins Genick und schießt. Die drei Männer zucken zusammen, stehen starr, Kopf geradeaus, Blicke aus den Augenwinkeln. Der Körper sackt zusammen, schlagartig geschrumpft in zu weiten Kleidern. Langsam bildet sich eine Blutlache bis hin zum Teppich. Deslauriers wirft die Geschosshülse aus, lädt nach.

»Ich frage noch einmal. Wer?«

Martin öffnet den Mund.

»Nicht du, Martin. Ich will’s von Loiseau hören.«

Ein Zittern überläuft Loiseau. »Das ist eine Aktion von Lafont. Er hat nicht mehr viele Männer in der Rue Lauriston, fast alle haben sich der Nordafrikanischen Brigade angeschlossen, um die Terroristen außerhalb von Paris zu bekämpfen. Also wendet er sich an uns.«

Lafont, Chef der Carlingue, der wichtigsten Gruppe französischer Gestapohelfer. Ein gefährlicher Rivale. Mein Revier sichern, meine Autorität gegenüber meinen Männern wiederherstellen, aber Vorsicht. Lafont ist mächtig.

»Und du hast eingewilligt, ohne mit mir zu sprechen?«

»Lafont hat Geheimhaltung verlangt. Wir sollten das Gold und den Alten mitnehmen und das Ganze bis acht Uhr früh erledigt haben. Danach sollten wir einfach wieder herkommen.«

Deslauriers deutet mit der Revolvermündung auf die Säckchen auf dem Schreibtisch. »Dafür?«

Loiseau zuckt die Achseln. »Es sollten mindestens fünftausend Goldmünzen dort sein.«

Deslauriers begibt sich hinter den Schreibtisch, setzt sich in einen hohen Lehnsessel, legt seine Waffe vor sich hin, sieht die drei mit gewohntem Unmut an. »Das Gold behalte ich. Damit ist eure Scharte ausgewetzt. Ihr bekommt eure Prämien für den Engländer, wenn er denn Engländer ist, ihr bekommt sogar die von Falicon. Der Alte gehört mir, und zwar nur mir. Für euch gibt es ihn nicht mehr.« Mit Nachdruck: »Es hat ihn nie gegeben. Ihr zwei schafft euren Kollegen raus, der wird bald unangenehm riechen, und ihr nehmt euch das Mädchen vor. Sie muss etwas über den blinden Passagier in der Avenue Henri-Martin wissen. Der Einzige, der in dieser Angelegenheit für unsere Behörde von Interesse ist, damit das ganz klar ist. Jetzt seid ihr dran. Loiseau, du bleibst hier, ich habe mit dir zu reden.«

Stumm und mit ausweichenden Blicken verlassen die beiden Männer mit dem Leichnam den Raum. Loiseau steht reglos da und wartet.

»Jetzt, wo deine Männer weg sind, sag mir, was du bei Benezet zu suchen hattest.« Nichts geschieht. Deslauriers spielt mit seinem Revolver. »Verkauf mich nicht für dumm.«

»Gemälde. Jemand hatte bei Lafont vierzehn impressionistische Gemälde bestellt, die sich bei dem Alten befanden. Wir sollten ihn und seine Haushälterin wegen illegalem Goldbesitz einbuchten, und Lafont kam und hat die Bilder geholt.«

»Prämie?«

»Eine Million.«

»Und deinen Männern hast du nichts davon gesagt. Eine Million für dich und ein bisschen Klimpergeld für sie. Bei dieser Arbeitsweise wirst du irgendwann hinterrücks abgeknallt.«

Loiseau zieht es vor zu schweigen, blickt unverwandt auf die Blutlache, die inzwischen die Teppichfransen erreicht hat.

