Читать книгу Das schwarze Korps - Dominique Manotti - Страница 12
6. Juni 1944, abends
ОглавлениеBei Einbruch der Nacht enden die Kämpfe. Die Alliierten halten die Strände und haben 155 000 Mann mitsamt Ausrüstung an Land gebracht. Sie sind nirgends weiter als eineinhalb Kilometer auf französischen Boden vorgedrungen. Keine der als Ziel für den ersten Landungstag festgelegten Positionen wurde erreicht.
An jedem ersten Dienstag im Monat hält Dora Belle Salon in den Räumen ihres Stadtpalais an der Place des États-Unis. Ihre Gesellschaften sind nicht so literarisch und vornehm wie die von der Wehrmacht frequentierten Salons, etwa der von Florence Gould. Aber die üppigen Buffets in einer Zeit, in der quasi Hunger herrscht, die große Schönheit der Gastgeberin, einer der führenden Stars der Continental, der großen, mit deutschem Kapital betriebenen französischen Filmproduktionsfirma, die Verfügbarkeit zahlreicher junger Damen und die Anwesenheit des Pariser SS-Führungsstabs (eins seiner Mitglieder, SS-Hauptsturmführer Bauer, ist seit fast vier Jahren Doras Liebhaber) locken doch stets eine kleine Schar von Unternehmern, Journalisten, Staatsbeamten, Filmleuten und angehenden Sternchen an, die für eine Information, einen Passierschein, ein Fleischgericht oder eine kleine Nebenrolle zu allem bereit sind.
René Deslauriers trifft gegen neun bei Dora Belle ein, passiert das Portal, einen gepflasterten Hof, eine Außentreppe, und betritt das Entree, einen Rotundenraum ganz aus buntem Marmor. In der Mitte, auf einem runden weißen Steintisch mit einem Fuß aus gemeißelten Akanthusblättern, steht ein bis zur Decke reichendes Orchideengesteck, aus dem sich einige der geflochtenen Ranken gelöst haben und herunterhängen. Weiß und Blau, die Farben von Doras Kleid an diesem Abend. Wie jeden Monat ein Geschenk von Lafont. Lafont, der schon wieder. Er schenkte Dora Belle einen weißen Bentley, als Bauer sie zu seiner offiziellen Geliebten machte, und überhäufte sie bei jeder ihrer Feiern mit Orchideen, was Deslauriers wie ein protziger und geschmackloser Luxus erschien. Ein verbrecherischer Luxus. Eine sehr unliebsame Person. Unbewusst verzieht er das Gesicht. Er überlässt Hut und Handschuhe der charmanten jungen Frau, die sich um die Garderobe kümmert, und betritt den ersten der drei ineinander übergehenden Salons, Zwischentüren weit geöffnet, durch Kristalllüster hell erleuchtet, die Fensterreihe indes mit dicken grünen Vorhängen lichtundurchlässig gemacht. In jedem Salon an der den Fenstern gegenüberliegenden Wand ein üppig mit Viktualien beladenes Buffet, Gänseleber, kalter Braten, Käse, Kuchen, Obst. Champagnerflaschen stapeln sich in Kühlbehältern hinter den Buffets, und auf dem nackten Boden unter den Tischen sind Cognacflaschen verstaut. Ein Orchideenstrauß auf jedem Tisch erinnert an den im Entree.
Schon jede Menge Leute da. Frauen in luftigen, farbenfrohen Kleidern, Männer in dunklen Anzügen speisen in kleinen Gruppen zu Abend, an runden Tischchen sitzend, im Stehen an den Buffets oder ins Gespräch vertieft in den Fensternischen. Im dritten, hinteren Salon sitzt Otto Bauer am Flügel und spielt Schubert, dass es vor Schmalz nur so trieft. Um ihn herum, zwischen dem Klavier und den hohen Fenstern, ein paar der höchstrangigen SS-Männer in Frankreich: Knochen, Nosek, Maulaz, ein Dutzend weitere in ihren schwarzen Uniformen, jung, groß, blond, sportlich, schön, sehr schön, und alle sprechen sie Französisch mit einem entzückenden harten Akzent, die Charme-Staffel der SS. In ihrer Mitte, älter, massiger, Botschafter Abetz, heute Abend der Einzige in Zivil. Die wogenden Schubertklänge übertönen eine lebhafte Diskussion auf Deutsch. Es gilt sich zu vergewissern, dass die Argumentation in Bezug auf die Landung der Engländer und Amerikaner stichhaltig ist, und diejenigen Gruppen von Dora Belles Gästen untereinander aufzuteilen, die man sich ideologisch zur Brust nehmen muss. Wenig Raum zum Improvisieren. Deslauriers blickt auf seine Uhr. Für gewöhnlich haben sie sich um diese Zeit schon abgestimmt. Heute scheint die Aufgabe etwas schwieriger zu sein.
