Читать книгу Clarissa - Der Auftrag (Band 1) - Doreen Köhler - Страница 11

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Kapitel 7

Beschämt betrat ich mein Zimmer, warf mich aufs Bett und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Ich war so blöd. Am liebsten hätte ich mich geohrfeigt und wäre dem Jungen nie wieder unter die Augen getreten.

Wie konnte mir so etwas Tollpatschiges bloß passieren? Was machte so ein halber Porno überhaupt in einem anständigen Internat? Und warum musste ich aus tausenden - wirklich tausenden - von Büchern, ausgerechnet nach dem greifen?

Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, richtete ich mich wieder auf. Sofort fiel mein Blick auf meinen noch nicht ausgepackten Koffer. Wenn ich bloß daran dachte, dass ich meine Sachen noch einräumen musste, drehte sich mir der Magen um. Doch irgendwann musste es sowieso gemacht werden, also gab ich mir einen Ruck und ließ mich gelangweilt neben den Koffer und meinem Rucksack auf den Boden plumpsen. Als ich ihn öffnete, fiel mir ein Bild von mir und meiner Mutter in die Hände. Behutsam strich ich mit meinem Zeigefinger über den blau schimmernden Rahmen. An dem Tag, an dem es geschossen worden war, waren wir an der Nordsee gewesen. Wir hatten dort für eine Woche Urlaub gemacht, und ich erinnerte mich daran, als wäre es erst gestern gewesen.

Ganz vorsichtig stellte ich das Bild auf den Nachttisch. Meine Mutter sah wunderschön aus. Ihre haselnussbraunen Haare und ihr strahlendes natürliches Lächeln, hatte sie an mich vererbt, das meinte mein Vater immer. Und er hatte recht, abgesehen von den Augen, ihre waren schokobraun, meine himmelblau, sah ich ihr sehr ähnlich.

Nachdem ich auch all meine anderen Sachen an den richtigen Platz geräumt hatte, schüttelte ich erst den Koffer und dann den Rucksack kopfüber aus, um sicher zu gehen, dass ich auch alles ausgepackt hatte.

Dabei flog etwas klimpernd auf den Boden. Mein Armband.

Schniefend hob ich es auf. Das Armband hatten meine Mutter und ich uns in einem Souvenirladen gekauft, kurz bevor wir von der Nordsee wieder nach Hause gefahren waren. Da meine Mutter und ich meistens den gleichen Geschmack gehabt hatten, hatten wir uns beide eins in Silber ausgesucht. Wie das Foto trug dieses Armband so unendlich viele Erinnerungen an sie, und aus Angst es zu verlieren, legte ich es auch hier - wie zu Hause - in die Nachttischschublade, anstatt es zu tragen.

Meine Mutter hatte ihr Armband an ihrem Todestag getragen. Ich hatte keine Ahnung, wo es geblieben war. Meine Vermutung war ja immer noch, dass es sich bei dem Angriff in den Klauen des Monsters verfangen und das Ungeheuer es mitgerissen hatte.

Seufzend legte ich mich aufs Bett. Ich hatte noch eine Stunde, bevor das Abendessen anfing, und bis dahin wollte ich mich noch ein bisschen ausruhen.

»Was haben wir noch gleich in der ersten Stunde?«, fragte ich Laura am nächsten Morgen beim Frühstück.

Dummerweise hatte ich gestern vergessen mir den Wecker zu stellen und das Abendessen verpasst, aber Laura hatte mir das Gott sei Dank nicht übelgenommen.

»Ich glaub Geschichte«, versuchte sie mir mit vollgestopftem Mund mitzuteilen. Schon beim Mittagessen am Vortag war mir aufgefallen, dass sie nicht gerade die besten Essmanieren hatte, aber das störte mich nicht.

»Ich hole mir noch einen Orangensaft. Magst du auch?«

Sie schüttelte den Kopf.

