Читать книгу Borgo Sud - Donatella Di Pietrantonio - Страница 12

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Unvermittelt schrecke ich aus einem kurzen, tiefen Schlaf hoch. Ich möchte den Arm bewegen, aber er reagiert nicht. Einen Augenblick lang weiß ich nicht, wo ich bin, alles ist mir fremd, im Hintergrund fehlt das Schnurren von Hector, an meinen Füßen zusammengerollt. Gestern fühlte ich einen Schmerz und erinnere mich nicht an seinen Ursprung. Auch jetzt fühle ich ihn, es ist dieser Druck auf der Brust, aber ich erkenne ihn nicht wieder. Tastend suche ich nach dem Schalter, im Lampenlicht holt mich das fremde Hotelzimmer in die Wirklichkeit zurück.

Ich lege mir die Jacke um die Schultern und trete fröstelnd auf den Balkon hinaus, unter den Himmel, an dem die Wolken ziehen. Die Adria jenseits der Straße ist nur eine Nuance der Schwärze, die den Sand überflutet und sich wieder zurückzieht. Ich sehe das Meer nicht, weiß aber seit jeher, dass es dort ist. Die Fischer des Borgo Sud werden hinausgefahren sein wie gewöhnlich, sie sind schon bei der Arbeit. Alle anderen schlafen, es ist zu spät für den vergangenen Tag, zu früh für den neuen. Auch Adriana schläft, ein wenig Meer ist in ihren Namen eingeflossen.

Die drei Jahre Altersunterschied sind unsichtbar geworden, doch als wir noch jünger waren, zählten sie. Das fand ich, Adriana konnte es nie akzeptieren. Manchmal wollte ich als ältere Schwester das Kommando übernehmen.

»Dein Kopf taugt nur für Bücher«, sagte sie.

Es war ihr Ausdruck der Bewunderung und gleichzeitig ihre Art, mich kleinzumachen.

So beschloss ich, mit ihr und Vincenzo ins Dorf zu fahren, unsre Eltern mussten von dieser Wendung in ihrem Leben erfahren. Während wir das Abendessen zubereiteten, hörte sie nicht auf, mir all das Unrecht aufzuzählen, das sie als Mädchen erlitten hatte. Mit fünfzehn hatten sie sie aus der Schule genommen und zur Arbeit aufs Land geschickt: Weinlese, Olivenernte. Niemand in der Familie dachte, sie müsse über den knappen Hauptschulabschluss hinaus zur Schule gehen. Unsere Brüder verspotteten ihren Ehrgeiz, Vermessungstechnikerin zu werden, unsere Mutter schwieg.

Den ganzen Sommer hatten wir gemeinsam gekämpft, und erst im September hatte unser Vater unwillig seine halbherzige Zustimmung geäußert: Adriana durfte sich an einem technischen Institut in Pescara einschreiben, ein Zimmer bei Signora Bice mit mir teilen. Nach der anfänglichen Begeisterung belasteten sie die langen Nachmittage auf wenigen Quadratmetern, sie lief in der Enge hin und her wie ein Tiger im Käfig. Zwischendurch schlug sie ein Buch auf, las aufs Bett geworfen eine halbe Seite, als sei sie in einer völlig fremden Sprache geschrieben. Ich begriff nicht, dass ihre Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, einen Gehorsam ausdrückte: Adriana erfüllte die Prophezeiung unseres Vaters.

»Spätestens im Frühjahr bist du wieder hier und isst Ackerbohnen, du hältst nicht durch bis zum Jahresende«, hatte er zu ihr gesagt, als sie nach dem ersten Trimester mit dem Zwischenzeugnis nach Hause gekommen war.

An manchen Apriltagen erschien sie bei Signora Bice mit dem unschuldigen Hunger einer Jugendlichen, die aus der Schule kommt, aber ihr Gesicht war gerötet. Nach dem Essen setzte sie sich an den Schreibtisch und fälschte akribisch die Unterschrift im Studienbuch. Wenn ich mich näherte, legte sie ein Heft darüber. Wir waren keine Kinder mehr, die jeweiligen Geheimnisse waren mit uns gewachsen.

