Читать книгу Das schwarze Korps - Dominique Manotti - Страница 14
Freitag, 9. Juni
ОглавлениеDie Alliierten haben zwei künstliche Häfen errichtet, eine Pipeline durch den Ärmelkanal gelegt, die Stadt Bayeux genommen und einen 50 Kilometer langen Landstreifen erobert, der 10 bis 15 Kilometer weit ins Landesinnere reicht. Die deutschen Truppen leisten überall sehr starken Widerstand, insbesondere in der Gegend um Caen. Die für den ersten Landungstag gesteckten Ziele sind immer noch nicht erreicht.
Von den für den Tag der Landung geplanten 1050 Sabotageakten (Telefonleitungen, Eisenbahnschienen, Brücken usw.) hat der innerfranzösische Widerstand 950 ausgeführt. Sabotageakte und Bombardierungen behindern das Vorankommen deutscher Truppen- und Munitionstransporte erheblich. Die 11. Panzerdivision, die innerhalb von acht Tagen von der Ostfront nach Straßburg verlegt wurde, wird 23 Tage brauchen, um die Normandiefront zu erreichen. Die SS-Panzerdivision »Das Reich« benötigt 17 Tage, um aus dem Raum Toulouse an die Normandiefront zu gelangen.
Loiseau sitzt in kurzärmeligem Hemd und Drillichhose zwischen zwei Sträuchern auf der grasbewachsenen Böschung. Er beißt auf seiner Lippe herum, bis sie blutet. Die Nacht ist mild. Zu seinen Füßen laufen zwei schmal zwischen den Hochebenen liegende Täler zusammen. An jedem der Talflüsse verläuft eine Straße, und wo sie sich treffen, ist ein Dorf. Kaum fünfzig Bauernhäuser, weißer Stein und schräge Ziegeldächer, reihen sich mitsamt ihren rückwärtigen Gärten entlang der Straße. In dem Garten, der ihm am nächsten ist, erkennt Loiseau deutlich Bohnenstangen, ein Tomatenbeet, ein Dutzend Obstbäume. Der Geschmack von mittags in praller Sonne vom Baum gepflückten Kirschen steigt ihm in den Mund. Er bekommt eine Erektion. Reibt sich die Augen, die Wangen, wie um wach zu werden. Tief in den Tälern ist es finster und still. Morandot und Martin werden von Norden und Nordwesten her kommen, auf den Straßen von Méru und Gisors. Und Genet von Süden her, auf der Straße von Paris. Genet, der kleine Neue, der diesen Vollidioten Falicon ersetzt, lebloser Haufen vor dem mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch. Deslauriers … Trockene Kehle. Hinter ihm auf der Hochebene schreit ein Nachtvogel. Er steht auf. Zieht seine Hose zurecht, um Platz zu schaffen für seinen zusammengedrückten Sack, sein erigiertes Glied. Vertritt sich die Beine. Feuchte Hände. Blickt auf die Uhr. Zwei Minuten vor Mitternacht. Im Norden wird eine Fackel entzündet, eine weitere im Süden. Jetzt.
Mit festem Schritt stürmt Loiseau den Hang hinab, auf den runden Dorfplatz zu, wo die Straßen sich treffen und das Kriegerdenkmal steht, auf der einen Seite das Rathaus, auf der anderen die Schule. Loiseau hat sich die Schule ausbedungen.
Bewaffnete Männer holen eilig die Bewohner aus ihren Häusern, mit Fußtritten, Kolbenhieben, Schüssen, und treiben sie unter strenger Bewachung auf den Dorfplatz. Kaum Schreie, kein Aufbegehren, panisches Entsetzen.
Loiseau ist durch den Klassenraum im Erdgeschoss in die Schule eingedrungen, ordentlich aufgeräumt, schwarze Tafel. Er steigt mit der Pistole in der Hand in großen Sätzen etwas kurzatmig in den ersten Stock, trifft oben an der Treppe auf einen Mann im Schlafanzug, erschießt ihn, läuft ins Schlafzimmer, eine Frauengestalt sitzt auf dem Bett, weit aufgerissene Augen, offener Mund, stumm, reglos, wirft sich auf sie, schlägt sie mit einem Kolbenhieb bewusstlos, presst ihr mit einem Arm das Kopfkissen aufs Gesicht, öffnet mit der anderen Hand hastig den Reißverschluss seiner Hose und kommt, noch während er in sie eindringt. Im Nebenzimmer weint ein Baby, unerträgliches Geschrei. Verstört bringt Loiseau seine Kleider in Ordnung, packt das Baby am Bein und schleudert es aus dem Fenster, das Geschrei hört auf. Jetzt fühlt er sich klarer im Kopf. Steigt in den Keller hinab, macht Licht. Eine Reihe Benzinkanister, wie von Morandot angekündigt. Er verteilt die Kanister, kippt sie aus, wickelt Zündschnur ab bis hoch ins Erdgeschoss, steckt sie an, kehrt dann zu den gefangenen Dorfbewohnern und ihren Bewachern auf den Platz zurück.
