Читать книгу Das rote Seidenkleid - Dorothée Linden - Страница 12

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Lina schreckte aus ihrem unruhigen Schlaf auf, als die Wanduhr vier schlug. Schluss mit all der Erbärmlichkeit, raunzte sie. Schluss mit diesem erbärmlichen Zimmer, Schluss mit dem erbärmlichen Leben, Schluss mit den erbärmlichen Pillen. Sie wollte es versuchen. Sie würde einen Schlussstrich ziehen unter den quälenden Kreislauf ununterbrochener Selbstanklage. Ihre Tochter würde nicht zurückkommen, auch wenn sie es sich noch so sehnlichst wünschte. Ihr ganzer zusammengeballter Wille würde es nicht schaffen, das Mädchen je zurückzubringen.

Sie nahm ihren Rucksack, bezahlt hatte sie schon am Abend, und schlich barfuß aus dem Haus. Als sie in ihrem Auto saß, atmete sie tief durch. Sie brauchte einen Plan.

Du brauchst überhaupt keinen Plan! Überrascht nahm sie zur Kenntnis, dass sich in ihr eine Stimme regte, die sich ihr zu widersetzen wagte. Sie startete den Motor und fuhr los, aber nur wenige hundert Meter später machte sie vor einem öffentlichen Meerwasserschwimmbad wieder Halt. Jetzt war es in Kathmandu früh am Vormittag und günstig, um mit Benny zu sprechen. Sie stieg aus und kramte nach dem Handy. Wo hatte sie es bloß verstaut? Nachdem sie den kompletten Inhalt ihrer beiden Rucksäcke ausgeleert und alles durchwühlt hatte, gestand sie sich ein, dass sie es nicht bei sich hatte. Was sollte sie nur ohne ihr Handy machen? Niemand konnte sie erreichen! Und umgekehrt war es auch nicht besser. Außer der Nummer zu Hause hatte sie keine einzige andere im Kopf. Ein kurzer Gedanke an Umkehr durchfuhr sie.

Nein, sagte die unbekannte Stimme, Benny vermisst dich nicht, es geht ihm gut. Es geht ihm sogar viel besser, wenn er seine klammernde Mutter nicht im Nacken spürt.

Lina packte alles wieder ein, stieg in den Wagen und kurvte eine Weile ziellos herum, bis sie sich dazu entschloss, das Auto in einer Seitenstraße abzustellen. Sie wickelte ihr Bargeld in ein Seidentuch, das sie sich fest um den Bauch band, stopfte einen der beiden Rucksäcke so voll es ging und ließ den Rest im Kofferraum liegen. Sie sperrte ab und lief zum Hafen. Dort suchte sie lange nach einer Möglichkeit, Fahrkarten zu kaufen, bis sie schließlich einen Automaten entdeckte, der ihr ein Ticket nach Bagenkop auf Langeland auswarf.

Um fünf Uhr zehn stand Lina Haussmann vorn an Deck einer Personen- und Autofähre und sog die frische Meeresluft in ihre Lungen. Mit seinem tief brummenden Motor entfernte sich das Schiff durch das ruhige Wasser der Ostsee vom Festland weg. Sie schaute zurück zu der Silhouette des Hafens, die stetig kleiner wurde und sich in Unschärfe verlor, bis kein Land mehr zu sehen war. In der diesigen Morgenluft tauchte es eine Weile später weit voraus wieder auf, als undeutlicher Schemen, der nach und nach an Kontur gewann und schließlich einen bewaldeten Küstenstreifen erkennen ließ, mit hohen, schlanken, vom Wind geformten Bäumen, die nicht nach Kiefern aussahen, möglicherweise waren es Eichen.

Die Fähre drehte scharf nach rechts, fuhr durch eine schmucklose Hafeneinfahrt und legte an einer langen Kaimauer an, gegenüber von Frachtschiffen mittlerer Größe. Lina ging von Bord und schaute sich um. Aneinandergereihte Häuschen in dunklem Rot mit weißen Fenstern machten den Eindruck, als habe jemand große Legosteine verbaut; der Wachtturm in denselben Farben verstärkte dieses Bild. Der Innenhafen lag voll mit weißen Segelyachten, auf denen der Tag noch nicht erwacht zu sein schien. Sie ging ein wenig auf und ab. Außer einer Bäckerei, die bereits geöffnet hatte, war nichts los in diesem Hafen voll weißen Goldes.