Im zweiten Salon thront Dora Belle inmitten einer Horde junger Männer und Frauen in einem großen Sessel, prachtvoll, üppig, rosig und blond, naturblond, der Gipfel an Raffinesse, mit Kamille gepflegt, die Haarflut zu einem losen Knoten frisiert, aus dem sich ein Kranz von Löckchen hinausgestohlen hat, in einer tief dekolletierten Robe in abgestuften Blautönen, eine Orchidee steckt über der rechten Brust und prangt auf der nackten Haut, eine weitere an der Taille. Hinter ihrem Sessel steht der hochgewachsene Domecq, der kleine Bulle von der Sitte, eher ärmlich gekleidet, Hemd und Hose khakibraun, beigefarbene Jacke. Hübscher Kerl, das dichte schwarze Haar glatt und ungekämmt, darunter ein längliches Gesicht mit ebenmäßigen Zügen, sehr gerade schwarze Brauen quer über wachen, unruhigen blassblauen Augen, die unablässig von einer Gruppe zur anderen wandern, in dieser Welt von Schwadroneuren ist er erstaunlich zurückhaltend und still. Es heißt, er sei ein Jugendfreund der schönen Dora, inzwischen ihr ständiger Begleiter und schüchterner Verehrer. Deslauriers hält ihn für einen gewöhnlichen Schmarotzer.
Er geht zu Dora Belle, um sie zu begrüßen. Nähert sich ihr immer noch verbittert. Sie war vor dem Krieg seine Geliebte, und gemeinsam führten sie das Perroquet bleu, eins der berühmtesten Nachtlokale am Pigalle, in dem damals Bauer und ein paar andere deutsche Gäste verkehrten, die sich »geschäftehalber« in Frankreich aufhielten und denen man kein Jahr später in den verschiedenen Abteilungen der Pariser SS wiederbegegnete. Im Perroquet bleu, wegen Militärkatastrophe geschlossen, hatte Bauer ihn dann auch gleich im August 1940 aufgesucht. Zunächst, um ihn um Rat zu fragen: Er kenne doch so viele Leute … Dann, um ihn als Hilfskraft für einen wirtschaftlichen Nachrichtendienst anzuwerben, den er zwecks Ausbootung der Abwehr im Stillen aufbaute. Und um ihm Dora Belle zu nehmen. Ehrlich gesagt war er selbst, Deslauriers, es gewesen, der sie ihm angetragen hatte. Für eine kurze, harmlose Affäre, dachte er, ein Freundschaftsbeweis, sonst nichts. Eine kurze Affäre, die jetzt schon vier Jahre dauerte und die jedwedes Teilen ausschloss. Bauer hat dank seinem Einfluss auf die Continental aus Dora einen Filmstar gemacht, nicht jung und nicht begabt genug, um mit den hauseigenen Stars wie Darrieux oder Delair zu konkurrieren, aber als Nebenrolle sehr gefragt, ein unverhoffter beruflicher Erfolg, der sie überglücklich macht. Und Bauer nutzt ihre Talente als Dame des Hauses und das Renommee ihres Salons, ein Mix aus gesellschaftlicher Drehscheibe des mondänen Paris und Freudenhaus, geschickt zur Pflege seiner Beziehungen mit der französischen Geschäftswelt.