An einem Donnerstag kam unser Vater sie holen, er wartete nicht ab, bis wir am Samstag mit dem Bus ins Dorf zurückkommen würden. Bestimmt hatte Signora Bice ihn gerufen, misstrauisch geworden durch Adrianas frühzeitige Sonnenbräune. Bei Unterrichtsschluss lauerte er ihr an der Straße zur Schule auf, doch sie kam nicht von dort. Sie kam von der Meerseite, mit leicht unsicheren Schritten, wie wenn man zu lang in der Sonne gelegen hat. Sie hatte den ganzen Vormittag mit einem jungen Fischer verbracht, sie waren auch auf seinem Boot im Hafen gewesen, doch das sollte Adriana mir erst viel später erzählen. Ich stelle mir ihre noch verträumten Augen vor, als unser Vater ihr plötzlich in den Weg trat.

»So wie sie uns behandelt haben, wär’s besser gewesen, sie hätten überhaupt keine Kinder gekriegt«, hatte sie gesagt, während sie wütend in meiner Küche Tomaten aufschnitt.

Wie oft sie geschwänzt hatte, erwähnte sie nicht, und ich erinnerte sie nicht daran. Es hätte niemals das Verhalten unserer Eltern rechtfertigen können.

»Ich komm nicht mit, das kannst du vergessen«, sagte meine Schwester abschließend, als wir uns zu Tisch setzten.

Doch dann änderte sie im unpassendsten Moment ihre Meinung. Ich packte gerade einen kleinen Koffer für zwei Tage mit Piero in Rom. Es gefiel mir, ihn zu Tagungen in den Kunststädten zu begleiten, für uns war das immer noch wie kurze Flitterwochen.

»Morgen passt es mir«, sagte Adriana, als sie an meinem Zimmer vorbeiging.

Schon hatte sie unsere Gewohnheiten durcheinandergebracht, wie sie es immer bei allen macht, die um sie herum sind.

»Fahrt nur, bevor sie es sich anders überlegt«, riet mir Piero.

Am nächsten Morgen brachen wir alle früh auf. In letzter Minute gab er mir seinen Vortrag zu lesen, ein Abschnitt kam ihm etwas wirr vor. Wir beugten uns über den Tisch, um den Text zu korrigieren, ich verschlankte ihn etwas und strich Wiederholungen heraus.

»Ohne meine Professorin wäre ich verloren«, scherzte er.

Im Flur wartete Adriana schon, das Kind auf dem Arm und die Tasche umgehängt, ihre Ungeduld wehte zu uns herüber.

»Aber tu mir den Gefallen und streite nicht mit ihr«, sagte Piero, während er die Blätter wieder an sich nahm.

Sehnsüchtig sah ich ihm nach, wie er davonging.

Wir waren nicht mehr die kleinen Mädchen, die den Rückweg aus der Höhe eines Busses verfolgten. Das Unkraut am Straßenrand war jetzt ganz nah, Adriana konnte es mit der flachen Hand berühren, die sie durchs Autofenster in den Luftstrom streckte. Sie war so lange nicht mehr hier entlanggefahren, alles kam ihr anders und merkwürdig vor.

An der Kurve mit dem Bagger bat sie mich mit einem Zeichen, am Rand anzuhalten. Der Ort war nicht mehr so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Nirgends weideten Kühe, der Stacheldrahtzaun war hier und da eingebrochen. Am Bauernhaus waren alle Fenster geschlossen, und rundherum fehlten die Bauern bei der Arbeit.

Wir sahen ein weites Feld mit Sonnenblumen, alle zum Horizont hin gewandt, wo jeden Morgen die Sonne erschien. In dieselbe Richtung war vor vielen Jahren unser Bruder durch die Luft geschleudert worden, vom ins Schlingern geratenen Motorrad auf die Eisenstacheln, und auf seinem verletzlichsten Teil, dem Hals, aufgekommen,.

»All diese Blumen sind für deinen Onkel Vincenzo«, sagte Adriana zu ihrem Sohn, als sie aus dem Auto gestiegen war.

Sie hob ihn hoch bis zu den Blütenkronen, die uns überragten, und er berührte eine davon. Gebannt blieben wir einen Moment vor diesem Anblick stehen. Sicherlich hatte beim Säen niemand an den Jungen gedacht, der in einem fernen Herbst hier gestorben war, aber es schien wirklich so, als wären die Sonnenblumen ihm gewidmet.