»Immerhin habe ich dir Falicon vom Hals geschafft, das gibt dir einen Aufschub. Sieh nach, wie weit sie mit dem Mädchen sind.«

Allein. Er schließt seine Tür ab, öffnet die Klappläden, lehnt sich aus dem Fenster und blickt auf die Straße hinab. Als er sich nach draußen beugt, fällt sein Blick auf die Kastanien in der Avenue Foch, nie waren sie so schön. Dieser Benezet. Ein alter Bekannter, vor dem Krieg einer meiner besten Kunden im Perroquet bleu. Spielt den senilen Alten, der mich nicht wiedererkennt. Persönlich befreundet mit der Hälfte des kollaborierenden Unternehmertums, mit drei Vierteln der Männer der Laval-Regierung und ganz sicher mit Bauer, auch wenn er das mir gegenüber nie erwähnt hat. Und er schreit nicht Zeter und Mordio, als man ihn verhaftet … Er verhält sich unauffällig, hat was zu verbergen. Verwalter einiger amerikanischer Vermögen in Frankreich … Und die Amerikaner heute … Lafont schickt meine Leute zu ihm. Um mich zu belasten und meine Geschäfte an sich zu reißen? Denkbar.

Auf der Straße radeln zwei hübsche Mädchen vorbei. Hinter der Tür Schritte und gedämpfte Stimmen, die Bittsteller drängen sich allmählich im Flur. Das wird den ganzen Tag so bleiben. Keine Zeit, der Sache nachzugehen. Deslauriers schließt die Fensterläden wieder. Was den Engländer betrifft, erzähle ich Bauer, dass seine Festnahme ein Zufall war. Routinekontrolle in leerstehenden Wohnungen. Benezet ist unter falschem Namen eingelocht, jetzt heißt es abwarten.

Mike Owen zuckt zusammen. Im Nebenzimmer ist eine Tür zugeschlagen. Gepolter, unverständliche Worte, herrischer Ton. Ein Zischen, ein scharfer Knall. Owen zerrt an seinen Handschellen. Eine Peitsche, das sind Peitschenhiebe. Noch ein Hieb. Langgezogenes, leises Heulen. Laute Männerstimmen, immer noch unverständlich. Ein Hagel von Peitschenhieben, das Heulen hält an. Wieder ein Hieb, jemand stößt einen Schrei aus. Gepolter, prügeln die sich? Dann schlägt ein Mann unter Keuchen und schrillem Quieken rhythmisch zu. Das Heulen wird lauter, schwillt explosionsartig an, bricht dann jäh am höchsten Punkt ab. Ein Mann wimmert, schluchzt. Gepolter, dann gehen die Männer hinaus in den Flur, reden durcheinander. Mit seinem ganzen Gewicht beugt sich Owen nach vorn, hängt sich schwer in seine gespannten Handschellen, spürt einen stechenden Schmerz bis hoch in die Schultern schießen, zerrt stärker, schleichender Schwindel, und sackt bewusstlos zusammen.

Deslauriers öffnet einen der Metallspinde und streicht sich vor einem mannshohen Spiegel an der Türinnenseite das Haar glatt, steckt den Revolver zurück, knöpft das Jackett zu, überprüft den korrekten Sitz von Anzug und Krawattenknoten, runzelt die Stirn, als er den Todesschrei hört. Noch ein Fehler von Loiseau. Der mir in diesem Fall gelegen kommt, keine Spuren bezüglich Benezets Verschwinden. Ich werde mit ihm abrechnen müssen. Ein andermal. Er schließt den Spind wieder und tritt hinaus in den schwach erleuchteten Flur, wo an der Wand die Bittsteller des Tages auf Bänken sitzen und auf ihn warten.

Die erste, Geneviève Fath, hinreißend in einem weißen Kleid mit roten Blumen, Bolero mit Puffärmeln in einem dunkleren Rot, auf dem blonden, zum Chignon hochgesteckten Haar ein weißes, schräg in die Stirn gezogenes Hütchen mit Schleier aus besticktem Tüll, steht auf, tritt hastig ein Stück zurück, um Loiseau vorbeizulassen, blutbespritzter nackter Oberkörper, Jacke über die Schultern gehängt, am ganzen Körper zitternd, verstörter Blick, gestützt von seinen beiden Männern. Die Gruppe stürmt ins Badezimmer. Geneviève Fath betritt Deslauriers’ Büro, der ihr die Hand küsst, ehe er ihr einen Stuhl heranschiebt. Sie setzt sich seitlich darauf, schlägt die seidenbestrumpften Beine übereinander, um nicht mit der blutgetränkten Teppichstelle in Berührung zu kommen, streift ihre weißen Handschuhe ab und befördert gekonnt ihren Schleier auf die Hutkrempe.

