Читать книгу Verfallen - Dorothea Renckhoff - Страница 13

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Es war ein trüber Tag. Die eisigen Temperaturen vom Jahresende waren einer feuchten Kälte gewichen; das Licht sickerte schmutzig aus tief hängenden Wolken, und der drohende Regen musste den noch immer gefrorenen Boden innerhalb weniger Sekunden mit einer Eisschicht überziehen. Mir war das gleich. Ich schleppte mich zur Straße, fort von Annas Haus, so weit fort wie möglich, ohne zu wissen, wohin. Ich wollte nicht nach Hause, ich fürchtete den Spott meiner Mutter, aber noch mehr ihr Mitleid, und so schlich ich ohne festes Ziel vorwärts, fröstelnd vor Müdigkeit, und der Vogelkäfig hing wie ein Bleiklumpen an meinem Arm. Unter meinen Füßen knirschten die Scherben von zerbrochenen Flaschen, knackte das Holz abgebrannter Raketen, spürte ich die aufgeweichten Reste von Papierschlangen und Feuerwerkskörpern. Aus Goldregen, leuchtenden Wasserfällen und bunt strahlenden Sternen war Unrat geworden, noch schneller als aus Blume, Kleid und Vogel.

Ich trottete vor mich hin, ohne auf den Weg zu achten. Außer mir war kaum jemand unterwegs, nur vor den Schaufenstern eines Geschäfts sah ich eine kleine Gruppe von Menschen. Ich versuchte, auf dem Bürgersteig an ihnen vorbei zu kommen, doch da bemerkte ich Lucille unter ihnen, deren Namen ich an diesem Neujahrsmorgen noch nicht kannte, von der ich noch gar nichts wusste, nur dass sie am Tag zuvor lauschend und dem Lauschen hingegeben zwischen den Bäumen und wuchernden Pflanzen des Vogelladens gestanden hatte, und erst, als ich sie erkannt hatte, wurde mir bewusst, dass wir uns vor eben diesem Laden befanden. Dass ich das nicht gleich bemerkt hatte, lag nicht nur an meiner Geistesabwesenheit, und eigentlich wundere ich mich heute, dass es mir überhaupt auffiel, denn Vögel, Käfige und das gesamte grüne Rankenwerk waren aus den Fenstern verschwunden; der ganze Laden war vollkommen leer, und natürlich war auch das merkwürdige Mädchen mit dem grünlichen Mantel nicht mehr da, das wohl uns allen die falschen Prunkvögel verkauft oder gegeben hatte.

Die Überraschung riss mich ein wenig aus meiner Apathie. Wie hatte man diese große Dekoration mit den reich blühenden Bäumen von gestern Nachmittag bis heute früh so vollständig beseitigen können, und warum war das geschehen, ausgerechnet am Silvesterabend, oder vielleicht auch in der Nacht? Die Gruppe um mich schien von derselben Frage, mehr aber noch von Zorn bewegt, denn offensichtlich war allen Ähnliches geschehen wie mir. Die meisten hatten, wie ich, einen prächtigen Käfig bei sich mit einem schäbigen, kleinen Vogel darin. Einige der Tierchen piepsten so matt wie der meine; andere lagen tot zwischen den Gitterstäben auf dem Boden, in dem weißen Sand, der noch immer schwach nach Anis duftete.

Ein sehr kleiner Mann hatte sich im Kommandoton zum Wortführer gemacht; so ähnlich hatte ich mir immer einen Blockwart vorgestellt. Sein Gesicht färbte sich zinnoberrot, während er immer lauter schimpfte und schrie und schließlich in seinen Käfig griff und das zitternde Vögelchen darin in die Hand nahm, um es dem leeren Geschäft anklagend entgegenzustrecken. Ich hörte nicht auf ihn; ich sah nur Lucille an. Sie sagte kein Wort, sie stand nur da und starrte wie betäubt in den kahlen Laden. Der Vogel in ihrem Bauer war tot. Ich berührte sie vorsichtig am Ärmel, aber sie reagierte nicht.