Ich schnappte mir mein leeres Glas, stand auf und ging zum Getränkespender, um es aufzufüllen. Während der Saft im Zeitlupentempo tröpfelte, schaute ich mich um und entdeckte Cody, der wieder mutterseelenallein in einer Ecke der Cafeteria hockte. Ich war so in seinen Anblick vertieft, dass ich gar nicht mehr an den Orangensaft dachte, bis ein Junge, der hinter mir stand, mich durch ein leichtes Tippen auf meiner Schulter darauf aufmerksam machte.

Ich bedankte mich bei ihm mit geröteten Wangen, nahm das übervolle Glas und balancierte es vorsichtig zu meinem Platz zurück.

Wie oft hatte ich jetzt eigentlich noch vor, mich zu blamieren?

»Da kommen Josh und Isabelle, von denen ich dir erzählt habe«, rief Laura, kaum dass ich wieder am Tisch saß.

Das Mädchen, das in Begleitung eines dunkelhäutigen Jungen auf unseren Tisch zusteuerte, hatte ihre blonden Haare zu einem Seitenzopf zusammengebunden. Ihr Modestil war im Gegensatz zu Lauras sehr speziellen Style eher schlicht. Der Junge neben ihr, hatte ein bisschen was vom jungen Will Smith.

Beide wirkten auf den ersten Blick total sympathisch. Trotzdem hatte ich Panik vor dem Kennenlernen. Ich war einfach nicht sonderlich geübt in so etwas. Aus Verlegenheit schaute ich zu Laura, die den beiden grinsend winkte.

»Hallo«, sagte sie, als das Mädchen und der Junge sich mit ihren Tabletts zu uns setzten. »Darf ich vorstellen, das ist Clarissa, meine neue Freundin. Sie möchte aber, dass wir Lissa zu ihr sagen.«

Bei dem Wort Freundin ging mir das Herz auf und mein Magen fühlte sich angenehm warm an. Wann hatte mich zuletzt jemand so genannt?

»Hi, wir sind Josh und Isabelle«, stellte das Mädchen sich und ihren Begleiter gleich mit vor. Dabei schenkte sie mir ein Lächeln, dass auch ihre hübschen blauen Augen erreichte.

»Hey«, begrüßte mich auch der Junge freundlich.

»Hallo.« Ich lächelte schüchtern zurück und sah dann schnell wieder auf meinen Teller.

»Wieso haben wir dich nicht schon gestern beim Abendbrot kennengelernt?«, fragte mich Isabelle, ohne dass es als Vorwurf klang, während sie in ihr Marmeladenbrötchen biss.

»Ich war gestern nach dem Koffer auspacken so müde, dass ich einfach eingeschlafen bin«, gestand ich zögernd. Würden sie mich gleich auslachen?

Doch ich wurde angenehm überrascht.

»So ein erster Tag ist immer echt anstrengend«, stimmte mir Isabelle lächelnd zu, »war bei mir auch so.« Doch plötzlich verschwand ihr Lächeln und sie runzelte die Stirn. »Was schlingst du denn so, Josh?«

»Hast du mal auf die Uhr geguckt?«, gab der zurück und spülte den Rest seines Brötchens hastig mit Orangensaft hinunter.

»Oh, schon kurz vor acht.« Jetzt wurde auch Isabelle hektisch. »Wir müssen uns echt beeilen.«

»Unbedingt. Ich hab nämlich keine Lust auf Strafarbeit«, murmelte Josh angewidert.

»Was für Strafarbeiten?«, platzte es aus mir heraus.

Laura wollte mir antworten, doch Isabelle kam ihr zuvor. »Sobald man auch nur eine Sekunde zu spät kommt oder seine Hausaufgaben nicht hat, muss man seine Freizeit mit Gartenarbeit verbringen. Hier herrschen sehr strenge Regeln, weißt du?«

Jetzt, wo ich mich so umsah, fiel mir auf, wie sehr sich der Saal in den letzten fünf Minuten geleert hatte.

Also sprangen auch wir auf, brachten unser schmutziges Geschirr weg und machten uns auf den Weg zu den Klassenräumen. Hastig verabschiedeten sich Isabelle und Josh von uns und wir sprinteten weiter.

Kurz bevor Frau Lamin die Tür schloss, erreichten auch Laura und ich unseren Raum und huschten zu unseren Plätzen.