Als ich wieder anfuhr, machte meine Schwester andeutungsweise drei Mal das Kreuzzeichen, auf der Stirn, dem Mund und der Brust, und hauchte zuletzt auf ihren Zeigefinger einen Kuss, den sie durchs Fenster dem Feld zuwarf. Dann fuhren wir schweigend bis ins Dorf hinter einem Lastwagen her, da sich zwischen den Kurven kein Raum zum Überholen fand.

»Die sind bestimmt unten«, vermutete Adriana, als ihr bei unserer Ankunft vor dem Haus ein vertrauter Geruch in die Nase stieg.

Der Schuppen war offen, unser Vater stand draußen und wendete mit bloßen Händen die Peperoni über der Glut, indem er sie am Stiel anfasste. Am Boden ein halb voller Korb mit rohen Früchten, auf einer umgedrehten Obstkiste lagen auf einer ovalen Platte ein paar schon geröstete. Er benutzte die linke Hand wie eine Zange, da er in seiner letzten Zeit als Arbeiter in der Ziegelei Zeige- und Mittelfinger verloren hatte.

Sie saß drinnen, gleich an der Tür, dem Morgenlicht zugewandt, mit einem Holzbrett auf den Knien, auf dem sie die Peperoni häutete und die Samen herausschabte. Sie sah uns sofort, als wir vom Platz herunterkamen, Adriana hinter mir mit dem Kind im Arm. Einen Augenblick hielt unsere Mutter mit dem Messer in der Luft inne, dann senkte sie den Kopf und schabte hastiger.

Als ich ihnen Guten Tag sagte, schwieg sie, sie musste wohl auch mir böse sein, da ich inzwischen nur noch anrief und den gewohnten wöchentlichen Besuch ausfallen ließ.

»Also bist du gar nicht gestorben«, sagte unser Vater, ohne Adriana anzusehen oder ihren Gruß zu erwidern. Dann hantierte er weiter mit dem Korb, der Kohle und der Platte.

Mit einer seiner Stimmübungen lenkte Vincenzo die Aufmerksamkeit auf sich und streckte sich all diesen Neuigkeiten entgegen. Der ahnungslose Großvater sah ihn schief an, ohne Sympathie.

»Schleppst du jetzt sogar die Bälger mit, die du hütest?«, fragte er seine Tochter.

»Ja bist du denn blind? Siehst du nicht, dass es ihr aus dem Gesicht geschnitten ist, siehst du nicht, dass es ihr Kind ist?«, schrie unsere Mutter ihn an und warf das Brett samt Messer auf den Zementboden.

Sie sprang ruckartig auf und fuhr sich mit den schmutzigen Händen übers Gesicht, von der Stirn abwärts. Ich trat zu ihr, um sie zu besänftigen, und sie stieß mich weg, doch gleich darauf packte sie mich an der Schulter und schüttelte mich.

»Dir hab ich vertraut, aber du hast dir lieber die Zunge abgebissen, als uns was zu sagen«, brüllte sie mich an.

Ich fühlte die Speicheltropfen auf der Haut, die Wut, die sie auf mich übertrug, um Adriana zu schonen, die durch das Kind, das sie auf dem Arm trug, geschützt war. Ein so kleines Kind war auch hier heilig.

Jemand beugte sich aus dem Fenster, eine Nachbarin fragte von oben, was los sei. Meine Mutter lockerte den Griff, dann ließ sie mich los. Sie schickte sich an, in die Wohnung zu gehen, doch nach ein paar Metern blieb sie stehen, um Atem zu holen, eine Hand in die Seite gepresst. Da zischte Adriana zwischen den Zähnen: »Sie hat keine Schuld, sie wusste es auch nicht.«

Vincenzo begann zu weinen.

»Was machen wir jetzt? Soll ich ihn oben füttern, oder sollen wir gleich wieder gehen?«, fragte sie unseren Vater. Sie überspielte die Anstrengung, ihre Stimme zu kontrollieren, um nicht selbst in Tränen auszubrechen oder loszuschreien.

»Wo willst du denn sonst mit ihm hin, in die Bar?«, erwiderte er. Grimmig ging er vor uns her: wie ein zorniges Familienoberhaupt, das eingedenk des alten Gastrechts den Weg zum Obergeschoss frei macht.