Morandot führt die Gruppe der Möbelpacker an, die von Méru her kommt, gefolgt von zwei Planenlastwagen. Er zeigt zuerst auf das Haus von Lanternier, dem stellvertretenden Bürgermeister, praktisch ein Analphabet und Besitzer der größten Herde im Dorf, und lotst seine Männer direkt zum Keller. Hinter einer von leeren Lattenkisten verdeckten Tür die in Fässern gelagerten Buttervorräte, Kanister mit Milch, Käselaibe in Regalen. Binnen Minuten ist alles in die Lastwagen verladen. Oben im Haus schleppen die Männer Leinenwäsche weg, kippen Schubladen aus, lassen ein paar edle Tropfen mitgehen. Man kann sich nicht lange aufhalten. Schon dirigiert Morandot sie zum Haus der alten Blanchot, das kleinste im Dorf, ganz mit wildem Wein bewachsen. Er hat den Hühnerstall entdeckt, rund dreißig Hühner, die geköpft werden wollen, im Halbdunkel, inmitten von Federn und schrillem Gegacker. Die Männer lachen und drängen mit hochgekrempelten Ärmeln heran, Kindheitserinnerungen werden wach. Und in der Anrichte im Esszimmer stehen etwa fünfzig Flaschen Obstler, die in Paris ein Vermögen wert sind. Dann das Haus von Vauvert und das der Petitots. Die Laster immer hinterher.
Schließlich gelangt Morandots Kolonne auf den Dorfplatz, wo sie sich mit der von Martin zusammenschließt, die die Straße von Gisors heruntergekommen ist. Als die auf dem Platz zusammengepferchte kleine Schar in Schlafanzügen und Nachthemden sie eintreffen sieht, macht sich Unruhe breit. Die beiden da kennen wir doch. Den einen mit den schwarzen Knopfaugen, den muskelbepackten Armen, den kräftigen Arbeiterhänden, und den anderen, etwas rundlich, beginnende Glatze, rötlicher Schnauzer, ein netter Kerl, etwas einfältig, beide angeblich Arbeiter in einer Metallfabrik in Aubervilliers, kamen zwecks kleiner Schiebergeschäfte hergeradelt, um ihre Werkskantine mit Lebensmitteln zu versorgen, zweitägige Geheimverhandlungen, hier ein Gläschen, da ein Gläschen. Und jetzt Gestapo, sagt einer der Dorfbewohner, der die Ausweise an den Windschutzscheiben der Lkws erkannt hat. Waren bloß als Maquisards verkleidet, bestätigt die alte Blanchot. Ruhe, brüllt einer der Bewaffneten und feuert eine Salve in die Luft.
Jetzt trifft auch der dritte Trupp ein. Loiseau steht auf den Stufen des Rathauses und überwacht das Ganze. Die Operation ist beendet. Die Lastwagen ordnen sich zu Kolonnen, Fahrtrichtung Paris. In der brennenden Schule kommt es zur Explosion, die Flammen schlagen tosend bis zum Dach empor. Die Männer drängen in die Lastwagen. Die drei Truppführer geben ihnen Deckung, indem sie ihre Maschinenpistolen auf die Menge richten, die grollt und zittert. Morandot eröffnet das Feuer, Martin, gegen ein Lkw-Rad gelehnt, die Hand um den Kolben der Waffe geklammert, betrachtet die Szene, schießt aber nicht. Hat noch nie getötet. Eiskalt die MP in seiner feuchten Hand. Gebannt sieht er zu. Die Kugeln bohren sich in die Menge, die Wucht der Einschläge spritzt sie auseinander. Menschen rennen auf die Häuser zu, Körper brechen im Zeitlupentempo zusammen, in zu Einzelbildern aufgelösten Bewegungen. Schreie, tosendes Feuer, durchsetzt mit dem Lärm der MP-Salven. Dann gleitet seine Hand zum Abzug, drückt ab. Zu voller Größe aufgerichtet und breitbeinig hat er die ruckende Waffe im Griff, auf den Lippen ein unbestimmtes Lächeln, erleichtert, befreit. Oben im Dorf bricht ein zweiter Brand aus. Morandot und Martin hören auf zu schießen und springen in die anfahrenden Lkws. Beim Verlassen des Dorfs nimmt ein Mann, der eben den ersten Schluck aus einer Flasche der alten Blanchot getrunken hat, das Ortsschild unter Beschuss: Mortemart.
Als Loiseau bei Deslauriers erscheint, ist er gewaschen, umgezogen und sorgfältig gekämmt. Er wirkt fast entspannt, und das ist selten.
»Wie das Dorf heißt, wussten wir nicht, aber anhand der Angaben von Hauptsturmführer Bauer haben wir die Organisation, die die Fallschirmspringer aus England und ihre Ausrüstung in Empfang genommen hat, identifiziert und zerschlagen.«
Schweigen. Ende des Berichts? Deslauriers, ans Fenster gelehnt, lächelt. »Kann ich ein bisschen mehr erfahren?«
»Das Gebiet, das Hauptsturmführer Bauer im Visier hatte, war der südliche Vexin français.« Deslauriers nickt. »Wir haben die Hochebenen abgesucht und ziemlich schnell ein Fallschirmabsprunggelände entdeckt. Daraufhin haben wir unter dem Vorwand von Schwarzmarktgeschäften Agenten in die drei nächstgelegenen Dörfer eingeschleust. Und dank der Schwatzhaftigkeit einiger Personen haben wir die Namen der Anführer der Organisation erfahren.«
»All das in zwei Tagen?«
Gelassen: »Es war das Lehrerehepaar im Dorf Mortemart.« Er hält einen Moment inne. Deslauriers verdreht die Augen, Loiseau, aus dem Dienst entfernter Grundschullehrer, hat auf ewig eine Rechnung mit seinem Berufsstand offen, aber er sagt nichts. »Also haben wir letzte Nacht eine Razzia in dem Dorf veranstaltet. Bei den Lehrern fanden wir die Signallichter, englische Zigaretten und ein Radiofunkgerät. Wir haben das Ehepaar vor den Augen des gesamten Dorfes erschossen, und ihr Haus wurde niedergebrannt. Die Informationen von Hauptsturmführer Bauer haben sich bestätigt, und das ist ein Sieg über die Terroristen, den errungen zu haben wir stolz sind.«
»Hast du deinen Bericht auswendig gelernt?«
Loiseau, merkwürdig ruhig und selbstsicher, streichelt mit den Fingerspitzen die Brust einer der Schreibtischkaryatiden und antwortet nicht.