»René, ich brauche dich.«

Breites Lächeln. »Sonst wärst du nicht hier. Dies ist kein vergnüglicher Ort.«

»Heute in aller Frühe hat mir mein Expedient mitgeteilt, dass meine gesamte Lieferung festgehalten wird.«

»Du weißt, dass heute Nacht einiges passiert ist …«

Sie ignoriert diese Bemerkung und fährt fort: »Ungefähr fünfzig Kleider aller großen Pariser Modehäuser mitsamt ihren Accessoires, die nach Monaco geliefert werden sollen. Kannst du nicht einen Passierschein für mich erwirken?«

Deslauriers schiebt ihr einen Block und einen Kugelschreiber hin. »Schreib Telefonnummer und Adresse deines Expedienten auf. Ich werde sehen, was ich tun kann. Versprechen kann ich nichts. Viele Strecken sind lahmgelegt, und die anderen sind voll ausgelastet mit Militärtransporten. Fünf Prozent des Warenpreises bei Lieferung.«

Geneviève Fath erhebt sich, groß und gertenschlank auf ihren hohen Absätzen, lächelt, lässt ihren Schleier mit geübter Geste wieder hinab, streift ihre Handschuhe über.

»Abgemacht. Sieht man dich heute Abend bei Dora Belle?«

»Im Prinzip ja.«

Auf ein Zeichen von Deslauriers nimmt Letœuf mit unterwürfiger Miene und Schiebermütze in der Hand Platz, nachdem er den Stuhl, auf dem vor wenigen Minuten noch Geneviève Fath saß, an einen anderen Platz gestellt hat, um sich diskret von der Blutlache zu entfernen. Deslauriers bleibt stehen, Hände in den Hosentaschen. Wie Falicon, der ihn in der Rue de la Pompe eingeführt hat, ist dieser Letœuf ein kleiner Zuhälter, verachtenswert, aber ein guter Spitzel, stets umfassend informiert und loyal.

»Ich hab da was außer der Reihe.«

»Ich höre.«

»Das kleine Château der Goulds in Maisons-Laffitte …«

Deslauriers ist sofort hellhörig. Florence Gould hält den berühmtesten literarischen Salon in Paris. Sie schläft mit allen Gästen, den französischen Schriftstellern wie den Wehrmachtsoffizieren. Aber Gould, das ist auch Franck Jay, ihr Ehemann, ein alter amerikanischer Milliardär, der an der Côte d’Azur lebt. Und die Amerikaner heute …

»Red weiter, ich höre immer noch zu.«

»Es wird nur vom Hausmeisterpaar bewohnt. Sie haben Erlaubnis erhalten, zur Hochzeit ihres Sohnes für eine Woche in den Süden zu fahren, morgen reisen sie ab, und ihre Nichte springt für sie ein, ein nettes Mädchen, das hin und wieder für mich arbeitet und mir die Schlüssel geben wird, bevor sie von der Bildfläche verschwindet. Im Keller sind hunderttausend Flaschen, ich habe sie gesehen, sie hat mich durchgeführt. Und nicht irgendwas, nur große Weine und edler Champagner. Meiner Schätzung nach ist das mindestens ein Zehn-Millionen-Geschäft.«

»Warum kommst du damit zu mir? Um Champagner auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, brauchst du mich nicht.«

»Die Sache ist zu groß. Dafür habe ich nicht die Mittel und nicht die Kundschaft. Lieber kassiere ich eine Provision auf zehn Millionen, als dass ich ein paar Dutzend Flaschen selbst verkaufe.« Letœuf rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Deslauriers wartet. Mit gesenkter Stimme: »Danach will ich heim in die Charente, Monsieur Deslauriers.«

