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7.4 Die Geschlechtsschema-Theorie

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Wenn schon kleine Kinder so rasch Geschlechtsstereotypen ausbilden, dann stellt sich für den Entwicklungspsychologen natürlich die Frage, wie sie entsprechendes Wissen so schnell erwerben und insbesondere auch, wie es zu den Vergröberungen kommt. Die Geschlechtsschema-Theorie (gender schema theory) versucht dies genauer zu erklären. Unter Geschlechtsschema versteht man eine organisierte Gesamtheit von Wissen, die sich aus vier Komponenten zusammensetzt: Kenntnisse über Verhaltensweisen, Rollen, Beschäftigungen und Merkmale (Martin, 1993; Martin & Halverson, 1981). Da diese Komponenten eng miteinander verknüpft sind, genügt schon eine relativ geringfügige Information, um das Geschlecht eines Handelnden beziehungsweise weitere Merkmale, die er besitzt, voraussagen zu können.

Nun organisieren Geschlechtsschemata nicht nur Wissen, sondern geben auch vor, wie neue Informationen, die man über das Geschlecht erhält, einzuordnen sind. Dabei besteht die Tendenz, das Wahrgenommene über einen Kamm zu scheren. Was dem bestehenden Wissen widerspricht, wird schlicht ausgeblendet oder umgedeutet. Wenn jüngere Kinder beispielsweise erfahren, ein Junge spiele gern mit Puppen, und gefragt werden, was er sonst noch gern macht, dann berücksichtigen sie nicht, dass sein Verhalten eigentlich dem Geschlechtsschema widerspricht, sondern rufen alles ab, was zum Stichwort »Junge« passt, geben beispielsweise an, dass er auch gern mit Eisenbahnen spiele. Auch die stereotype Verknüpfung bestimmter Berufstätigkeiten mit dem Geschlecht macht sich schon frühzeitig bemerkbar. So ist die Erwartung, eine Krankenschwester sei weiblich, so dominierend, dass ein männlicher Pfleger, dem man gerade begegnete, gar nicht als zu diesem Berufsstand gehörend wahrgenommen wird. Die abweichende Situation wird einfach schlechter erinnert. Generell hat das zur Folge, dass Kinder mehr auf geschlechtskonsistente Information achten als auf widersprüchliche. Hierin mag ein zentraler Grund für die Tendenz liegen, zu vergröbern, wie es gerade für die Stereotypisierung jüngerer Kinder kennzeichnend ist.

Kritisch ist gegen die Geschlechtsschema-Theorie einzuwenden, dass sie offenlässt, wie aus geschlechtsbezogenem Wissen geschlechtsadäquates Verhalten hervorgehen soll, wenn letzteres doch bereits auftritt, bevor entsprechendes Wissen überhaupt existiert.

Ann Campbell ist diesem Zusammenhang gezielt nachgegangen (Campbell et al., 2002). Dabei ergab sich, wie auch schon in früheren Untersuchungen, dass geschlechtstypisches Spielverhalten unabhängig von den einschlägigen Kenntnissen bereits bei jüngeren Kindern auftritt. Wir werden darauf im nächsten Abschnitt genauer eingehen. Anhänger der Geschlechtsschema-Theorie bemühen sich deshalb, ein möglichst frühes Wissen geschlechtsbezogener Inhalte, wie z. B. die Benennung des Geschlechts, nachzuweisen (Zosuls et al., 2009) und in Zusammenhang mit geschlechtstypischen Präferenzen zu bringen. Auf die Uneindeutigkeit solcher Beziehungsstiftungen wurde bereits in Kapitel 6.3 hingewiesen ( Kap. 6.3).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kinder sehr früh Rollenvorstellungen ausbilden, und zwar zuerst in Bezug auf Erwachsene und dann auf Gleichaltrige. Dieses Wissen bezieht sich allerdings in erster Linie auf äußerliche Attribute, also die körperliche Erscheinung und Kleidung, sowie auf Tätigkeiten. Für psychische Unterschiede, also Begabungen, Interessen, Motive und Emotionen, beginnen Kinder erst ab etwa dem neunten Jahr ein Verständnis zu entwickeln. Entsprechend der Tendenz, Informationen auszublenden, die nicht zum bereits ausgebildeten Geschlechtsschema passen, sind die Stereotype im Vorschulalter sehr rigide und erfahren erst beim Schulkind allmählich eine Differenzierung.

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