Deslauriers blickt zur Straße hinaus. Sonne, Ruhe. Ein Satz will ihm nicht aus dem Kopf: Ich glaube kein Wort, und ich pfeif drauf. Ich glaube kein Wort, und ich pfeif drauf.
Bauer wird entzückt sein. Er kann weiter mit seinem Amerikaner spielen, und mehr verlangt er nicht. Dann: Dieser Frühling ist der schönste, den ich in Paris erlebt habe … Stopp. Dreht sich um.
»Sehr gut. Ich werde deinen Bericht noch etwas ausschmücken und ihn dann an Hauptsturmführer Bauer weiterleiten, der hochzufrieden sein wird. Mach mir eine Liste der Männer, die bei der Expedition dabei waren, ich sorge dafür, dass sie bezahlt werden.«
Gegen Mittag geht Domecq ins Capucin in der Rue Blanche. Die Bar ist noch geschlossen, und im Keller ist man mit Saubermachen beschäftigt. Der Wirt steht hinter der Theke und ist dabei, seine Flaschen zu zählen und die Kasse zu kontrollieren.
»Tag, Inspecteur. Was darf ’s sein?«
»Kaffee, danke.«
»Doch wohl mit einem Schuss Cognac …«
»Von mir aus auch mit Cognac.«
»Ich trink einen mit, aber ohne Kaffee.«
Der Wirt unterbricht das Schweigen nicht, trinkt in kleinen Schlucken und wirft hin und wieder einen Blick zu Domecq, der nicht von seiner Tasse aufsieht. Dann: »Angélique ist nicht mehr hier.« Domecq zeigt keine Reaktion. »Letzten Sonntag war Deslauriers da und hat Falicons Mädchen abgeholt, Angélique und Rose. Kein Wort der Erklärung, keine Entschädigung. Und ich sitze in der Scheiße, wenn die Kunden kommen.« Beugt sich zu Domecq, halb spöttisch: »Wenn du zum Schuss kommen willst, musst du noch mal wiederkommen, Inspecteur.«
Das Wetter ist sehr schön, schon ein wenig heiß. Der Tisch ist im Sommer-Esszimmer im Gartengeschoss gedeckt, die Türen zu Terrasse und Garten stehen weit offen. Ein runder Tisch, weißes Tischtuch, drei Gedecke, rot-weißes Porzellangeschirr, Kristallgläser, Silberbesteck. In der Mitte ein Strauß roter und weißer Orchideen. Auf der Anrichte steht unter schützenden Glasglocken ein kaltes Mahl für drei Personen bereit. Im Garten betätigt sich Dora Belle im Schatten einer Linde. Mit Gummihandschuhen und einer großen Gartenschere gerüstet, schneidet sie hier und da eine verwelkte Rose ab, liest ein paar vertrocknete Blätter auf. Sie ist ganz in Weiß, trägt eine Bluse, die einen großen Teil der Schultern unbedeckt lässt, eine weite Leinenhose, flache Sandalen und auf dem Haar einen großen Strohhut.
Im Erdgeschoss klingelt es. Dora entledigt sich des Huts und der Gartenhandschuhe, legt alles in der Orangerie ab, aus der die Betten wieder entfernt sind, mit der sie beim Fest am 6. Juni vollgestellt war, und geht hinauf, um ihren Gast Pierre Laval zu empfangen. Dora kennt ihn seit langem. Vor dem Krieg war er Stammkunde im Perroquet bleu, und sie mochte ihn nicht. Er hielt sich stets viel auf seine Eleganz zugute, aber Dora fand ihn immer vulgär in seinen Anzügen mit den gepolsterten Schultern, den weißen Hemden und weißen Krawatten, gedrungene Gestalt und verschlagenes Lächeln. Doch sie geht mit einem professionellen Strahlen auf ihn zu. Er küsst ihre Hand.
»Herr Präsident, es ist mir eine Ehre, Sie hier zu empfangen …«
»Gnädige Frau, ich bin es, der sich geehrt fühlen darf, eine große Schauspielerin wie Sie zu begrüßen.« Sie nimmt ihm Hut, Stock und Handschuhe ab. »Sie wissen, welch großes Interesse ich unserem Film entgegenbringe.« Sie geleitet ihn zur Treppe. »Und folglich Ihnen, deren glühender Bewunderer ich bin.« Sie führt ihn hinunter ins Esszimmer. »Wann haben wir das Vergnügen, Sie wieder in unseren Kinos zu sehen?«
»Ich drehe zurzeit nicht. Es herrscht eine gewisse Flaute … Champagner, Herr Präsident?«
»Gern.«
Dora füllt zwei Gläser. Sie gehen ein paar Schritte im Garten, Dora spricht über ihre Blumen. Erneutes Klingeln. Deslauriers, der wie immer gelangweilt wirkt. Laval und er geben sich reserviert die Hand. Dora lässt sie allein auf der Terrasse stehen, nebeneinander, dem Garten zugewandt, und macht sich im Esszimmer zu schaffen, überprüft den gedeckten Tisch, füllt das Wasser in den Vasen auf, richtet eine Blume. Hin und wieder wirft sie einen Blick zu den beiden Männern, Deslauriers, groß, breit, aufrecht, und der kleinere Laval, leicht gebeugt, vorgereckter Kopf.