Deslauriers dreht Letœuf den Rücken zu, lehnt sich ans Fenster. Unten die Straße, sonnig und ausgesprochen ruhig. Ein paar Fußgänger, Fahrräder, hie und da ein Trupp deutscher Soldaten, ein Auto. Wie überhaupt ganz Paris. Die Landung der Alliierten, von der heute früh im Radio die Rede war, scheint auf einem anderen Planeten stattzufinden. Scheint … Ungewisse Zukunft. Brauche Bargeld, habe aber keins. Ein großer Weinkeller, 100 000 Flaschen, da sind zehn Millionen das Mindeste. Eher schon zwanzig. Er wendet sich wieder Letœuf zu.

»Ich mach’s. Aber zehn Millionen bringt das nicht. Die Hälfte, wenn überhaupt. Die Geschäfte werden sich in den nächsten Tagen schwierig gestalten. Komm morgen wieder, dann sage ich dir, wie wir’s machen.« Letœuf steht auf. »Apropos, weißt du, wo Falicons Mädchen zu finden sind?«

Er wirkt überrascht, zögert ein wenig, dann: »Im Capucin. Rose und Angélique. Ist Falicon etwas zugestoßen?«

Deslauriers antwortet nicht und schiebt ihn zur Tür.

Der Nächste. Clerget, der Großindustrielle und Schuh-König. Schwarzhandel und illegale Lieferungen. Routine. Die Langeweile siegt.

Später Nachmittag. Mike Owen, immer noch in Unterhose, auf der Rückbank eines Citroën zwischen Loiseaus zwei Männern eingekeilt, wird zu einem unbekannten Ziel gefahren. Einschnitte an den Handgelenken und im Kopf das Bild vom flüchtig erblickten Leichnam des Mädchens, an den Füßen aufgehängt, Beine gespreizt, von der Leiste bis zur Bauchmitte ein blutiger Spalt, wie von einer Axt. Lähmende Angst. Mein Gott, hab Erbarmen mit mir. Der Wagen biegt in die Avenue Foch ein, hält vor der monumentalen Fassade des Gebäudes, in dem der Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS untergebracht ist. Dieses Gebäude kenne ich. Im Zentrum des Systems, im Zentrum des Schreckens. Die beiden Männer befördern ihn aus dem Wagen. Und vollkommen allein. Das Mädchen ist tot. Sie hat nicht geredet. Der an der Decke aufgehängte gefolterte Leichnam … nicht geredet … die Schreie … nicht geredet. Als die beiden französischen Gestapomänner an der weit geöffneten Tür des Zimmers vorbeikamen, wo sie hing, haben sie gehöhnt: Der Alte ist auch tot, aber der hat nicht so lange durchgehalten. Also sind sie beide tot, keiner hat geredet, keiner weiß mehr, wer du bist. Das eröffnet Möglichkeiten. Du bist am Zug. Spiel um dein Leben.

