Читать книгу Verfallen - Dorothea Renckhoff - Страница 14

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Unsere Nachforschungen führten zu nichts.

In den benachbarten Geschäften und Cafés wusste niemand etwas über das fremde Mädchen und die geheimnisvolle Vogelhandlung. Der Laden stehe seit Wochen leer, sagten sie alle. Keiner hatte mehr irgendwelche Vorgänge in den großen Schaufenstern wahrgenommen, keiner hatte etwas von den wuchernden Pflanzen und blühenden Bäumen gesehen oder von den Kunden, die zumindest am letzten Tag des Jahres mit goldglänzenden Käfigen an der Hand aus der Tür getreten waren. Vielleicht, vermutete der Inhaber einer kleinen Vinothek, die dem leeren Geschäft direkt gegenüber lag, sei das eine dieser Kunstaktionen gewesen, die Leben in tote Winkel bringen sollen, aber zu Silvester sei bei ihm so viel zu tun, dass er auch nicht einen Augenblick Zeit habe, um über die Straße zu schauen, und bedauernd hob er die Schultern. Wir seien nicht die einzigen, die heute solche Fragen stellten, fügte er hinzu, und tatsächlich hatten wir von ferne ein paar unserer Leidensgenossen vom Vortag gesehen, aber zu einer gemeinsamen Aktion hatte offensichtlich niemand von uns Lust.

Lucille, die mir mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen entgegengetreten war, sank bei jeder enttäuschenden Antwort wieder etwas mehr in sich zusammen, und als wir in einer Apotheke unseren letzten Versuch machten, sah sie schon aus wie ein bettelndes Flüchtlingskind, sie sagte auch nichts mehr, alle Fragen musste ich stellen. Doch auch hier schüttelte eine junge Dame im weißen Kittel den Kopf, sie sei die meiste Zeit in der Offizin mit der Zubereitung von Mixturen befasst gewesen, von da habe man keinen Ausblick auf die Straße, und eifrig begann sie von den Salben zu erzählen, die sie auf Rezept habe mischen müssen, eilig und außer der Reihe, für Notfälle, die von einem der Hautärzte im ersten Stock am Silvestermorgen noch behandelt worden seien, sie habe alles darangesetzt, um es bis Geschäftsschluss zu schaffen, denn wenn Dr. Jaeckli sich am letzten Tag des Jahres die Zeit nahm und sich in die Praxis bemühte, dann musste es wohl dringend sein, und schon hatte sie sich in eine engagierte Beschreibung der beiden Mediziner gestürzt, die sehr zum Nachteil von Herrn Haider und zum Vorteil seines Partners ausfiel. Während ich ungeduldig auf eine Atempause wartete, um zu fragen, wer denn, wenn nicht sie, an diesem Vormittag im Verkaufsraum gewesen sei, fiel mir ein Zucken in Lucilles Gesicht auf, und als ich ihrem Blick folgte, sah ich draußen auf der Straße den wütenden Mann vom Tag zuvor; er stand vor dem Schaufenster und starrte zu uns herein, zwischen den strahlenden Gesichtern einer vitamingestärkten Pappfamilie hindurch, aber kaum hatten wir einander erkannt, wandte er den Blick ab und schlenderte weiter.

‚Der war auch schon bei mir,’ sagte die junge Dame, ‚er hat dasselbe gefragt wie Sie, aber er glaubt mir wohl nicht, die ganze Zeit schleicht er um die Apotheke herum, ich weiß nicht, was er auf diese Art in Erfahrung bringen will,’ und endlich konnte ich meine Frage loswerden. Ihr Chef sei vorn gewesen, lautete die Antwort, aber der werde frühestens in zwei Stunden hereinkommen.