Sie fühlte sich fremd an diesem Ort, den sie durchaus hübsch fand, aber der sie und ihre Befindlichkeit gänzlich auszuschließen schien. Vorerst jedenfalls wollte sie nicht bleiben. Auf der Anzeigentafel im Hafenkontor fand sie den Fahrplan für eine Anschlussverbindung nach Ærø. Bis zum Ablegen in einer knappen Stunde blieb noch genügend Zeit für ein Frühstück. Sie betrat die Bäckerei, in der es nach Reinigungsmitteln, nicht aber nach frischem Brot aus dem Ofen roch, und fragte nach einem Espresso. Das Mädchen sagte etwas auf Dänisch und zeigte auf einen Kaffeautomaten rechts an der Wand. Lina legte zwei Euro auf die Theke und schaute die Bedienung fragend an.

»No, coins«, sagte das Mädchen, winkte dann ab und schob ihr eine Wertmarke über die Ladentheke.

»Thank you«, sagte Lina, und erhielt dafür ein strahlendes Lächeln. Sie traute sich nicht, auch noch nach einem Stück Gebäck zu fragen und nahm vorlieb mit dem dunklen, heißen Kaffee, der sofort seine belebende Wirkung entfaltete.

In Marstal auf Ærø, das die nächste Fähre ansteuerte, war in der langen, von hohen Kaimauern gesäumten Hafeneinfahrt ein riesiges Schiff auf Schienen gebockt. Sein rostiger Rumpf erhob sich mächtig und gewaltig über der Fähre und erweckte wenig Vertrauen in seine Seetauglichkeit. Marstal schien in erster Linie ein Industriehafen zu sein. Lina war enttäuscht über die Begrüßung durch die dänische Inselwelt, die sie sich ganz anders vorgestellt hatte.

Ihr wurde bewusst, dass es sie ohne Absicht hierher gezogen hatte, in die Heimat von Ann-Kathrine, die ihnen den kleinen Benjamin geschenkt hatte und die deshalb noch immer einen festen Platz in Linas Leben einnahm, obwohl es nur diesen einen kurzen Kontakt zwischen ihnen gegeben hatte. Wie selbstverständlich war Lina davon ausgegangen, dass das Land, das eine so freundliche und liebevolle Person hervorbrachte, auch selber solche Eigenschaften besitzen musste. Bislang jedoch bot sich ihr ein anderes Bild: Zweckmäßig und abweisend.

Sie entschied, trotzdem erst einmal zu bleiben. Beim Fahrradverleih am Hafen mietete sie ein Rad mit Gangschaltung und Gepäckkorb für ein bis zwei Tage und radelte los, vorbei am Seefahrtsmuseum, einem hübschen Bau mit maritimem Fassadenrelief, vorbei an den weitläufigen Anlagen des Umschlaghafens, in dem große bunte Container auf Schienen zur Verschiffung bereit standen.

Einige hundert Meter weiter ließ sie endlich das laute, geschäftige Hafenleben hinter sich und gelangte auf einen schmalen Weg am Wasser und folgte dem ausgeschilderten Fahrradweg. Es ging durch sattgelbe Wiesen und Felder, vorbei an bunten Häuschen, die wie Farbtupfer aus der weiter landeinwärts gelegenen Straße ragten.

Es war noch nicht ganz Mittag, doch brannte die Sonne schon jetzt erbarmungslos. Nur die nackten Beine wurden im Schutz der Kornfelder und dichter Buschreihen längst des Weges von schattiger Kühle umweht. Im nächsten Ort kaufte sie einen Hut, Sonnenschutz und ein Gürteltäschchen, da das Seidentuch am Bauch, in dem sich ihr Bargeld befand, andauernd verrutschte.

Als sie am frühen Nachmittag in Æröskøping eintraf, war sie, dermaßen viel Bewegung und Aufenthalt im Freien nicht gewohnt, völlig erschöpft.

Das Städtchen war hübsch und farbig, es setzte sich deutlich ab von der rauen Atmosphäre des massigen Seehafens. Üppige Stockrosen in leuchtendem Orange, Rostrot und Gelb säumten die aneinandergereihten Häuschen in den Gassen, die mit holprigen Kopfsteinen gepflastert waren. Lina hielt an und betrat ein hellrot gestrichenes Hotel inmitten einer Zeile schmucker Wohnhäuser. Auf ihr Klingeln näherte sich eine junge, strohblonde Frau der Rezeption. Lina fragte sie nach einem Zimmer und hatte Glück. Sie belegte es und ließ sich angezogen auf das schmale Holzbett fallen.