Ein blutjunger Theaterkritiker, der gerade seinen ersten Artikel in Paris-Soir veröffentlicht hat, glaubt sich seiner Sache sicher und legt los: »Ich war in der Premiere von Andromaque. Jean Marais …«
Dora sieht ihn an, den Kopf leicht nach hinten geneigt, den zwischen den Wimpern schmelzenden Blick auf seinen Mund geheftet, als vergehe sie vor Faszination bereits unter seinen Küssen. Erregend. Ein Kurtisanentrick. Der Wirkung zeigt. Der junge Mann wird unsicher. Deslauriers sucht das Weite und stößt mit Geneviève Fath zusammen, aufsehenerregend in einem figurbetonten, von zwei hauchdünnen Trägern gehaltenen grünen Kleid, die Schultern von einem Tüllbolero bedeckt, am Arm eines kleinen Glatzkopfs, den Deslauriers nicht kennt, sie setzt einen Kuss auf ihre Handfläche und bläst ihn in seine Richtung.
»Alles läuft wie am Schnürchen, René. Du bist der Beste. Hast du Doras Robe gesehen? Sie ist von Jacques. Eine Pracht, nicht wahr?«
Hinter ihr in einem Fenstereck Continental-Boss Greven, groß, massig, kahlköpfig, Lächeln auf den Lippen, und Clouzot, sein Lieblingsregisseur, kleiner, mager, spitzes Gesicht, im Gespräch über die jungen Frauen, die immer wieder an ihnen vorbeidefilieren.
»Die Kleine in Rot, ein Polsterarsch wie ein englischer Clubsessel.«
»Der Blasemund spricht mich mehr an …«
»Perfekt. Nehmen wir beide sie uns heute Abend vor?«
»Abgemacht.«
Auf dem Boden, zu Doras Füßen, sitzt ein pummeliger Mann mit Babygesicht und Genießermund und sagt immer wieder, von seiner Formulierung entzückt: »Zwischen der Katastrophe und uns steht nur noch die Wehrmacht.« Wie einer, der an einer Zuckerstange lutscht, ganz aufgeregt beim Gedanken an die nahende Bestrafung. Literarische Bezugspunkte zuhauf. Der Untergang des Römischen Reichs, die letzten Tage von Byzanz, der außerordentliche Zauber todgeweihter Städte, Faszinosum Apokalypse.
Dora hört ihm zu und lächelt über derlei Belanglosigkeiten. Bauer hat den Schubert gerade mitten im Satz abgebrochen, und die schwarzen Offiziere steuern die Salons an.
»Da kommt das Elitebataillon«, sagt der Pummelige. »Sieh sie dir an. Groß und aufrecht, geschmeidig, der Gang energisch und bestimmt, unter der ausgesuchten Höflichkeit die rohe Gewalt, riesig kultiviert, blauer Blick. Sie wurden gleich reihenweise produziert, um uns zu verführen. Und da glaubst du, wir hätten widerstehen können?«
Dora erhebt sich. »Roland, der Flügel gehört uns. Ich möchte singen.«
Auf der Etage mit den Privaträumen über den Salons liegen zwei Jugendliche bäuchlings nebeneinander quer auf einem Bett und betrachten eine auf steife Pappe geklebte Europakarte. Die Frontlinien sind mit Stecknadeln dargestellt, rote Köpfe für die im Osten, blaue für die im Westen. Mit sehr feierlicher Geste klebt der Junge einen blau-weiß-rot angemalten Papierschnipsel auf eine ganz bestimmte Stelle an der Ärmelkanalküste, die er zuvor mit Bleistift markiert hat, neben Bayeux. Dann küssen sie sich. Das Mädchen, Ambre, fünfzehn, das halblange goldblonde Haar über den Ohren mit zwei Schildpattspangen zurückgesteckt, setzt sich auf, helles Kleidchen, schlicht, knielang. Sie ist barfuß. Das ist Dora Belles Tochter. Rasch schiebt sie die Karte mitsamt Pappe in eine an der Unterseite des Lattenrosts befestigte Halterung.
»Ich habe unten zwei Flaschen Champagner mitgehen lassen, um das Ereignis zu feiern. Wollen wir aufs Dach?«
Jetzt setzt sich auch der Junge auf. Sechzehn, kaum älter, kastanienfarbenes Haar im Bürstenschnitt, Grübchen am Kinn, kurzärmeliges beiges Hemd, dünne braune Stoffhose. Das ist François, der Sohn von Bourseul, dem Großindustriellen und Freund von Dora Belle, der nur einen Steinwurf entfernt wohnt. Die beiden jungen Leute gehen in Ambres Bad, das an ihr Zimmer angrenzt, öffnen das Dachfenster, steigen aufs Waschbecken und sind schon auf dem grauen Zinkdach, das noch warm ist von dem sonnigen Tag. François lässt routiniert den Korken knallen und füllt die beiden Zahnputzgläser, die Ambre ihm reicht. Sie setzen sich mit dem Rücken zum Dach, die Füße auf die Regenrinne gestützt, und erheben ihre Gläser gen Westen.
