Читать книгу Verfallen - Dorothea Renckhoff - Страница 11

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Es fiel mir nicht leicht, Anna zu versöhnen. Ich schämte mich, und sie schämte sich für mich. Ich brauchte einige Tage, bis ich sie anzurufen wagte; noch mehr Zeit verging, bis wir einander wiedersahen. Meine Mutter hoffte schon, es wäre ganz vorbei mit uns. Aber Anna liebte mich, und wenige Tage vor Weihnachten versöhnten wir uns, ohne ein Geschenk von mir, denn ich hatte noch immer kein Geld. Eine leise Verstimmung aber blieb zurück, auch wenn wir so taten, als wäre alles wie vorher.

Die Einladung zum Heiligen Abend blieb bestehen, Annas Mutter mochte sie nicht zurücknehmen, auch wenn sie ihr sicherlich lästig war. Damit stand ich vor einem noch größeren Problem als am Nikolausabend: Woher sollte ich nehmen, was von mir erwartet wurde? Eine passende Aufmerksamkeit für die Gastgeberin? Ein Weihnachtsgeschenk für Anna? Noch einmal versuchte ich es bei meiner Mutter. Doch sie war schon so erbost, weil ich diesen Tag nicht mit ihr, sondern mit Annas Familie feiern wollte, dass sie mir ihren abgenutzten Handfeger für die Mutter und den verfärbten, alten Plastikmülleimer aus der Küche für die Tochter anbot.

Am vorletzten Schultag kam frühmorgens ein Anruf von einem Warenhaus, wo ich wiederholt nach einer Arbeit als Aushilfe gefragt hatte. Jemand war ausgefallen, ob ich bis Heiligabend am Packtisch einspringen könnte. Ich sagte sofort zu. Es bestand keinerlei Aussicht, in der kurzen Zeit auch nur annähernd das zu verdienen, was ich gebraucht hätte, aber für einen Strauß, ein paar besondere Kerzen, ein Buch würde es vielleicht reichen. Ich brauchte nicht mit völlig leeren Händen zur Bescherung in das schöne Haus zu gehen. Am Weihnachtsabend würde man, so hoffte ich, über die Bescheidenheit der Gabe hinwegsehen.

Auf Schulbesuch musste verzichtet werden. In diesen Tagen beschränkte der Unterricht sich ohnehin auf gemeinsames Frühstück und Weihnachtsfeiern, das reine Stunden Absitzen, während man unlustig Essen in sich hineinstopfte. So stand ich an meinem Platz im Warenhaus, ohne Frühstück, und verpackte mit fliegenden Fingern Rasierapparate und Computerspiele in goldbedrucktes Papier, und während ich Päckchen für Päckchen mit Schweineschwänzchen aus glänzendem Ringelband versah, überlegte ich fieberhaft, wo ich am Heiligen Abend nach Geschäftsschluss noch etwas würde kaufen können, und was das sein sollte.

Schließlich fiel mir nur der Weihnachtsmarkt ein, und als die Tür des Personaleingangs am 24. Dezember hinter mir zufiel, hastete ich so schnell ich konnte, mit steifen Beinen vom langen Stehen, auf den großen Platz vor der Kirche zu, wo ich die Verkaufsstände aufgebaut wusste. Ich zitterte vor Angst, es könnte auch dafür schon zu spät sein.

Schon von Weitem sah ich, dass ich auf die merkwürdigen Funde nicht mehr hoffen konnte, die auf solchen Märkten zuweilen zu machen sind; viele der Buden waren schon geschlossen, manche Verkäufer packten gerade ein, und die Weihnachtslieder aus den Lautsprechern wehten über menschenleere Gänge zwischen den Ständen. Das Kinderkarussell drehte sich noch; ein einsamer Vater stand neben einem Schimmel und hielt mit frierenden Händen ein kleines Mädchen im Sattel fest; die hölzernen Pferdeaugen um ihn her sahen ihn so vorwurfsvoll an, als hielte er sie von der Weihnachtswiese zurück, wo sie einmal im Jahr springen und galoppieren durften, wie sie selbst es wollten, und Gras fressen und süße rote Äpfel.

Ein Karussellpferd, das wäre das Richtige, aber freiwillig würde wohl keines mit mir kommen, und so eilte ich über den Platz, gebrannte Mandeln gab es noch zu kaufen, wollene Mützen und Räuchermännchen, aber das war es auch schon fast, und mit wachsender Verzweiflung schaute ich mich um und versuchte mir vorzustellen, wie sich ein solcher qualmender, kleiner Gnom in Annas erlesene Umgebung einfügen würde. Ich sah das höfliche Lächeln ihrer Mutter über ein so kindisches Geschenk, und begann zu rennen, denn vielleicht gab es ja doch noch etwas anderes, etwas, das nicht ganz so schrecklich war… Und dann sah ich sie. Das Mädchen mit dem goldenen Ring in den Augen, sie, die für die schrecklichste Stunde meines Lebens verantwortlich war.

Sie trug wieder den grünlichen Mantel, aber diesmal hatte sie keinen Gurkeneimer und keine Blumen. Etwas Schimmerndes lag vor ihr auf dem Verkaufstisch, aber ich achtete gar nicht darauf, ich stürzte nur auf sie zu und fing an zu schreien, stammelnd, ich weiß nicht, was, ich war so außer mir, dass ich nichts Sinnvolles mehr von mir geben konnte. Sie sah mich erschrocken an und streckte mir die Hände entgegen, und dann packte sie mich bei den Armen und schüttelte den Kopf, und hielt mich fest und sah mich an mit diesen merkwürdigen Augen, und wieder glänzte das Laternenlicht auf dem goldenen Ring.