»Glück gehabt«, sagte die Direktorin mit kühler Stimme und Laura und ich konnten uns bei ihrem missmutigen Gesichtsausdruck das Grinsen nicht verkneifen.

Frau Lamin trat vor die Tafel und wurde von uns artig begrüßt.

»Heute habe ich eine Überraschung für euch«, erklärte sie.

»Das kann nichts Gutes heißen«, flüsterte mir Laura ins Ohr.

Keine Ahnung wieso, aber ich musste kichern.

»Diese Klasse wird in etwa drei Wochen für drei Tage campen gehen.«

Wie auf Knopfdruck jubelten alle außer mir und es herrschte ein Durcheinander, wie in einem Magen beim All-You-Can-Eat-Buffet. Alle fingen an miteinander zu diskutieren, offenbar um jetzt schon die Zeltpartner abzumachen.

Wieder mal schaute ich zu Cody, um seine Reaktion zu beobachten. Doch auch diesmal reagierte er gar nicht. So langsam fing ich an zu glauben, dass er irgendein psychisches Problem hatte. Irgendwann musste er doch mal Gefühle zeigen. Ich konnte mir nicht erklären warum, doch es tat mir irgendwie weh, dass ihn niemand fragte und auch er auf niemanden zu ging, um Zeltpartnerschaften zu schließen.

»Ruhe«, donnerte Frau Lamin und sofort waren alle wieder auf ihren Plätzen und still.

Es ging auch den Rest der Stunde um die Organisation des vorgesehenen Zeltausfluges, bis es schließlich zur Pause klingelte.

Laura sprang auf. »Versprichst du es mir?«, fragte sie mich und stützte sich von hinten auf meine Schultern.

»Was soll ich dir versprechen?« Ich drehte mich zu ihr um.

»Na, dass wir zusammen in ein Zelt gehen.«

»Klar.« Ich lächelte sie ehrlich erfreut an. Obwohl ich ihr erst gestern begegnet war, hatte ich das Gefühl, dass wir uns schon ewig kannten. Und es war ein großartiges Gefühl, endlich eine richtige Freundin zu haben.

Als wir später am Tag in der großen Pause über das Schulgelände schlenderten, beobachtete ich Jessica, wie sie sich mit ihren beiden Freundinnen mal wieder an Cody ranmachte. Wie ich erfahren hatte, hießen sie Rachel und Juliet. Sie gingen ebenfalls in meine Klasse.

Ich wollte es nicht wahrhaben, doch ich verspürte so etwas wie Eifersucht, gleichzeitig aber auch Angst, während ich sie mit Cody zusammen sah. Angst, dass er nichts von mir wissen wollte.

»Sprich ihn an.«

»Was?« Ich drehte mich zu Laura um und starrte sie an. »Hast du mir nicht geraten, ich soll die Finger von ihm lassen?«

Sie nickte. »Raten würde ich es dir, aber ich habe noch mal drüber nachgedacht. Vielleicht solltest du es einfach doch versuchen. Heißt es nicht: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren?«

Wie recht sie hatte.

»Vor allem, weil du offensichtlich ja so hoffnungslos verknallt bist, dass du beim Frühstück sogar deinen Saft vergisst und dich erst Paulus daran erinnern musste.«

Wie peinlich, Laura hatte es mitbekommen. Hoffentlich nur sie!

»Wenn du willst, helfe ich dir ein Date mit ihm klar zu machen«, bot sie mir an.

Mein Herz pochte unterschiedlich schnell. »Ähm, also, ich weiß ja nicht …« Obwohl, das war eigentlich meine Chance. Allein traute ich mich nämlich sowieso nicht ihn anzusprechen. Etwas Hilfe wäre nicht unbedingt schlecht, also stimmte ich zu.

»Okay, abgemacht!« Laura grinste und rieb ihre Hände aneinander. »Operation Date mit Cody kann beginnen. Ich hab sogar schon einen Plan.«

»Und welchen?«

»Wir veranstalten in der Sporthalle eine Party. Natürlich so, dass die Lehrer es nicht mitkriegen.« Sie zwinkerte mir zu.