François scheint in Andacht zu verfallen. »Dort vor uns sind die Amerikaner.« Und plötzlich, mit Pathos, halb aufgerichtet: »Erhebt euch schnell, ersehnte Stürme, die ihr uns emportragen sollt in die Räume eines anderen Lebens …«
Ambre lacht. »Geht’s nicht etwas schlichter?«
»Doch. Beeilt euch, Jungs, wir erwarten und wir lieben euch.«
Die Gläser klingen, die Kinder trinken. Eine Flasche. Brechen die zweite an. Und schlummern, schläfrig von der Hitze und dem Champagner, auf dem Dach Seite an Seite ein, immer noch gen Westen.
Deslauriers stellt sich zu der Gruppe von Unternehmern, die sich im ersten Salon um das Buffet drängen. Die großen Namen des Champagners neben denen der nordfranzösischen Textilindustrie, der Pariser Bankenwelt, der großen Warenhäuser, dazu die Funktionäre der Arbeitgeberverbände. Die Stimmung ist angespannt. All diese Unternehmer haben die Deutschen 1940 mit offenen Armen empfangen, fanden das mit den Protesten in den Fabriken aufräumende Naziregime lange Zeit ganz wunderbar, doch heute sind sie in Sorge. Sie sind gekommen, um zu erfahren, was es Neues gibt, woher der Wind weht. Und sich nach Möglichkeit beruhigen zu lassen. Bauer und Nosek, einer seiner Stellvertreter, haben die Gruppe in die Zange genommen. Nosek erklärt: Man habe die Landung nicht nur erwartet, sondern erhofft. Die in der Normandie sei im Übrigen nur ein Scheinangriff. »Die ernstzunehmenden Operationen werden in Nordfrankreich stattfinden, und dafür sind wir gerüstet.«
Bauer, dem die strahlenden jungen Panzersoldaten auf dem Weg ins Gefecht nicht aus dem Kopf gehen, übernimmt: »Die amerikanischen Streitkräfte werden in eine großangelegte Falle gelockt, und wir zerschmelzen sie wie Blei in einem Tiegel.« Ein Moment vergeht. Dann, aus tiefster Seele: »Die Wehrmacht ist unbesiegbar.«
Es herrscht Schweigen. Deslauriers schließt die Augen, durchlebt erneut jenen Tag im Juni 1940, als er durch das menschenleere, aufgegebene Paris lief, die heruntergelassenen Rollläden an den zahllosen Geschäften, die verrammelten Zeitungskioske, die geschlossenen Fensterläden in den oberen Etagen. So gut wie keine Autos, alle stadtauswärts auf der Flucht. Er konnte seine Schritte auf den Gehwegen hören. Die wenigen Passanten, denen er hier und da begegnete, mieden seinen Blick. Er setzte sich aufs Geländer des Pont-Neuf und sah zu, wie sich unter einem riesigen Himmel die beiden Seine-Arme vereinten, zu seiner Rechten der Louvre, dessen dunkelgraue Dächer sich über den Bäumen abzeichneten, und er betrachtete den Sonnenuntergang hinter der Glaskuppel des Grand Palais, ein festliches Spiel von Rot- und Grautönen. In jeder Faser seines Körpers eine lähmende Angst. Als er jetzt an diesen Abend zurückdenkt, steigt das Gefühl erneut in ihm hoch, ungemindert, körperlich schmerzhaft. Dann lief er durch die Nacht, Richtung Nordosten, die Strecke der Invasoren, die Rue La Fayette hinauf. Auf der Brücke über die völlig verwaisten Gleise der Gare de l’Est sah er die ersten deutschen Motorradfahrer eintreffen, die einer Paris mitten ins Herz getriebenen Lanze gleich die leicht abfallende Straße auf geradem Weg bis zur Oper hinunterjagten, gefolgt von den ersten Panzern, deren Erschütterungen er im ganzen Leib gespürt hatte. Am Morgen war die Stadt unter engmaschiger Kontrolle, besetzt. Nicht ein Schuss. Eine Stadt in Schockstarre. Keine Niederlage, eine Auslöschung, die unfassbar war. Er brauchte fast einen ganzen Monat, den er eingeschlossen in seinen leeren Nachtclub verbrachte, bis seine Lebensgeister zurückkehrten und er im deutschen Paris ein Abenteuerland erkannte, wo fortan alles möglich war. Also ist die Wehrmacht heute unbesiegbar, gegen jede Logik mag Bauer da durchaus recht haben.