Der Mann ging jetzt offensichtlich zu Drohungen über; er hatte die Finger um seinen Vogel geschlossen und skandierte jedes seiner Worte mit der geballten Faust wie ein politischer Agitator. Einige der Umstehenden nickten zustimmend; andere lachten ein bisschen.

Ich streckte noch einmal die Hand nach Lucille aus; dieses Mal strich ich ihr über den Arm, aber auch jetzt kam keine Reaktion. Ich versuchte es weiter, geduldig und immer behutsamer, als wäre auch mir geholfen, wenn sie aus ihrer Erstarrung erlöst würde. Schließlich tupfte ich mit meinem Zeigefinger ganz sachte gegen den Rücken der Hand, mit der sie den Vogelkäfig hielt. Da schaute sie mich an, und ich hatte das Gefühl, ich blickte in einen Spiegel, denn ich sah meine eigene Verzweiflung auf ihrem Gesicht. Die Umstehenden wirkten verärgert, zornig, vielleicht ein bisschen traurig, aber keiner von ihnen schien so bis ins Innerste erschüttert wie Lucille und ich.

‚Ich wollte wissen, wie sie singen,’ sagte sie. ‚Ich dachte, ich erfahre das Geheimnis.’

‚Geheimnis?’ fragte ich, ‚welches?’ Aber sie gab keine Antwort, sondern wandte den Blick dem wütenden Mann zu, der noch immer die fest geschlossene Faust gegen den Laden schwenkte. Plötzlich griff sie nach dieser Faust und hielt sie fest, und dann öffnete sie vorsichtig die zusammengepressten Finger. Sie waren voll Blut. Ein paar Federchen flatterten zur Erde.

‚Sie haben es tot gequetscht,’ sagte sie leise. Sie nahm ihm das Vögelchen ab und legte es zu dem ihren in den Käfig. Der Mann gab eine wütende Antwort, so ein dreckiger, kleiner Piepmatz sei ja ohnehin nichts mehr wert, oder so ähnlich. Den meisten Umstehenden gefiel das nicht, sie wichen ein Stück von ihm zurück, manche wandten sich zum Gehen. Einer schlug vor, an einem Werktag wiederzukommen und in den benachbarten Geschäften nach dem Vermieter zu fragen, um der Fremden mit den merkwürdigen Vögeln auf die Spur zu kommen. Es schien das einzig Sinnvolle zu sein, und nach und nach zogen sich die Betrogenen zurück. Der wütende Mann sah seinen fliehenden Truppen missmutig nach, dann warf er einen letzten Blick auf seinen zerdrückten Vogel in dem fremden Bauer, überlegte offensichtlich, ob er ihn zurückfordern sollte, nur aus Prinzip, entschied sich aber dann dagegen und verließ uns mit zackigem Schritt.

Lucille hielt den Blick stumm auf die beiden Häufchen aus Federn gerichtet. Sie wirkte immer noch wie betäubt. ‚Ich wollte wissen, wie sie singen,’ sagte sie jetzt wieder. Sie war so verstört, dass sie mir leidtat, obwohl ich selbst mich fühlte, als hätte jemand die ganze Nacht mit dem Hammer auf mir herum geschlagen. ‚Lass uns ein paar Schritte gehen,’ schlug ich vor, vielleicht, dachte ich, würde das ihre Erstarrung lösen und meine Schmerzen beruhigen.