Sie ließen uns mit dem Kind allein und gingen wieder hinunter, um die Arbeit zu beenden. Adriana wickelte es und ich kochte unterdessen die Nüdelchen, dann legten wir es im Schlafzimmer der Großeltern ins Bett und ließen die Tür offen, damit wir hörten, wenn es aufwachte. Das Zimmer, das wir als Mädchen mit den Brüdern geteilt hatten, war zu, sie ging hinein. Unser Stockbett fehlte, über Sergios Bett lag eine wollene Steppdecke: Es war Winter, als er die letzte Nacht darin geschlafen hatte, bevor er nach Libyen gegangen war. Von den anderen keine Spur, Domenico lebte auf dem Land und Giuseppe in einem Pflegeheim. Ohne sie war die Wohnung sauberer, ordentlicher, die Eltern waren allein. Doch noch immer horteten sie Vorräte für eine zahlreiche Familie, die sie nicht mehr hatten.

Mit automatischen Bewegungen nahm Adriana die getrocknete Wäsche von der Leine auf dem Balkon ab, begann sie zu falten und legte sie auf einen Stuhl. Sie trat zur Seite, als unsere Mutter beladen mit zum Einfrieren bereiten, in Beutel abgepackten Peperoni hereintrat. Einige hatte sie auf einer Platte für das Mittagessen bereitgelegt, ein verschnürtes Päckchen fand ich später in meiner Handtasche, für Piero, der diese Peperoni so gern mochte. Sie breitete die karierte Decke über den Tisch und stellte vier Teller darauf. Mit einem Nicken zur Besteckschublade befahl sie mir weiterzumachen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie zwischen den beiden Zimmern hin- und herging, noch mehr Kissen brachte für die Sicherheitsschranke rund um Vincenzos Schlaf. Dann kehrte sie in die Küche zurück, würzte rasch die Peperoni: Öl und Salz, Knoblauch und gehackte Petersilie.

»Nimm den Hut runter und schneide Brot auf«, sagte sie zu Adriana, ohne sich umzudrehen.

Meine Schwester gehorchte, ihr wenige Millimeter langes Haar wurde ignoriert. Stumm setzten wir uns an die vier Seiten des Tisches, nur das Stühlerücken war zu hören. Auch im Sitzen schwitzte man.

»Gibt’s keinen Wein oder habt ihr ihn vergessen?«, fragte unser Vater irgendwann.

Ich erhob mich, hinter dem Vorhang unter dem Spülbecken fand sich noch ein Rest in einer Flasche. Ich goss ihm den Rotwein ins Glas, danach war keiner mehr übrig. Er trank ihn und schnalzte mit der Zunge, während er Adriana am anderen Kopfende des Tisches betrachtete, die mit dem Brot das schmackhafte Öl auftunkte.

»Wie hast du deinen Sohn genannt?«

»Vincenzo.«

Unsere Mutter hielt sich die Hand vor den Mund und stand auf. Sie machte ein paar Schritte Richtung Schlafzimmer, dann muss ihr eingefallen sein, dass dort ja das Kind lag. Sie schloss sich im Zimmer der Jungen ein.

»Ist der Vater schon über alle Berge?«, fing er in der darauffolgenden Stille wieder an.

Vom Platz tönten Stimmen herauf, ein lautes Lachen. Ohne Adriana, die nicht antwortete, aus dem Auge zu lassen, schob er den leeren Teller von sich weg.

»Und wie ziehst du ihn jetzt groß?«, beharrte er.

Sie richtete sich auf, legte die Brotrinde, die sie in der Hand hielt, auf die blau karierte Tischdecke.

»Besser als du mich großgezogen hast, wetten?«

Als das Kind erwachte, brachen wir sofort auf. Beim Starten sah ich unsere Mutter im Rückspiegel. Hätte ich sie nicht aufgefordert einzusteigen, wäre sie zu Fuß losgegangen wie immer, zwei Kilometer hin und zwei zurück, oder jemand aus dem Dorf hätte sie mitgenommen. Am Friedhof stieg sie wortlos aus. Es war das letzte Mal, dass Adriana sie sah. Ihre ungewöhnliche Intuition ließ sie im Stich, sie erkannte kein warnendes Zeichen in der gebeugten Gestalt, die zwischen den Zypressen den Kiesweg hinaufschritt. So haben sie den Groll nicht beseitigt, haben sich nicht verabschiedet und nicht mehr in Frieden umarmt.

Adriana war zu weit vom Tod entfernt, um ihn vorauszuahnen, und wie alle jungen Menschen vertraute sie auf die Unsterblichkeit der Eltern.

Borgo Sud

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