In vertraulichem Ton fährt Bauer fort: »In ein paar Tagen, vielleicht auch Stunden, haben wir die Wunderwaffe, die es uns ermöglicht, die alliierten Truppen gleich auf englischem Boden zu vernichten. Und im Osten die Bolschewikenaufmärsche auszulöschen, noch während sie sich formieren.« Ein Seufzer. »Der Endkampf, aus dem das Europa von morgen hervorgehen wird, hat endlich begonnen, und natürlich werden wir ihn gewinnen.« Lächeln. »Champagner, meine Herren.«
Während Nosek sich anschickt, einigen Gästen technische Details der Wunderwaffe zu liefern, nimmt Bauer Duval beiseite, den Chef eines metallverarbeitenden Unternehmens mit 800 Arbeitern in Aubervilliers, und sagt weithin hörbar: »Gute Neuigkeiten, lieber Freund. Letzte Woche haben wir zusammen mit einer Gruppe von Geiseln die fünf kommunistischen Arbeiter Ihrer Fabrik exekutiert, deren Namen Sie uns gegeben hatten. Sie können also beruhigt sein.« Ein Moment vergeht. »Der Exekutionsbericht wird im Lauf der Woche in Aubervilliers ausgehängt. Und Ihre Rolle in dieser Angelegenheit wird natürlich hervorgehoben werden.« Lächeln. »Wir sind nicht undankbar.«
Duval, dem plötzlich unwohl ist, geht in den angrenzenden Salon und setzt sich.
Dora lehnt sich an den Flügel, räuspert sich. Sie ist von sehr eigentümlicher Schönheit. Ihr Gesicht ist unebenmäßig. Breite Stirn, riesige, weit auseinanderstehende Augen von einem strahlenden, einheitlichen Blau, deren Härte sie durch das Spiel ihrer Wimpern und Brauen mildert, markante Wangenknochen, eine nicht ganz zierliche leichte Stupsnase über einem Mund, der die gesamte untere Partie des eher schmalen Gesichts einnimmt. Sie vermag jedem Mann das Gefühl zu geben, dass sie sich allein an ihn wendet. Anmutig zu dem jungen Pianisten geneigt, der sie begleitet, singt sie jetzt in traulichem Ton, richtig zwar, aber mit dünner Stimme: »Douce France, cher pays de mon enfance …«
Domecq geht an Deslauriers vorbei, zwei Champagnergläser in der einen Hand und einen Teller mit Gänseleber in der anderen. Deslauriers nimmt ihn am Arm.
»Haben Sie, der Sie schon ewig ihr Freund sind, das geliebte Land ihrer Kindheit gekannt?«
Domecq lächelt. »Wir haben in La Plaine-Saint-Denis gelebt, und dem idyllischen Namen zum Trotz gab es dort weder einen Kirchturm noch grünes Gras, Bäume oder Vögelchen. Dafür jede Menge Armut.«
»Sagen Sie ihr, sie soll diesen Unfug lassen.«
»Bauer mag das.«
»Ein Grund mehr. Na, wer kommt denn da …« Raubtiergrinsen. »Polizeipräfekt Bussière höchstselbst. Er will wissen, was es Neues gibt. Kennen Sie ihn?«
»Nein, nicht persönlich. Ich bin nur ein ganz kleiner Inspektor.«
»Ich werde mir ein kleines Späßchen erlauben.« Er zieht ihn am Ellenbogen mit sich und stellt sich Bussière in den Weg. »Herr Präfekt, gestatten Sie, dass ich Ihnen Inspecteur Domecq vorstelle.«
Domecq jongliert mit Teller und Gläsern, um eine Hand freizubekommen. Bussière, sichtlich verärgert, an einem solchen Ort einen kleinen Polizisten aus seiner Behörde zu treffen, macht ein verkniffenes Gesicht, neigt den Kopf leicht zur Seite und stürmt ohne anzuhalten auf eine Gruppe zu, die sich um Knochen drängt, die Nummer zwei der SS in Frankreich.