»Und dann?« Ich kapierte nicht, wie mir das mit Cody helfen sollte.

»Dann fragst du ihn einfach, ob er mit dir tanzen will«, schlug sie vor, als wenn es das Normalste auf der Welt wäre, einen so gut aussehenden Typen wie Cody einfach nach einem Tanz zu fragen. Dann konnte ich ihm ja auch gleich einen Heiratsantrag machen. Das wäre ein genauso lächerlicher Plan.

»Aber fordert nicht eigentlich immer der Junge das Mädchen zum Tanzen auf?« Ich fand eigentlich diese Jungs-machen-das-und-Mädchen-das-Sache ziemlich albern, aber ich brauchte eine Ausrede. Laura war schließlich meine Freundin und ich konnte ihr ja schlecht direkt ins Gesicht sagen, dass ihr Plan ein totaler Reinfall war.

Sie zuckte mit den Schultern. »Was ist? Willst du ihn nun oder soll Jessica ihn bekommen?«

Verunsichert riskierte ich wieder einen Blick zu Cody hinüber, der immer noch von Jessica und ihren Freundinnen belagert wurde. Prompt fiel mir die peinliche Situation in der Bibliothek wieder ein. Wahrscheinlich hatten Rachel und Juliet und vielleicht auch Cody Jessica bereits davon berichtet und ich wollte gar nicht darüber nachdenken, wer inzwischen sonst noch alles davon wusste.

Aber wieder war mir klar, ich hatte keine Wahl.

»Na gut, wenn es sein muss«, stimmte ich Lauras Idee schließlich zu. Vielleicht kam ich ja doch noch irgendwie aus dieser verrückten Nummer raus.

»Geht doch«, meinte sie zufrieden.

Angespannt biss ich mir auf meine Unterlippe. Das tat ich immer aus Gewohnheit. Gut, dass ich nie ohne einen Lippenpflegestift loszog. Ohne den würden meine Lippen nämlich so aussehen, als wäre ein Rasenmäher darübergefahren.

Als die Schulglocke läutete, kehrten wir ins Klassenzimmer zurück und quälten uns durch den Rest des Unterrichts.

Nach der letzten Stunde machten wir uns dann ausgehungert auf den Weg in die Cafeteria. Laura trippelte voran und war vor Aufregung wegen ihrer geplanten Party ganz außer sich. Ich schlurfte nur langsam hinter ihr her. Nebenbei überlegte ich, wie ich aus der ganzen Sache wieder herauskommen konnte.

Im Speisesaal angekommen, schnappten wir uns jeder einen Teller Milchreis und setzten uns wieder auf Lauras Stammplatz, ganz nach hinten. Ich mochte den Platz. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf Cody. Bis jetzt war er allerdings noch nirgends zu sehen.

»Das wird so genial.« Laura schob ihren Teller zur Seite und holte einen Zettel und einen Bleistift aus ihrer Tasche. »Alsooo, was brauchen wir alles für die Party?« Vor Aufregung konnte sie nicht still sitzen bleiben und zappelte auf ihrem Stuhl, als hätte sie Hummeln im Hintern.

Ich zuckte nur mit den Schultern und stocherte gelangweilt in meinem Milchreis herum, bis sich plötzlich ein großer Schatten über meinem Teller ausbreitete. Erwartungsvoll schaute ich nach oben.

Cody!

Es war tatsächlich Cody, der vor unserem Tisch stand und mich anschaute. MICH.

Mir blieb fast der Milchreis im Hals stecken, weshalb ich kurz husten musste. Einen richtigen Anfall konnte ich aber gerade noch so unterdrücken.

»Du hast gestern deinen Block in der Bibliothek vergessen.« Er holte meinen Zeichenblock aus seiner Tasche heraus, auf dem ganz fett gedruckt mein Name zu lesen war und legte ihn auf den Tisch.

Mir fiel wieder ein, dass ich ihn da gestern tatsächlich liegen gelassen hatte, weil ich vor lauter Verlegenheit so schnell aus der Bücherei gestürmt war.

»Oh, danke«, stotterte ich und lächelte unsicher. Sag noch was. Sag irgendwas. IRGENDWAS.