Sie setzte sich gehorsam in Bewegung, aber nach ein paar Metern blieb sie stehen, ‚dein Vogel lebt noch,’ sagte sie, ‚wir müssen ihn wärmen, er ist schon so lange in der Kälte,’ und sie schob ihren Schal am Hals ein wenig auseinander und setzte das Tierchen hinein, ganz vorsichtig; dann schlug sie den Kragen an beiden Seiten hoch und hielt ihn unter dem Kinn zusammen, und ich wusste nicht, ob sie das zitternde Federknäuel vor der Kälte schützen wollte oder ihren Hals. Sie hatte das Bauer mit den kleinen Leichen zu Boden gesetzt, und jetzt bückte ich mich, um es für sie zu tragen; ich kam mir ziemlich lächerlich vor mit meinen zwei Vogelkäfigen, einer leer und einer mit zwei leblosen Insassen, und neben mir eine junge Person mit einem dritten Vogel im Kragen. Aber es war mir ganz gleichgültig.

‚Ich wollte wissen, wie sie singen,’ sagte sie wieder, als wir weiter gingen. ‚Ich wollte so gerne wissen, wie sie singen.’ Ich fragte, warum, nicht, weil es mich interessierte, es interessierte mich überhaupt nicht, nichts interessierte mich, sondern nur, damit sie weiter sprach, und als sie nicht antwortete, fragte ich noch einmal nach dem Geheimnis, von dem sie gesprochen hatte.

‚Du hast doch sicher gemerkt,’ sagte sie, nach einer Weile, als ich schon dachte, sie würde wieder nichts sagen, ‚dass sie eigentlich keine Vogelstimmen hatten, oder dass in ihrem Gesang noch etwas anderes war als selbst in dem der begnadetsten Sänger ihrer Rasse. Es war nicht nur, dass ihre Stimmen viel zu groß waren für einen solchen Körper, auch wenn es große Vögel waren. Es war diese Kraft in ihrem Gesang, dies Betörende, dieses Leuchten, als sei alles Leben in ihrer Kehle zusammengedrängt und bräche mit Gewalt daraus hervor.’ Sie sah mich an, ob ich verstand, was sie meinte, und ich nickte. ‚Ich wollte erfahren, wie man so singen kann,’ fügte sie dann hinzu. ‚Und nun weiß ich nicht, was ich tun soll.’

Wir gingen schweigend weiter, und dann fing sie an zu weinen. Ich hielt das zuerst für ein gutes Zeichen, aber dann merkte ich, dass sie auf eine hilflose und zugleich wütende Art weinte, die nichts Erlösendes hatte. In meinem elenden Gemütszustand fiel mir nichts Tröstliches ein, was ich ihr hätte sagen können; ich verstand auch gar nicht, warum diese Gesangsfrage sie so in Verzweiflung stürzen konnte. Ich überlegte, ob ich ihr von meinem ganz andersartigen und wirklich furchtbaren Kummer erzählen sollte, um ihr klar zu machen, dass der ihre im Vergleich dazu ein Nichts war, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mich ebenso wenig verstehen würde wie ich sie. Dann fiel mir ein, ganz plötzlich, was mich im ersten großen Schmerz in meinem Leben getröstet hatte, an den ich mich erinnerte, wie lange er auch zurücklag, der Schmerz, als unser alter Hund gestorben war.

‚Sollten wir die kleinen Vögel nicht begraben?’ fragte ich. ‚Vielleicht im Park unter der Trauerweide?’ Es war wohl ein kindlicher Vorschlag, aber sie hörte auf zu weinen und nickte mir zu. Damit hatten wir ein Ziel, und irgendwie schien alles etwas leichter geworden zu sein. Ich empfand mit einem Mal fast so etwas wie Freude darüber, dass ich in meinem Jammer nicht allein war, und ihr schien es ähnlich zu gehen.