Deslauriers frohlockt. »Unhöflich ist dieser Saukerl … Eilen Sie, mein Lieber. Die reizende Dora wird noch verdursten.«
Suzy Solidor, eine hochgewachsene Erscheinung mit Garçonne-Frisur in einem Etuikleid aus violetter Seide, hat Dora abgelöst und singt auf Deutsch Lili Marleen. Diese raue, dunkle Stimme ist der Wahnsinn, denkt Deslauriers, tief ergriffen wie jedes Mal, wenn er sie hört. Erinnerung an ihre Konzerte im Perroquet bleu, das gehobene Bürgertum vergötterte sie, wenn sie ihre Javas sang. Bauer ist verstummt und lauscht ihr mit geschlossenen Augen. Aber im Bett taugt die Solidor wie alle Lesben wenig, dem Vergleich mit Dora hält sie nicht stand.
Brinon, der Repräsentant der französischen Regierung, stürmt herein. Ein Blick in die Runde, dann eilt er grußlos zu dem Fenster, wo Abetz, Knochen und Bussière mit konzentrierter Miene über die Aufrechterhaltung der Ordnung sprechen.
Deslauriers erspäht den Alkoholhändler Anselme, ein alter Komplize, der allein in einer Ecke sitzt und in Ruhe einen Cognac trinkt. Er zieht einen Sessel neben ihn und setzt sich. Der andere hebt zur Begrüßung sein Glas.
»Sehr guter Cognac. Keine Ahnung, wo Dora ihn herhat. Ich habe ihn ihr nicht verkauft.«
»So allein?«
»Doras hysterische kleine Höflinge töten mir den letzten Nerv, und die offizielle Ansprache deines Chefs ödet mich an. Ich glaube nicht mehr daran. Du vielleicht?«
»Paul, ich möchte dir ein hübsches Geschäft vorschlagen, plusminus zwanzig Millionen für uns zwei, abzüglich der Unkosten.«
»Just heute habe ich den Laden dichtgemacht, René. Alle meine Jungs entlassen, meine Lager geschlossen, und in zwei Tagen reise ich ab nach Monaco. Jetzt stehe ich, oder besser gesagt stehen wir, weil du an einem Gutteil der Geschäfte beteiligt bist, vor dem Problem, dass das Geld gewaschen werden muss. Man darf es nicht mehr riechen, sehen, schmecken. Dazu brauche ich etwas Zeit. Und ich hoffe, die Wehrmacht verschafft mir genug. In dem Punkt habe ich allerdings ziemliches Vertrauen in sie. Sind schon gute Jungs, diese deutschen Soldaten.«
Deslauriers angelt sich einen Stumpen, zündet ihn an, nimmt den ersten tiefen Zug, atmet aus, das beruhigt, beugt sich dann zu Anselme. »In zwei Tagen, sagst du. Mehr brauche ich nicht.«
In einer Ecke hat sich eine Pokerrunde gebildet, mit Greven und Clouzot, der Einsatz ist also sehr hoch. Knochen hat sich zwischen Jean Luchaire – den kleinen Journalisten, der sich in einer solchen Partie, denkt Bauer, nicht lange halten wird – und Bussière gesetzt. Interessant, ihm zuzusehen, Spiel und Mensch sind eins. Bauer tritt näher und stellt sich hinter ihn. Bourseul gesellt sich zu ihm, sehr aufrechte Erscheinung, schmal, elegant in seinem dunklen Anzug, Pomade im Haar, gepflegter kleiner Oberlippenbart, Lächeln auf den Lippen. In vier Jahren Besatzung ist er der vermögendste Textilfabrikant Nordfrankreichs geworden. Über die gemeinsam getätigten Geschäfte hinaus – Aufträge des deutschen Militärs, Übernahme jüdischer Unternehmen – sind die beiden Männer Freunde, haben viele gemeinsame Abende in den Pariser Luxusbordellen verbracht, und Bourseul informiert Bauer zuverlässig über die tatsächliche Lage der französischen Unternehmen. Bauer zieht ihn beiseite.