Ich versuchte einzuatmen; ich bekam kaum Luft. Die Musik brach ab, ein lautes Knacken kam aus den Lautsprechern, und plötzlich war es ganz still. Ich sah, dass das Mädchen die Lippen bewegte, und dann hörte ich auch, dass sie etwas sagte, sehr leise, ‚… mir leid,’ verstand ich, ‚… ein Kleid… dafür,’ und sie drückte mir etwas Seidiges, Weiches in die Hände. Im nächsten Augenblick stieß sie mich mit großer Kraft zurück, raffte die schimmernden Sachen vor sich zusammen und verschwand zwischen den Ständen.

Ich wollte ihr nach, aber ich kam nicht schnell genug an den Tischen vorbei, und dann sahen zwei Männer von ihrer Arbeit auf und musterten mich unfreundlich, und ich gab die sinnlose Verfolgung auf. Wie ein Idiot stand ich vor dem leergefegten Stand und riss und zerrte an dem Stoff, den sie mir zurück gelassen hatte, ich sehnte mich danach, das Krachen der Fäden in dem billigen Gewebe zu hören, als könnte ich der Fremden damit Schmerzen zufügen. Ich bohrte die Finger hinein, kratzte mit den Nägeln, scheuerte das Tuch über die schartigen Bretter des Tisches; fast hätte ich noch die Zähne zu Hilfe genommen. Aber dann wurde mir bewusst, dass es meiner Wut schon zu lange widerstand, um eines dieser dünnen Gewänder zu sein, deren kostbarer Glanz mit den Lichtern des Weihnachtsmarktes erlischt.

Ich breitete es auseinander und fand keine Risse, keine Löcher, nicht einmal Brüche oder Knitterfalten, und als ich es genauer betrachtete, wurde mir bewusst, was für einen kostbaren Stoff ich hatte zerfetzen wollen. Es war ein Seidensamt, das erkannte ich, Anna hatte einmal im Konzert meine Hand von ihrem Schenkel geschoben, weil, wie sie mir später lächelnd erklärt hatte, der warme Druck auf die Dauer Spuren auf dem kostbaren Gewebe hätte hinterlassen können, denn, hatte sie hinzugefügt, es sei ein Samt, der, aus Seide gefertigt, deren Reißfestigkeit, aber auch ihre freudige Empfänglichkeit für Flecken besäße.

Doch Annas schöner Rock von jenem Abend war ein Lappen im Vergleich zu dem Kleid, das mir das fremde Mädchen zugesteckt hatte. Dieser Stoff war dichter und fester und dabei viel weicher und zarter; er glühte aus sich heraus in dunkel leuchtenden Farben und changierte im Spiel des Lichts, als sei er aus schimmernden Federn gewebt.

Ich zögerte nur einen Augenblick. Kein Zweifel, das war das richtige Geschenk für Anna, und was sollte auch geschehen? Stoffe welken ja nicht.

Dieses Mal sahen keine fremden Gäste meinen Triumph. Und doch war mein Glück noch größer als am Nikolausabend, als ich den wunderbaren Stoff an Annas schönem Körper sah, im Licht der vielen Bienenwachskerzen zwischen den Zweigen des riesigen Baums. Als Anna mich nach der Feier ganz selbstverständlich mit in ihr Zimmer nahm, unter den Augen der Familie, und am Weihnachtsabend. Als ich den wunderbaren Stoff über einen Stuhl am Bett gebreitet sah.

Im Einschlafen schaute ich noch einmal hin. Noch im Dunkeln schien er Licht zu atmen.

Im Erwachen traf mein Blick wieder auf den Stuhl am Bett. Stoffe können welken. Dieser jedenfalls hatte es getan. Von dem Wunder des Weihnachtsabends war nichts geblieben als eben das billige, dünne Ding mit den Glitzerfäden, das ich anfänglich in Händen zu halten geglaubt hatte. Genau an den Stellen, wo meine Finger es zerfetzt hatten, war es zerrissen und hatte Löcher, und zerzauste Federchen quollen daraus hervor wie aus einem alten Kissen.

Anna stand in ihrem seidenen Morgenmantel am Fenster und beobachtete mich. Sie hielt die Lippen mit einer Strenge aufeinander gepresst, die ich nicht an ihr kannte, aber ihre Augen sahen nur traurig aus. Vielleicht wartete sie darauf, dass ich etwas sagte, vielleicht gab sie mir eine Chance zu erklären, um Verzeihung zu bitten. Aber wie sollte ich erklären, was ich selber nicht verstand? Wir sahen einander an; der Augenblick dehnte sich, und dann war er vorbei.

‚Kaufst du deine Geschenke für mich auf dem Weihnachtsmarkt?’ fragte Anna.

Zuerst bekam ich keine Luft. ‚Ja,’ sagte ich dann, ‚ich weiß nicht. Vielleicht.’ Während ich aufstand und mich anzog, fiel kein weiteres Wort, und ohne Abschied verließ ich das Haus.

Verfallen

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