Im fünften Stock hat sich Otto Bauer vor der Tür seines Büros ganz am Ende des Flurs postiert und wartet auf den Gefangenen, den Deslauriers ihm schickt. Groß, breite Schultern, schmale Hüften, flacher Bauch, ebenmäßiges, ovales Gesicht mit feinen Zügen, zurückgestrichenes blondes Haar, hohe Stirn, große braune Augen, schmale Nase, markanter Mund mit hängenden Mundwinkeln, er hält sich sehr gerade in seiner bis zum Kinn geschlossenen SS-Hauptsturmführeruniform und den tadellos gewichsten Stiefeln. Ein schöner Tag. Die Landung der Alliierten, endlich. Wenn auch in gewissem Grade überraschend. Seit über einem Jahr hat man Tag um Tag so sehr darauf gewartet, so viel darüber geredet, dass schließlich niemand mehr daran geglaubt hat. Auf dem Boulevard de l’Amiral-Bruix den Panzern begegnet, die an die Front fuhren. Die jungen Besatzungen erstrahlten in vollkommener Schönheit angesichts des nahenden Todes. Erinnerungen an die Kämpfe vom September ’39 kommen wieder hoch. Im Flugzeug, eng aneinandergedrückt, bevor wir mit dem Fallschirm hinter den polnischen Linien abgesetzt wurden, tauschten wir Blicke, schwiegen miteinander. So heiter, so lebendig wie nie. Diesen Krieg habe ich geliebt. Wehmut. Gewissheit. Die entscheidende Schlacht hat begonnen, der Gefechtsgeruch kommt näher. Bei den SS-Hilfskräften spürt man die steigende Aggressivität. Nur der Führungsstab der Wehrmacht klingt ein wenig hohl, uneins, zögerlich. Aber die deutschen Soldaten werden kämpfen, wie sie zu kämpfen verstehen, tüchtig, bis in den Tod. Und das immer noch ruhige Paris gibt die teilnahmslose Schöne und geht an diesem ungetrübten Spätfrühlingstag ohne Anschlag und Alarm seinen Geschäften nach. Hass weht ihn an.

Zwischen zwei SS-Leuten erreicht der Gefangene das Ende des Flurs. Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Jung, groß, gut gebaut, zerzaustes braunes Haar, kantiges Gesicht. Eher Amerikaner als Engländer, würde ich sagen. Absolvent einer der großen Ostküsten-Universitäten? Direkter Blick, forscher Schritt, und die Andeutung eines Lächelns. Eine Beute, die noch lebt. Bauer atmet schneller, stoßweise, die Nase zuckt.

Sie stehen sich in Bauers Büro gegenüber. Blicke. Owen spricht als Erster, in perfektem Französisch.

»Sie sind Hauptsturmführer Bauer vom Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS, Abteilung wirtschaftlicher Nachrichtendienst Ausland.«

Schock. Bauer bemüht sich, ruhig und tief zu atmen.

»Und Sie?«

»Hauptmann Owen vom Geheimdienst der US-Armee. Ich mache den gleichen Job wie Sie, praktisch in der gleichen Abteilung …«

Jung, schön, beinahe mein Zwilling. Lass ihn reden, aus einem noch unbekannten Grund steht ihm der Sinn danach.

»… und ich habe die gleiche Kundschaft. Ich werde bei den französischen Unternehmern vorstellig, die von Ihnen bezuschusst werden …

Die rechte Gerade kommt mit voller Wucht, unterbricht beim Aufprall auf Kinn und Unterlippe Owens Luftzufuhr, der benommen umkippt. Es hagelt Tritte in sein Kreuz.

»Hoch mit dir, los.«

Er schafft es mit großer Mühe, sich aufzusetzen, dann hinzustellen, aufgeplatzte Lippe, Blut rinnt über seinen nackten Oberkörper. Überleben. Bauer ist hinter ihn getreten und umschließt Owens Hals mit seinen langen, knochigen Händen.

»Wir mögen den gleichen Job machen, aber wir sind nicht in der gleichen Position.«

Angespannt hält Owen still. Die Schlagader pulsiert schnell und kräftig unter Bauers Fingern, der langsam zudrückt, pulsiert immer kräftiger, in immer größeren Abständen, dann ein Krampf, und das Leben pulsiert nicht mehr, der Körper wird schlaff, sehr schwer, Bauer drückt noch einen Moment lang zu, lässt dann los. Owen sackt zu Boden.

Bauer sieht zu, wie langsam wieder Leben in ihn kommt. Geht in die Hocke, packt den Kopf an den Haaren, bringt ihn nah vor sein Gesicht, streift den blutverschmierten Mund mit seinen Lippen, flüstert: »Ich gebe dir genau eine Chance, dein Leben zu retten. Von mir aus kaufe ich dir deine Lügenmärchen ab. Aber das hat seinen Preis. Verrate mir die Organisation, die dich nach Paris gebracht hat. Jetzt.«

Das schwarze Korps

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