Das Leben kehrt zurück. Spürst du es? meldete sich die Stimme, die ihre neue Begleiterin zu werden schien. Ohne auch nur den geringsten Bedarf nach ihren Pillen zu verspüren, nickte Lina ein.

Sie musste tief und fest geschlafen haben, denn als sie von lautem Motorengeheul hochschreckte, konnte sie weder ihre Umgebung noch die Geräusche einordnen. Sie atmete tief durch und wurde allmählich gewahr, dass sie sich in ein Hotel begeben hatte, irgendwo in Dänemark. Draußen an der Hauswand stand ein Fahrrad, das sie gemietet hatte, und kein Mensch auf der Welt wusste, dass sie sich hier in diesem Zimmer befand.

Sie stand auf und trat ans Fenster, das den Blick in einen kleinen gepflasterten Hof freigab. Zwei Männer waren in die Reparatur eines Motorrads vertieft und testeten die schwere Maschine im Stand bei laufendem Motor. Lina entspannte sich ein wenig, fragte sich aber, was sie hier eigentlich machte, allein in einem Land, in dem sie fremd war und niemand sie kannte. Wurde sie vermisst? Ob Gerrit versuchte sie zu erreichen? Ob Benny sich gemeldet hatte oder Xenia, mit der sie immerhin verabredet gewesen war? So ging es nicht weiter, sie musste zurück nach Hause.

Warte, sagte die Stimme, du bist nicht bereit umzukehren, bleib doch!

Was war los? Wenn man anfing, verschiedene Stimmen zu hören und Anweisungen zu empfangen, war man dann übergeschnappt und irre? Gespaltene Persönlichkeit, Polyphonie im Gehirn, ein Konzert des Chors frei schwingender Stimmungen, ihr sausten Bilder und Begriffe durch den Kopf, mit denen sie sich ihren Zustand zu erklären versuchte, von denen sie aber nicht einmal wusste, ob sie existierten. Sie schüttelte sich und zog sich aus. Die verschwitzte Bluse warf sie aufs Bett und stellte sich unter die Dusche, die an der Wand neben dem Fenster montiert und nur durch einen dünnen Vorhang vom Zimmer abgetrennt war.

Sie zwang sich, klar zu denken. Wahrscheinlich würde sie einige Tage lang tatsächlich niemand vermissen. Xenia dachte sich bestimmt ihren Teil, sorgen würde sie sich jedenfalls nicht. Gerrit war unterwegs, Benny weit weg. Sie trat hinter dem Vorhang hervor, trocknete sich ab, streifte ein frisches Kleid über und hing die Bluse auf einen Kleiderbügel. Plötzlich verspürte sie Appetit. Das Mädchen an der Rezeption empfahl sie an ein Restaurant zwei Straßenzüge weiter, zu dem sie mit dem Fahrrad fuhr. Im Innenhof des kleinen, gemütlichen Lokals standen die Tische unter freiem Himmel und waren mit karierten Tüchern eingedeckt. Lina bestellte eine Portion Matjes mit Kartoffeln und würzte das Ganze mit einigen Stängeln Dill, der üppig in einem großen Kübel neben ihrem Platz wuchs.

Im Anschluss an das Mahl schlenderte sie durch die Gassen der Altstadt des durch und durch malerischen Ortes. Die Häuser, fein herausgeputzt, bunt, verwinkelt, manche ein wenig schief, reihten sich aneinander, und keines glich dem andern.

Im überfüllten Yachthafen am Fuße der Stadt herrschte lebhaftes Treiben. Lina setzte sich auf die Kaimauer und ließ den Blick über die vielen weißen Segelschiffe hinweg zum Horizont schweifen.

War es richtig oder falsch gewesen, von zu Hause fortzulaufen, nicht besser als ein Kind in frühkindlicher Trotzphase? Sie stand auf und ging zurück in den Ort. Mit jedem Schritt wippte ein nagender Vorwurf an die Oberfläche. Wie hatte sie den Tag so unbedarft und leicht genießen können, ohne auch nur ein einziges Mal an ihr totes Kind zu denken? Was war los mit ihrem Mutterherz, wie hatte sie all die Stunden zugebracht und ihre Tochter vergessen können? Die Anklage schrie laut ins Trommelfell, knallte ins Ohr, um dann Besitz von Kopf und Schultern zu ergreifen. Die neue Stimme sagte nichts.

Zurück im Hotel schloss Lina mit zitternden Händen das Zimmer auf, das Kleid klebte am Körper, der Kloß im Magen wuchs und wuchs. Sie griff in den Rucksack und entnahm ihm zwei der erbärmlichen Pillen.

Das rote Seidenkleid

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