»Vor zwei oder drei Tagen wurde Monsieur Benezet verhaftet.« Deslauriers verzieht keine Miene. »Einer meiner allerbesten Freunde.« Immer noch keine Reaktion. »Ich bin hier, um Sie zu bitten, Ihr Möglichstes zu tun, damit er freigelassen wird.«
»Warum wenden Sie sich an mich? Wir kennen uns doch kaum …«
»Bei den französischen Polizeibehörden weiß niemand, wo er gefangen gehalten wird.« Ein Moment vergeht. »Ich habe Henri Lafont davon erzählt …«
Rückblende: Laval und Lafont, der Regierungschef und der Gestapomann, essen gemeinsam, duzen sich, sind dicke Freunde, Spießgesellen, Komplizen. Eine Falle?
»Der Lafont, mit dem Sie befreundet sind.«
»Genau. Und er hat mir geraten, Sie aufzusuchen. Er meint, nur Sie wüssten, wo sich Benezet befindet. Ich bin zu einem Handel bereit.«
Konstatiere: Der große Lafont, der glaubte, über Paris zu herrschen, hat die Lage immer weniger im Griff. War klug, Benezet vorsorglich unter falschem Namen einzusperren. Jetzt, mit Loiseaus Bericht, hat Bauer freie Hand. Du wirst zahlen, du armseliges Würstchen.
»Fünf Millionen.«
Laval zuckt zusammen. »Das ist eine … enorme Summe. Ich dachte, dass unter Franzosen …«
Deslauriers, nunmehr belustigt: »Mal im Ernst, Herr Präsident. Ihr Freund hat einen amerikanischen Offizier in seiner Wohnung versteckt. Das ist in Zeiten wie diesen sehr kompromittierend. Ich habe Hauptsturmführer Bauer nichts davon gesagt, was Ihrem Freund vermutlich das Leben gerettet hat. Ihnen liegt an ihm. Und ich kann mir ziemlich gut vorstellen, warum. Amerikaner stehen dieser Tage hoch im Kurs.« Eine Pause. »Aber natürlich nicht bei Hauptsturmführer Bauer.« Erneute Pause. »Kurz: Fünf Millionen, und Sie bekommen ihn von mir in aller Diskretion zurück. Wenn nicht, übergebe ich ihn Bauer.«
Laval macht ein paar Schritte in den Garten, schleudert sein Champagnerglas in ein Blumenbeet, kehrt in Richtung Deslauriers zurück und stößt im Vorbeigehen hervor: »Morgen haben Sie das Geld.« Dann betritt er das Esszimmer. »Ich kann unmöglich bleiben, gnädige Frau … Meine Tage in Paris sind derart ausgefüllt … Nehmen Sie es mir nicht übel …«
Dora schenkt ihm ein breites Lächeln und geleitet ihn ins Erdgeschoss zur Tür. Geht wieder hinunter. Deslauriers steht immer noch reglos auf der Terrasse.
»Den wären wir los.«
»Ich verschwinde auch, Dora. Für ein Tête-à-tête bist du mir eine zu gefährliche Frau.«
Dora hat sich nicht umgezogen. Sie hat sich lediglich eine sehr weitmaschige Baumwollstrickjacke über die Schultern geworfen. Im Boudoir im ersten Stock, ein ganz in Rosa und Weiß gehaltenes Schmuckkästchen, Louis-XV-Sessel und Klavier, spielt sie mit Domecq Dame. Dessen klarer blauer Blick unter den dichten schwarzen Brauen fixiert das Spielbrett, dann Doras Gesicht, als entschlüssele er dort seine Strategie. Vergeblich. Das zur Straße hin gelegene Fenster ist geöffnet, der späte Nachmittag ist drückend heiß, und die Tür des kleinen Boudoirs, die zur Treppe und zum Flur führt, steht ebenfalls offen, um Durchzug zu machen.
Neben dem Spielbrett eine Flasche Champagner und zwei halbvolle Gläser sowie ein Tablett mit Petits Fours, vor Zucker blitzenden Fruits déguisés, Makronen, Törtchen, bei denen Domecq munter zulangt.
»Der Konditor vom Ritz lässt sie mir bringen. Vermutlich, um sich Bauer warmzuhalten, als hätte ich irgendwelchen Einfluss auf ihn.« Im Takt ihrer Worte putzt sie in einem vernichtenden Spielzug alle Domecq noch verbliebenen Steine weg und lacht. »Drei Partien zu null, Fortschritte machst du keine.«
Domecq steht auf, Hemd und Hose khakibraun, ziemlich zerknittert, reckt und streckt sich. Sie betrachtet ihn erstaunt.