Doch bevor mir etwas einfiel, ging er.

Tolles Gespräch! Nicht mal mein Lächeln hatte er erwidert.

»Da ist jemand aber richtig verknallt«, sang Laura laut.

Etwas zu laut, weshalb ich sie unter dem Tisch trat und einen warnenden Blick auf sie abfeuerte.

Während Laura sich vollstopfte und nebenbei weiter ihre Notizen machte, aß ich langsam auf und beobachtete Cody. Er setzte sich wieder an denselben Tisch wie am Vortag. Wieder allein. Plötzlich drehte er den Kopf und sah zu uns rüber. Schnell blickte ich auf meinen Teller und aß hektisch weiter, wobei ich mich noch einmal verschluckte. Ich fing kräftig an zu husten. »Wasser«, keuchte ich. Verdammt, warum hatte ich mir nichts mitgebracht zu meinem Milchreis?

Laura blickte zu mir und griff sofort nach ihrem eigenen Becher. »Hier, trink das.«

Gierig kippte ich die Flüssigkeit in einem Zug runter. Nachdem es wieder einigermaßen ging, schnappte ich jedoch erneut nach Luft. »Was war das eigentlich?«, fragte ich nervös und deutete auf den leeren Becher. Irgendwie kam mir der Geschmack bekannt vor, aber …

»Bananensaft«

»Was? Ich bin gegen alles was mit Bananen zu tun hat allergisch«, jammerte ich panisch und fing wieder an zu husten. Schreckliche Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Zum Beispiel als meine Mutter zu meinem Geburtstag den Kuchen mit dem Fertigboden gemacht hatte, in dem Spuren von Bananen enthalten gewesen waren. Danach hatten wir in die Notaufnahme gemusst, weil sich auf meiner Haut überall rote und schrecklich juckende Flecken gebildet hatten. Außerdem war es mir den Rest des Tages total mies gegangen und ich hatte ständig das Gefühl gehabt, mich übergeben zu müssen. Einen Tag später hatten wir dann aber mit einem Erdbeerkuchen nachgefeiert.

»Ups«, meinte Laura mit einem erschrocken-entschuldigenden Blick, während ich aufsprang.

Ich musste hier schnellstens raus, sonst würde ich mich mitten in der Cafeteria übergeben. Mein Pech war nur, dass ich in meiner Hektik nicht auf meine Umgebung achtete. Ich stieß gegen jemanden, es schepperte und ein Tablett, ein Löffel und eine Portion Milchreis samt Teller flogen durch die Luft. Vor Panik blieb mir das Herz stehen, als alles auf den Boden krachte. Ich starrte mit offenem Mund Jessica an, von deren rosa Shirt Milchreis tropfte, und die mich ihrerseits aus zusammengekniffenen Augen fixierte. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich sofort umgefallen.

»Sag mal spinnst du?«, schrie sie empört.

Ich fühlte, wie sich der Würgereiz in meinem Hals verschärfte. »Sorry.« Schnell presste ich mir die Hand auf den Mund und stürzte an ihr vorbei Richtung Ausgang. Für sie musste es so aussehen, als würde ich mich vor ihrem Wutausbruch drücken, aber wenn sie den wahren Grund für mein Verschwinden gekannt hätte, wäre sie mir bestimmt dankbar gewesen, dass ich nicht vor ihr stehen geblieben war. Mir war so schlecht, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich brechen musste.

Kaum hing mein Kopf dann auch über der Toilettenschüssel, sprudelte es auch nur so aus mir raus. Am liebsten wäre ich gestorben, so übel war mir.

Irgendwann ging es wieder. Ich wischte mir den Mund mit Klopapier ab, warf es in die Toilette und spülte. Ich hatte die Hand gerade an der Klinke der Kabinentür, als die Eingangstür des Toilettenraums mit einem Knall aufflog und ich die wütende Stimme von Jessica erkannte. Erschrocken zuckte ich zurück.