»Ich habe einen amerikanischen Nachrichtenoffizier festgenommen.« Er hält einen Moment inne. Bourseul zeigt keine Reaktion. »Er sagt, einige deiner Freunde hätten bereits Kontakt zum amerikanischen Generalstab aufgenommen.«
»Derzeit wird viel geredet.«
Bauer versteht: Du bist nicht Herr der Lage.
Bauer versteht: Ich schulde dir nichts. Und bebt vor Zorn.
»Erinnere deine Freunde daran, dass sie an zwei Wahrheiten nicht vorbeikommen, Maurice: In dieser Stadt liegt die Macht über Leben und Tod, vor allem den Tod, immer noch bei mir. Und sollten die Amerikaner siegen, werden nicht sie das Sagen haben. Sollten wir abziehen, werden die Kommunisten die Macht übernehmen.«
Bourseul registriert die verzerrten Mundwinkel, den beinahe irren Blick. Schließt für einen Moment die Augen. »Wollen wir uns morgen treffen? Mir reicht’s für heute Abend. Wir hatten alle einen vollen Tag.«
Im hinteren Salon tanzen einige Paare zur Klaviermusik. Die Sperrstunde naht. Die Salons leeren sich allmählich, als Galey, der Filmbeauftragte der Regierung, aufgeregt und voller Mitteilungsdrang hereinschneit. Er eilt auf Dora zu, beide sind schnell umringt.
»Ich komme gerade aus Vichy …« Ein Raunen. »Wir sollten dem Marschall Carmen vorführen. Heute in aller Frühe sind wir mit dem Wagen aufgebrochen. Um zehn machen wir Halt bei einem Landgasthof und hören dort von der Landung der Engländer und Amerikaner. Ich wollte nach Paris zurück, in Vichy wird jetzt alles in Aufruhr sein, die haben jetzt anderes im Kopf als eine Filmvorführung, bringt doch nichts, die ganze Reise umsonst zu machen. Aber Christian-Jaque besteht darauf, wir kommen also nach Vichy, und dort ist alles vollkommen ruhig. Die Leute scheinen der Ansicht zu sein, dass die Landung vermutlich eine Falschmeldung ist, oder aber eine Nachricht ohne Belang. Oder jedenfalls nicht so sehr von Belang wie die Vorpremiere von Carmen. Die Vorführung fand im Beisein des Marschalls statt …«
»Hat es ihm gefallen?«
»Er hat die ganze Zeit geschlafen, und es hat ihm sehr gefallen.« Gelächter. »Ich wollte, dass Sie es als Erste erfahren.«
Der Kreis löst sich auf. Greven und Clouzot steigen, begleitet von einem Dutzend Mädchen, zur unterhalb der Salons im Gartengeschoss errichteten Orangerie hinab. Inmitten der Bäumchen und Blumen stehen, durch Paravents voneinander abgetrennt oder auch nicht, Betten für jene bereit, die zur Sperrstunde nicht den Heimweg antreten möchten. Dieser nächtliche Ausklang, bei dem potenzielle Filmsternchen für Stimmung sorgen, steht für gewöhnlich hoch im Kurs. Heute Abend ist die Zahl der Gäste rückläufig. Alle gehen heim, um den englischen Sender zu hören, sagt Jocelyne Gaël, eine Schauspielerin, die sich auf zahlreiche Liebschaften mit Gestapomännern eingelassen hat, halblaut und mit verstecktem Lächeln.
Deslauriers legt Geneviève Fath, die zusammen mit ihrem Mann gerade aufbrechen will, die Hand auf die Schulter. »Lass ihn allein nach Hause gehen. Treib ein weiteres Mädchen für mich auf und kommt dann beide zu mir runter.«
Galey nimmt Dora beiseite. »Ich brauche Sie, Dora. Ich habe große Mühe, den Film in Paris auf die Leinwand zu bringen. Er wurde von den Italienern finanziert, die bei der deutschen Zensur nicht mehr gut angeschrieben sind. Wenn Sie mir Ihre Anwesenheit bei der Premiere zusagen könnten«, Blick zu Bauer, »Sie verstehen, würde mir das helfen, meine Genehmigung zu bekommen …«
»Aber sicher. Sie können ganz auf mich zählen.«