»Wie stellst du es an, bei dem, was du verdrückst, so schlank zu bleiben?«
Domecq muss laut lachen. »Ganz einfach, wie jeder hier in der Stadt komme ich vor Hunger fast um, wenn ich mich nicht gerade bei dir vollstopfe.«
»Laval war heute zum Mittagessen hier.« Der vor ihr stehende Domecq stockt in seiner Bewegung. Sie nimmt eine Zwetschge mit Marzipanfüllung, beißt langsam hinein, leckt sich die Fingerspitzen. Kostet diesen Moment aus, in dem sie ihn in der Hand hat. Und er lässt sie das Tempo bestimmen, den Augenblick genießen, das ist seine Art, sie zu achten. »Er wird René fünf Millionen zahlen, um einen gewissen Benezet freizubekommen, ein Freund von ihm, der verhaftet wurde, weil er einen amerikanischen Offizier bei sich einquartiert hatte.« Unschlüssig, dann Erdbeertörtchen. »Benezet, das sagt mir irgendwie was. Er muss vor dem Krieg häufiger im Perroquet bleu gewesen sein.«
Auf der Straße Schreie, Tumult. Domecq tritt ans Fenster. Auf dem Gehweg eine Gruppe von vier Männern, die einen sich heftig zur Wehr setzenden Mann in Handschellen und mit blutverschmiertem Gesicht prügeln, schleppen, mit sich schleifen. Ein letzter Revolverhieb schlägt ihn bewusstlos, und die Gruppe verschwindet eilig ein paar Häuser weiter im Eingang von Nummer 3a an der Place des États-Unis.
Domecq wendet sich wieder Dora zu. »Stört es dich nicht, so dicht bei Lafonts Gefängniszellen zu wohnen und regelmäßig zu sehen, wie unter deinen Fenstern Menschen in den sicheren Tod gehen?«
Dora steht auf, schließt das Fenster. Das Spiel der weiten Baumwollmaschen auf ihren Schultern, ihren Armen, der Schattenwurf auf ihrer Haut, perlrosa, perlgrau.
»Manchmal verstehe ich dich nicht.« Die weit geöffneten emailleblauen Augen wirken riesig in ihrem Gesicht, nehmen ihm das Runde, machen die Züge hart. »Findest du deine Bemerkung in diesem Haus nicht deplatziert? Und unnötig aggressiv mir gegenüber?«
Die Haustür fällt ins Schloss, Fußtrappeln auf der Treppe, Ambre in der Uniform der Klosterschülerin des Couvent des Oiseaux, marineblauer Plisseerock, hellblaue Hemdbluse, weiße Kniestrümpfe, bleibt auf der Schwelle zum Boudoir ruckartig stehen. Schön. In gewisser Weise das Abbild ihrer Mutter. Das goldene Haar, die riesigen tiefblauen Augen, die markanten Wangenknochen, das dreieckige Gesicht. Der unbekannte Vater hat nicht viele Spuren hinterlassen. Aber ihre Züge sind feiner, ebenmäßiger als Doras, die Nase gerade, der Mund unauffällig, das Gesamtbild deutlich kühler. Er liegt genau darin, Doras unumschränkter Charme, in der Summe ihrer unvollkommenen kleinen Asymmetrien und anrührenden Rundungen.
»Sieh an, der neue Liebhaber meiner Mutter. Wenigstens ist der da Franzose. Bulle, aber Franzose.«
Sie verschwindet in den Flur, und man hört ihre Zimmertür knallen. Dora nimmt es wortlos hin, steht da, rührt sich nicht. Dann: »Urteile nicht schlecht über sie. Es ist nicht leicht, die Tochter einer ehemaligen Hure zu sein.«
Noch weniger leicht ist es, wenn die ehemalige Hure ein neues Leben beginnt, indem sie die offizielle Mätresse eines Pariser SS-Führers wird. Aber das kann ich ihr nicht sagen.
Domecq fühlt sich hoffnungslos allein.
Langer Marsch durch Paris, um das Unbehagen loszuwerden, das sein Nachmittag mit Dora und die kurze Begegnung mit ihrer Tochter hinterlassen haben. Außerdem muss er die Zeit herumbringen. Läuft hinunter zur Place de l’Alma, dann gemächlich am Ufer entlang. Die Atmosphäre in der Stadt wandelt sich kaum merklich. Unverändert das schöne Wetter und die augenscheinliche Unbekümmertheit all der Menschen, die hin und her laufen, als wären sie sehr beschäftigt. Aber die Männer und die Lkws der Wehrmacht, die auf dem Platz vor dem Invalidendom Halt gemacht haben, kehren vielleicht gerade von der Normandiefront zurück, sie wirken verbraucht. Der Krieg rückt näher. Erste Risse im Erscheinungsbild der Sieger. Ein Stück weiter, nahe der Place de la Concorde, immer noch unvermindert viele Straßensperren, bewaffnete Soldaten, Hakenkreuzfahnen. Aber weniger, deutlich weniger Touristen in Uniform.
Um kurz vor 18 Uhr erreicht er das Inspektorenzimmer des Sittendezernats. Ein relativ langgezogener, nicht sehr hoher Raum, dessen Fenster auf einen Innenhof gehen und fahles Licht spenden. Die Farbe an den Wänden ist schmutzig und grau, die Schreibtische stehen dicht gedrängt und etwas planlos im Raum, und nur im Slalom gelangt man ganz nach hinten zu den beiden Milchglastüren der Büros vom Chef und seinem Stellvertreter. Hinter diesen Scheiben ist immer Licht, aber wenig Leben, und man weiß nie, ob der Chef da ist oder nicht. Das Inspektorenzimmer betritt er ziemlich selten.