»Wie kann diese Göre es nur wagen, mich so zu behandeln?«, keifte sie. »Wenn ich die erwische, ich schwöre es euch, dann war das ihr letzter Tag hier auf der Läresson. Wie kann man nur so wenig Respekt vor mir haben?«

»Was hast du denn mit ihr vor?«, fragte eine ihrer Freundinnen schadenfroh. Es klang nach Juliet.

»Ich bin mir noch nicht so sicher, aber auf jeden Fall wird sie dafür büßen!«, zischte Jessica böse. »Gib mir mal Taschentücher, Rachel. Ich muss diesen Scheiß irgendwie von meinem Shirt kriegen.«

Ich hörte wie das Wasser angedreht wurde und wagte endlich wieder normal zu atmen, denn bei Jessicas Drohung hatte ich entsetzt die Luft angehalten. Ich hätte mich gerade glatt ein zweites Mal übergeben können. Was war, wenn mir Jessica den ganzen Plan mit Cody vermasselte?

Nachdem Jessica anscheinend die schlimmsten Spuren meiner Ungeschicklichkeit beseitigt hatte, verließ sie immer noch schimpfend mit ihren Freundinnen den Toilettenraum.

Ich wartete noch ein paar Sekunden, bevor ich mich aus meinem Versteck herauswagte und mir endlich die Hände waschen konnte.

Danach huschte ich schnell in mein Zimmer hoch. Ich hatte eine Nachricht von Laura auf meinem Handy, die sich noch einmal für den Saft entschuldigte und fragte, wie es mir ging. Ich beruhigte sie, aber als sie anbot, vorbeizukommen, lehnte ich ab. Ich hatte noch jede Menge Hausaufgaben und absolut keinen Bock auf irgendwelche Strafarbeiten für nichtgemachte Aufgaben.

Also setzte ich mich an den Schreibtisch. Allerdings war der Unterrichtsstoff an der Läresson viel schwieriger, als auf meiner alten Schule. Allein die Aufgabenstellung musste ich mehrmals lesen, um überhaupt zu kapieren, um was es ging. Ich war gerade kurz davor eine Matheaufgabe zu lösen, als es an meiner Zimmertür klopfte.

Ich sah auf die Uhr und staunte nicht schlecht, wie schnell die Zeit vergangen war. Gut eine Stunde saß ich schon an diesen verdammten Hausaufgaben und war noch nicht wirklich weit gekommen. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass meine Gedanken ganz woanders waren.

Es war glücklicherweise nicht Jessica, sondern Isabelle, die eintrat, als ich »Herein« rief. Diesmal trug sie eine Brille. Unter dem Arm hatte sie einen riesigen Ordner geklemmt. »Na du«, begrüßte sie mich und lächelte freundlich.

Ich lächelte leicht verwundert zurück. »Hey.«

»Ich wurde geschickt, um mich vorzustellen.«

»Ich kenn dich doch schon.« Ich lachte etwas unsicher, weil ich nicht wusste, ob sie das jetzt ernst meinte.

»Als Vertrauensschülerin vorstellen«, korrigierte sie sich.

»Vertrauensschülerin? Ich kenne nur Vertrauenslehrer.«

»Auf der Läresson ist halt alles anders. Die Lehrer finden Vertrauensschüler besser, da die Schüler lieber mit Leuten in ihrem Alter reden, anstatt mit Erwachsenen«, erklärte sie mir.

Da hatte sie recht. »Ach so, setz dich doch.« Ich deutete aufs Bett, während ich mich im Stuhl niederließ.

Sie nahm Platz und sah mich schmunzelnd an. »Wieso hast du Jessica heute in der Cafeteria eigentlich das Essen über ihr Outfit geschüttet?«

Ich spürte wie ich rot wurde. Das war mir ziemlich unangenehm. Vor allem Isabelle gegenüber. Ich wollte nicht, dass sie etwas Falsches von mir dachte. »Das war keine Absicht, ich hatte sie nicht gesehen«, verteidigte ich mich.

»Okay. Na ja auf jeden Fall, bin ich aus diesem Grund leider auch hier.«

Ich runzelte die Stirn. Hatte es sich schon so schnell herumgesprochen?