Es war noch immer nicht richtig hell geworden, aber bis jetzt war es trocken geblieben, und wir beeilten uns, um den nahen Park zu erreichen und unser Vorhaben auszuführen, ehe das Wetter noch schlechter wurde. Meine Füße fühlten sich an wie Halbgefrorenes, ich trug meine besten schwarzen Schuhe mit dünnen Ledersohlen, gut zum Tanzen, und wie hatte ich getanzt in der letzten Nacht des alten Jahres mit Anna im Arm, aber jetzt spürte ich bei jedem Schritt die kalte Erde unter mir, so deutlich, als liefe ich auf Strümpfen. ‚Wir sind gleich da,’ sagte Lucille, in dem aufmunternden Ton, in dem man zu müden Kindern spricht, ich weiß nicht, wem sie Mut machen wollte, sich selbst oder mir.

Doch wirklich öffnete sich der breite Weg schon vor uns, der hineinführte unter die hohen, alten Bäume, vorbei an dem weißen Gebäude des Restaurants auf seiner Terrasse, zu den geschwungenen Rasenflächen und dem flachen Teich. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick zu der Gaststätte hinüber, vielleicht konnte man sich vor der Begräbnisaktion ein wenig aufwärmen, aber die Fenster waren dunkel, das Haus geschlossen, zerrissene Girlanden und ein spärlicher Rest von Ballons erzählten von der Feier der vergangenen Nacht. Kellner und Köche waren todmüde schlafen gegangen, wer sollte jetzt noch etwas Heißes zubereiten für den Leichenschmaus von zwei toten, kleinen Vögeln.

‚Wir hätten vielleicht eine Schaufel holen sollen,’ sagte Lucille plötzlich. ‚Wir nehmen einen Ast,’ gab ich zur Antwort, doch es klang zuversichtlicher, als ich mich fühlte.

Die Eisfläche auf dem Teich war noch fast unversehrt, festgefroren die Ruderboote, nur am Rand gab es eine dunkle Stelle, wo das Wasser schwarz am kahlen Ufer stand. Dicht daneben lag die kleine Wiese mit der alten Trauerweide. Es war ein schöner Platz für zwei Vogelgräber, aber ich wusste es schon, während ich noch nach einem passenden Stock suchte, auch der Boden war noch gefroren, selbst mit einem Spaten hätte ich nichts ausrichten können, und das hätte ich mir auch selbst sagen können, ehe wir diesen nutzlosen Gang antraten. Lucille dachte wohl dasselbe. Wir machten einander keine Vorwürfe; wir standen nur da, ohne richtig zu denken, und sahen stumpf auf das abgestorbene Gras hinunter.

Dann klappte Lucille mit einem Mal ihren Kragen auf. ‚Ich glaube, er ist auch tot,’ sagte sie; sie zog den kleinen Vogel hervor und schaute ihn an, doch ehe sie ihn anhauchte und mit den Fingern vorsichtig berührte, schloss sie den Mantel rasch wieder unter dem Kinn, so sorgsam, als müsse noch immer ein kleines Tier darunter gewärmt werden. Wir legten das dritte Opfer zu den andern in den Käfig, und mit einem Mal wusste ich, dass ich die Kälte in meinen Füßen keinen Augenblick länger ertragen konnte. Plötzlich war mir alles andere gleich. ‚Ich nehme sie mit nach Hause,’ sagte ich zu Lucille, ‚ich lege sie in den Gefrierschrank, in einer durchsichtigen Frischhaltedose, das ist wie ein Schneewittchensarg, darin bleiben sie unversehrt bis zum Frühjahr. Und wenn das Gras wieder grün ist, nehmen wir sie heraus und gehen noch einmal her, wenn die Blumen blühen, dann machen wir es richtig.’ Lucille stimmte mir zu. Plötzlich hatten wir es beide eilig fortzukommen, als schämten wir uns voreinander für unser kindisches Unternehmen, oder vielleicht auch für die Verzweiflung, die wir einander so offen gezeigt hatten.

Und doch gaben wir uns die Hand, als wir uns trennten, und verabredeten für den nächsten Morgen ein Treffen vor dem leeren Laden. Vielleicht war ja doch noch auf die Spur der Fremden und ihrer wundersamen Vögel zu kommen.

Verfallen

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