Auf den nicht eben vollen Schreibtischen keine zwei gleichen Lampen und dahinter altersschwache Stühle. Heute sind nur wenig Leute da. Ein paar vereinzelte Inspektoren arbeiten an einem Bericht, lesen Zeitung, unterhalten sich. Bordelle, Nachtclubs, Glücksspiel, Drogen, Prostitution, alles in Händen der französischen Gestapo unter Aufsicht von Lafont, und das Leben im Sittendezernat spielt sich in einer höchst eigentümlichen Atmosphäre ab, eine Art Konservierungskammer für Tätigkeiten und Gebräuche aus der Zeit, in der das Dezernat tatsächlich eine Funktion hatte.
Domecq setzt sich an seinen Schreibtisch etwa in der Raummitte und macht sich an einen Bericht über den Vorabend im Bagatelle. Bereits seit Tagen kursierte das Gerücht, dass dort im Lauf des Abends eine Lieferung Kokain eintreffen würde. Folglich war der Nachtclub schon um 21 Uhr gerammelt voll. Die übliche Pariser Schickeria …
Blickt auf. Nur noch zwei Inspektoren im Raum. Die anderen sind wohl einen trinken gegangen, übungshalber, bevor sie reihum die Nachtclubs und Bordelle abklappern, die sie überwachen sollen. Doch diese zwei scheinen sich hier einnisten zu wollen. Also muss er sich weiter beschäftigen.
Vertieft sich wieder in seinen Bericht, listet auf: Sacha Guitry, Cocteau, Jean Marais, Serge Lifar, Drieu … Schreibt dann weiter: Um zehn Uhr abends betreten Villaplana und Clavié, zwei von Lafonts Männern, das Bagatelle. Marthe Richard, die sich ebenfalls in der kleinen Schar tummelt, erkennt in Villaplana den ehemaligen Torwart der französischen Fußballnationalmannschaft und küsst ihn. Die Gäste jubeln ihm zu, es kommt zu einem wahren Tumult, um neben dem Kokain auch ein Autogramm von Villaplana zu ergattern, der seinen Schriftzug gleich auf die Tütchen setzt, während Clavié die Geldscheine entgegennimmt.
Domecq hält inne. Sieht sich nach allen Seiten um. Endlich allein. Es ist 19 : 30 Uhr. Er ist in der Zeit. Er schreibt einen abschließenden Satz: Wie soll ich in Anbetracht dessen, dass das Bagatelle unter Lafonts Schutz steht, in der Angelegenheit weiter vorgehen? Lässt den Bericht gut sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen und eilt zu den Toiletten.
Hinterste Kabine. Nicht verriegeln. Er steigt auf den Toilettensitz, packt den Rand des Dachfensters, Klimmzug, macht über einem Innenhof zwei Schritte auf der Dachkante, lässt sich dann durch die nächste Luke in einen Abstellraum voll Eimer und Besen hinab, die die Putzfrauen morgens vor dem Eintreffen der Polizisten benutzen. Er nimmt einen Karton vom obersten Regal, holt ein sperriges Radiogerät heraus, wickelt das Antennenkabel ab und legt es in der Dachrinne aus, nimmt Kartons und Lappen zu Hilfe, um die Geräusche zu dämpfen, und setzt sich auf einen Hocker. Er macht sehr bedächtige, sehr verhaltene Bewegungen, um den Kokon aus Stille und innerem Frieden nicht zum Platzen zu bringen, der ihn im Herzen der Polizeipräfektur umgibt, dem sichersten Ort von Paris. Dies ist ein Augenblick des Glücks. Dann wartet er, 20 : 07 Uhr, der Zeitpunkt seiner Verabredung mit London. Der Kontakt ist hergestellt. Die Gestapo verhaftet (den mir unbekannten) Benezet in seiner Wohnung und mit ihm einen amerikanischen Offizier, den er beherbergt hat. Laval zahlt Deslauriers fünf Millionen für Benezets Freilassung. Instruktionen? Hockt auf seinem Schemel und wartet, während er versonnen an London denkt und an jene unbekannten Stimmen, die laut durch die Rue d’Assas hallten: Die Engländer sind da … Da kommt die Antwort: Nachricht empfangen. Höchste Priorität. Wir wollen alles über den amerikanischen Offizier, Benezet und die Kontakte zu Laval wissen.
Auf dem Rückweg ein etwas kitzliger Moment: sich beim Balancieren auf der Dachkante vergewissern, dass die Toilettenkabinen leer sind. Dann, allein im Inspektorenzimmer, überfliegt er nochmals seinen Bericht und legt ihn auf den Stapel für den Chef. Rückblende: Dora in ihrem Boudoir, ihre Tochter, es ist hart, die Tochter einer ehemaligen Hure zu sein. Irgendwie könnte er kotzen. Oder liegen ihm die Petits Fours schwer im Magen? Er geht ohne Umwege nach Hause.
Nichts zu essen. Da muss er eben bis morgen früh mit Doras Törtchen auskommen. Domecq macht sich einen Kaffee mit einer neapolitanischen Kaffeekanne, wie die Kaffeepäckchen ein Geschenk vom Wirt des Capucin, dann setzt er sich, Füße auf dem Balkongeländer, Blick auf Paris, das grau in grau im Zwielicht liegt.