»Jessica hat dich leider beim Schulsekretariat verpetzt und als Strafe musst du morgen Nachmittag beim Gärtnern helfen.«

Ich stöhnte und sank noch tiefer in den Stuhl. »Na super!«

»Tut mir leid für dich.«

Ich schüttelte den Kopf. »So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Wirst du dann ja morgen erfahren«, meinte sie, während sie den großen Ordner auf meinem Bett ausbreitete und mir einen Zettel gab, auf dem eine Uhrzeit und ein Ort standen. »Du musst morgen um sechszehn Uhr im Hinterhof sein«, erklärte sie mir zusätzlich. »Dort wirst du auf Herrn Albert, den Hausmeister stoßen. Er ist ein kleiner kräftiger Mann mit grauem Bart und wird dir zeigen, was du alles zu erledigen hast«, Isabelle holte tief Luft, »aber keine Angst, du wirst dort mit Sicherheit nicht die Einzige sein.«

Hoffentlich hatte Jessica ihre Hausaufgaben in Mathe schon gemacht, nicht dass sie morgen auch noch Strafarbeiten machen musste. Das wäre das Letzte was ich gebrauchen konnte.

»Ähm … Isabelle?«

»Ja?« Sie blickte mich erwartungsvoll mit ihren leuchtend blauen Augen an.

»Wie lange dauert denn diese Gartenarbeit und weißt du eventuell auch schon, wer morgen alles Strafdienst machen muss? Ich meine, so als Vertrauensschülerin?«

»Also ich weiß nur, dass es meistens ein bis zwei Stunden geht, aber wer sonst noch arbeiten muss, weiß ich nicht.«

Ich nickte.

Sie stützte sich an der Bettkante ab und stand auf. »Na gut, ich muss dann mal wieder los.«

»Bis nachher beim Abendessen«, rief ich ihr noch hinterher.

Kaum war sie draußen, klingelte etwas in meiner Tasche. Hektisch durchwühlte ich sie. Es war nicht mein eigenes, sondern das altmodische Tastenhandy, das ich von dem unheimlichen Kerl bekommen hatte, der meinen Vater gefangen hielt.

Unbekannt stand auf dem Display.

Mit mulmigem Gefühl nahm ich den Anruf an. »Hallo?« Meine Hände und Stimme zitterten.

»Ich bin es«, ertönte eine dunkle Stimme.

»Wer?« Ich stellte mich dumm, in der Hoffnung, dass er mir aus Versehen vielleicht seinen Namen verraten würde.

»Netter Versuch«, meinte die Stimme, »aber ich verrate dir meinen Namen nicht.« Es herrschte Stille, bis der Entführer fragte: »Und? Wie läuft es mit Cody? Hast du ihn schon angesprochen?«

Auch wenn er es nicht sehen konnte, schüttelte ich traurig den Kopf. »Noch nicht ganz …«

»Dann beeil dich mal lieber. Du hast nicht ewig Zeit, schließlich hängt das Leben deines Vaters davon ab.«

Ich holte tief Luft. »Ich gebe mein Bestes«, murmelte ich erstickt und wischte mir eine Träne weg, die kurz davor war, meine Wange hinunter zu kullern.

»Das will ich stark hoffen.« Er lachte hämisch.

»Da- Darf ich meinen Vater denn wenigstens kurz sprechen?«, flehte ich.

»Sobald du deinem Ziel näher bist.«

Hatte dieser Kerl eigentlich ein Herz? Ich schluckte verzweifelt, um nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen.

»Ich ruf wieder an, und dann will ich Ergebnisse.« Mit diesen Worten beendete er das Telefonat.

Sofort sank ich zu Boden und lehnte mich gegen den Schrank. Mein Gesicht vergrub ich heulend in meinen Armen.

Wieso hatte er mich und nicht irgendjemanden ausgesucht, der wenigstens eine Chance bei Cody gehabt hätte? Warum hatte er nicht Jessica ausgewählt? Was wollte er von Cody und wieso antwortete mir nicht endlich jemand auf meine ganzen verdammten Fragen?

Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, zeichnete ich ein Portrait von meinem Vater. Vielleicht würde es mich ja trösten, wenn ich ein Bild von ihm, neben den Fotos meiner Mutter und mir, platzierte.

Mir fiel auf, dass sich meine Zeichenkünste in den letzten Jahren stark verbessert hatten. Aber was sollte man in einer Psychiatrie auch schon anderes machen, außer zeichnen?

Wenn ich das Bild so betrachtete, fielen mir aber schon noch ein paar Fehler auf. Die Nase sah noch etwas krüppelig aus und die Gesichtsform auf dem Papier ähnelte der meines Vaters auch noch nicht so ganz. Na ja, was sollte es, Übung machte den Meister.

Plötzlich fing mein Bauch jämmerlich an zu brummen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Cafeteria nur noch eine halbe Stunde geöffnet hatte. Eilig sprang ich vom Stuhl auf.

Als ich die Cafeteria betrat, sah ich mich suchend nach Laura und Isabelle um, die nirgends zu sehen waren. Nicht einmal Josh ließ sich auftreiben. Eigentlich hatte ich gehofft, sie trotz der späten Uhrzeit hier noch zu treffen, aber anscheinend waren sie schon fertig. Mist! Ich sehnte mich nach Ablenkung. Aber wenigstens waren Jessica und ihre Freundinnen auch nicht da.

Enttäuscht und beruhigt zugleich, nahm ich mir ein Nutella-Brot und ein Glas Wasser und setzte mich an unseren üblichen Tisch. Mir war zum Glück nicht mehr schlecht von dem Bananensaft, doch dafür hatte ich leicht juckende, rote Flecken.

»Hey, hab das von dir und Jessica heute Mittag gehört.« Josh setzte sich auf den Stuhl gegenüber von mir.

Anscheinend war ich doch nicht so allein. Allerdings bekam ich Gänsehaut, wenn ich an Jessicas Worte heute auf der Toilette dachte. Automatisch sah ich mich jetzt doch noch mal nach ihr oder ihren zwei Freundinnen um, die aber wirklich nicht da zu sein schienen.

Josh sah mich grinsend an. »Du hast Angst vor ihr, oder?«

»Das war keine Absicht«, fauchte ich leicht genervt.

»Sorry.« Er verdrehte die Augen.

»Nein, mir tut es leid. Ist gerade alles ein bisschen viel, so als Neue«, entschuldigte ich mich.

»Nehm ich dir nicht übel«, sagte er mit einem Zwinkern.

Ich überwand mich zu einem halbherzigen Lächeln.

Es herrschte eine Zeit lang Schweigen. Außerdem bemerkte ich, dass er mich die ganze Zeit anstarrte, so als hätte ich irgendwas im Gesicht kleben. Ohne ihn darauf anzusprechen, aß ich erst mein Brot zu Ende.

Nach einer Weile hielt ich seinen komisch bohrenden Blick aber nicht mehr aus. »Ist was?«, fragte ich schmatzend.

»Ich glaub dir ist noch gar nicht bewusst, in was für Schwierigkeiten du eigentlich steckst.« Er schüttelte den Kopf.

Ich schluckte. »Warum?«

»Na Jessica! Es war ein Fehler sich mit ihr anzulegen. Sie kennt keine Gnade«, warnte er.

»Danke«, murmelte ich zynisch. »Du weißt, wie man jemanden den Neueinstieg richtig angenehm macht.«

So elegant wie möglich stand ich auf und schlenderte in Richtung Geschirrwagen. Er erhob sich ebenfalls und lief mir hinter her.

»Glaub mir, sie ist gefährlich. Du kennst sie nicht.«

»Ich stellte das Geschirr ab und tat so, als würde mich das gar nicht interessieren und ging zum Ausgang.

Sie hat es sogar schon geschafft, dass ein Mädchen ihretwegen von der Schule geflogen ist.«

Er trottete mir immer noch hinterher. Allmählich wurde es lästig.

»Wieso erzählst du mir das alles?« Ich kniff meine Augen zu einem Schlitz zusammen und musterte ihn mit einem scharfen Blick.

Er zuckte die Schultern. »Ich wollte dich nur warnen. Mit ihr ist echt nicht zu spaßen.«

Clarissa - Der Auftrag (Band 1)

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