Zehn Monate arbeitet er jetzt beim Sittendezernat. Kommissar Nohant hat ihn letzten August auf Wunsch des gaullistischen Geheimdiensts als Inspektorenanwärter eingeschleust, unter falscher Identität, mit falschem Lebenslauf. Nohant, eine beleibte bäuerliche Gestalt mit Filzhut auf dem Kopf, ein guter Polizist und Widerstandskämpfer der ersten Stunde. Im November ’43 zusammen mit drei anderen Kommissaren während einer geheimen Zusammenkunft in einem Kellerraum des Café Zimmer von Lafont und seinen Freunden verhaftet. Wer hatte sie denunziert? Brigadiers, die keine Kommissare mochten? Kommunistische Brigadiers, die keine nicht-kommunistischen Kommissare mochten? Kellner des Cafés, die auf eine Prämie aus waren? Ein pflichteifriger Polizist, der keine Widerstandskämpfer mochte? Ausgeliefert an die Deutschen, gefoltert, deportiert. Zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich tot.
Und er stand bei der Sitte schlagartig auf einsamem Posten. Er solle bleiben, hatte London verfügt, er sei hier ideal platziert, um die Kreise der Kollaboration zu beobachten. Er sei niemals Polizist gewesen und habe auch nie den Wunsch danach verspürt? Nebensächlich. Vor dem Krieg sei er Ägyptologe gewesen, einsames Arbeiten und genaues Hinsehen also gewohnt. Während seines zehnjährigen Aufenthalts in Kairo sei er regelmäßiger Gast am ägyptischen Hof und bei Botschaftsempfängen gewesen, eine hervorragende Annäherung an das Leben der High Society, dabei aber schön weit weg von den entsprechenden Kreisen in Paris, was das Wiedererkennungsrisiko in Grenzen halte. Er musste sich an totale Einsamkeit gewöhnen, und sein einziger Kontakt zur Résistance war allabendlich zwischen 20 Uhr und 20 : 10 Uhr die Funkverbindung nach London. Ohne je zur Aktion überzugehen, was noch frustrierender wurde, als die Kämpfe näher rückten. Und er hat Nohants Spitzel geerbt.
Darunter zwei Topleute. Chaves, einer von Lafonts Handlangern. Domecq hat viel nachgedacht. Hinter der Razzia im Café Zimmer kann auch er gesteckt haben. Deshalb hat er ihn noch nicht kontaktiert, aber ein paar von Nohants Aufzeichnungen gut verwahrt.
Und Dora Belle, die offizielle Geliebte eines der wichtigsten SS-Hauptsturmführer in Frankreich. Dora Belle, ein Star der Continental. Dora Belle, eine schmutzige Geschichte, in einem heruntergekommenen Viertel am Pariser Stadtrand auf der Straße geboren, Eltern unbekannt, mit zwölf Jahren Prostituierte, mit vierzehn Mutter und mit sechzehn Mörderin. Nohant wirbt sie an, legt die Mordsache ad acta und lenkt behutsam ihre Schritte. Er lehrt sie lesen und schreiben, sich zu kleiden, als Edelnutte zu arbeiten. Er hält die Zuhälter von ihr fern und hat ein Auge auf die Erziehung ihrer Tochter. Dora begleicht ihre Schuld, indem sie gewissenhaft den Spitzel gibt. Auch als Deslauriers sie zu sich ins Perroquet bleu holt, macht sie weiter. Sie ist zu diesem Zeitpunkt der beste Spitzel, über den die Sitte in Paris verfügt. Nach 1940 ändert sich die Lage. Dora, fasziniert von der virilen Schönheit und dem Charme der siegreichen SS-Hauptleute wie auch von der materiellen und moralischen Sicherheit, die das Naziregime ihr verschafft, hat nichts übrig für die Terroristenlümmel der Résistance, und Nohant geht vorsichtshalber auf Distanz zu ihr. Als Domecq an ihre Akte gelangt, beschließt er, den Kontakt zu erneuern. Er stellt sich als der geistige Sohn von Nohant vor, der leider Gottes an einer unheilbaren Krankheit leide und sich zum Sterben in die Charente-Maritime zurückgezogen habe. Mimt den Hingerissenen, was ihm umso leichter fällt, als er hingerissen ist, erwähnt nebenher, welche Unannehmlichkeiten es mit sich brächte, sollte Deslauriers von ihrem Verhältnis zu Nohant erfahren, wär doch schade, wo das Leben gerade so angenehm ist, und schlägt ihr vor, die französische Polizei auch weiterhin über das Tun und Treiben von Deslauriers und seinen Freunden zu informieren. Sie lässt sich darauf ein, denn ist man erst Teil des Räderwerks, kann man nicht mehr aufhören, zudem ist dies ein Spiel, das einiges Vergnügen bereitet. Gemeinsam erarbeiten sie eine Geschichte von Kindheitsfreunden, die sich zufällig begegnen, ein Wiedersehen, das sie mit viel Gefühl in Szene setzen. Und inzwischen zählt Doras Salon zu Domecqs Hauptwirkungsstätten. Bilanz: ausgesprochen positiv. Jede Menge Informationen über die Kollaboration französischer Unternehmer mit den deutschen Besatzungsstellen, über den tatsächlichen Zustand der französischen Wirtschaft, über die kleine Welt der Kollaborateure aus Kultur und Politik …
Doch heute Abend hat ihn der Ekel gepackt. Dora, die schöne Dora, die bezaubernde Dora ist gefangen in einer Scheinwelt, die auf eine Katastrophe zusteuert. Ist sie sich dessen bewusst? Oder nicht? Wie auch immer. Nicht nur unternehme ich nichts, um sie davon abzuhalten, ich ermuntere sie sogar zum Weitermachen, ich treibe sie weiter auf ihrer schiefen Bahn. Ich verhalte mich wie ein Zuhälter. Ein schrecklich kluger zwar, aber ein Zuhälter. Nicht viel anders als Nohant oder Deslauriers. Lass das Grübeln sein. Es herrscht Krieg. Trinkt seinen Kaffee aus. Kalt. Steht auf. Hebt mit der Messerspitze ein Dielenbrett an, holt ein paar akkurat gefaltete Zettel hervor. Nohants Aufzeichnungen über Dora Belle. Hat er nicht im Büro lassen wollen, es kann immer jemand neugierig sein, zu riskant. Nimmt ein Päckchen Streichhölzer und verbrennt die Blätter eins nach dem andern über dem Spülstein. Einer Freilassung gleich. Rein symbolisch. Und geht schlafen.
Die Tür zu seiner Zelle wird geöffnet. Mike Owen unterdrückt den Impuls zurückzuweichen. Wie viele Stunden oder Tage in dieser Zwei-mal-zwei-Meter-Zelle, ständig hell erleuchtet, die Handgelenke an einen Ring in der Wand gekettet, gerade so in der Lage, aufrecht zu stehen oder sich auf dem nackten Boden auszustrecken? Er kann es nicht sagen. Ohne ein Wort macht der SS-Mann ihn los und treibt ihn im Flur vor sich her. Owen bewegt Hände, Arme, schmerzhaft, schwankt. Der SS-Mann öffnet eine Tür. Owen bleibt reglos auf der Schwelle stehen. Sieht zunächst nur die festliche Tafel in der Mitte des Raums, weißes Tischtuch, Porzellan, Silberbesteck, verschiedene Kristallgläser, vier Gedecke. Der SS-Mann stößt ihn hinein, schließt die Tür hinter ihm, dreht den Schlüssel, einmal, zweimal, dreimal, wie in der Zelle. Vorm Fenster sind Gitter. Aus dem Nichts taucht Bauer auf, in Uniform, ein Mädchen an jedem Arm, eine Dunkle, eine Blonde, in roten Miedern und schwarzen Netzstrümpfen, Brüste, Geschlecht, Gesäß entblößt. Ihm schwindelt. Bauer packt ihn am Arm.
»Mein lieber Mike, der Name des Dorfs, in dessen Nähe du mit dem Fallschirm abgesetzt wurdest und an den du dich nicht erinnern konntest, ist Mortemart. Die Organisation, die dich in Empfang genommen hat, wurde zerschlagen, die Anführer exekutiert und das Dorf niedergebrannt. Eigentlich eine gute Nachricht, oder?« Er reicht ihm eine Champagnerschale. »Du hast für dein Recht zu leben bezahlt, zumindest vorerst.« Er hebt sein Glas. »Auf unsere Kollaboration, um einen sehr französischen Terminus aufzugreifen.«
Weiter, mach weiter. Was kannst du anderes tun? Mortemart, diesen Namen kennst du nicht, hast ihn nie ausgesprochen. Hör nicht auf das, was er sagt. Wiederhole: Kohle, Unternehmer, Banken – das, und nur das, ist deine Welt. Er leert sein Glas auf einen Zug.
Später sitzt er nackt auf einem Stuhl, eins der Mädchen auf den Knien, die ihn löffelchenweise mit Kaviar füttert und ihm aus Bordeauxgläsern Wodka einflößt. Klammert sich an das quadratische Stück Nacht jenseits des Fensters, an den Schmerz, den er spürt, wenn er sein Knie gegen die Tischkante schlägt. Und er trinkt. Sehr wenig getrunken, sehr wenig gegessen seit seiner Verhaftung, seit wann? Schwindelgefühl. Tournedos Rossini, schwere Feinschmeckerkost. Das Mädchen verschwindet unter dem Tisch und fängt an, ihm einen zu blasen. Er verschluckt sich und erstickt fast, kommt ohne Lust, verliert das Bewusstsein, Kopf auf dem Tisch.
Jemand hat ihn geweckt, indem er ihm eine eiskalte Flüssigkeit in die Nase gesprüht hat. Ein Brennen, regenbogenfarbener Funkenregen. Er fühlt sich wie ein Berg in einer klaren Winternacht. Eins der Mädchen tanzt Cancan und summt dazu. Sie hat ein riesiges blauviolettes Geschlecht. Wo ist Bauer?
Das Mädchen sitzt auf der Tischkante. Er nimmt sie, forschend, leicht distanziert, sein Geschlecht dringt in ihres ein, keinerlei Empfindung. Kalte Hände. Bauer, hinter ihm, an ihn gepresst, über seine Schulter gebeugt: Nichts ist schöner als der Arsch eines virilen jungen Mannes. Er packt seine Hüften und dringt in ihn ein, während er ihm in die Schulter beißt. Owen brüllt auf, stürzt das Mädchen, den Tisch, eine randvolle Schüssel Erdbeer-Burgunder-Bowle um. Bauer zerschießt die Lampen mit zwei Schuss. Die Mädchen verstecken sich hinter dem umgekippten Tisch, die Dunkle ist durch Glassplitter verletzt und blutet stark am Oberschenkel. Vier SS-Männer kommen herein, nehmen Bauer mit, jagen die Mädchen mit Tritten davon und lassen Owen auf dem Teppich liegen, inmitten von zerbrochenem Geschirr, mit Wein und Sperma besudelt, zwischen mehrfach verriegelten Schlössern und vergitterten Fenstern längst weggedriftet.