Seinetwegen noch einmal hierher zu gehen, erschien mir völlig sinnlos. Auch er würde nichts gesehen haben, aber selbst wenn er etwas wüsste, wozu sollten all die Nachforschungen führen? Wenn wir wirklich dem Mädchen auf die Spur kämen, wenn wir sie fänden und vielleicht sogar die Taschenspielertricks hinter alldem entschlüsselten, so änderte das alles doch nichts an dem, was zwischen Anna und mir vorgegangen war, an ihrer Enttäuschung, an der Kränkung, die ich ihr angetan hatte. Der Bruch zwischen uns war unwiderruflich, und wenn ich auch in allen Einzelheiten erführe, wie es dazu gekommen war, so würde mir das doch nicht im Geringsten weiterhelfen. In diesem Augenblick, als Lucille und ich durch die Tür der Apotheke auf die Straße traten, wurde mir klar, dass all die Suche und die Fragerei der vergangenen Stunden nichts gewesen war als blinder Aktionismus, als das Strampeln eines verlorenen kleinen Tieres, das sich vergeblich gegen das Ertrinken wehrt.

Es war, als bräche ich durch morsche Bohlen in meinem Innern in eine noch dunklere Verzweiflung als am Tag zuvor. Ich blieb einfach mitten auf dem Bürgersteig stehen, ohne auf Lucille zu achten, ohne mich um die Passanten um uns her zu kümmern, ohne überhaupt einen Kontakt zur äußeren Welt, in einen dumpfen, schwarzen Raum geworfen, wo ich zwischen dicken Lagen nasser Watte nach Luft rang und Glassplitter atmete.

Nur Lucille habe ich es zu verdanken, dass ich diesen Raum noch einmal verlassen konnte. Irgendwann spürte ich ihre Fingerspitzen, sie strichen über die Innenseiten meiner Handgelenke, unermüdlich, und unermüdlich lebendig, als wollten sie das Blut in meinen Pulsadern fließen fühlen, und dann malten sie Zeichen in meine Handflächen, einen Kringel um den Punkt, wo bei Stigmatisierten die Wundmale liegen, eine Schleife zum Ansatz des Mittelfingers, dann eine schwungvolle Linie zur Handwurzel hinunter, und zum Schluss noch einen kleineren Bogen aufwärts Richtung Daumen, immer wieder dasselbe. Langsam begann ich auch die Luft auf meiner Haut wieder zu spüren, sie war warm, und noch bevor ich wieder etwas sah, roch ich den Duft von Kaffee; dann nahm ich ein Stimmengewirr um mich herum wahr und merkte, dass meine Ellbogen sich auf etwas Festes stützten. Schließlich fand ich mich über ein Stehtischchen gelehnt wieder, in einer Kaffeerösterei, und Lucille dicht neben mir streichelte mir die Pulse und zeichnete Notenschlüssel in meine Handflächen. Als sie merkte, dass ich sie wieder sah, huschte sie fort und kam mit zwei Kaffeetassen zurück, und ungefragt warf sie vier Stücke Zucker hinein. Ich trank, ohne zu widersprechen. Dann versuchte ich ihr zu erklären, dass die Suche nach dem Vogelmädchen für mich zu Ende war und dass nichts von alledem mehr einen Sinn für mich ergab.

Sie sah mich an und trank aus ihrer Tasse, wollte sprechen und nahm dann wieder einen Schluck, als seien die Worte ihr im Mund vertrocknet, und wie verdorrt klang auch ihre Stimme, als sie dann doch etwas sagte, ein armes Stängelchen von einer Stimme, ohne Kraft und ohne Halt, ‚lass mich nicht allein,’ sagte sie, ‚hilf mir, hilf mir suchen, ich muss sie finden, ich muss sie nach diesen Vögeln fragen, ich muss wissen, wie sie so singen konnten,’ und sie setzte die leere Tasse ab. ‚Ich muss singen lernen wie sie,’ sagte sie.

Tatsächlich kam sie selbst mir in diesem Augenblick wie eines der zitternden Vögelchen nach der schmachvollen Verwandlung vor, allzu sehr glich ihre kleine Stimme dem schwächlichen Piepsen, es war unvorstellbar, dass sie mit diesem Glanz und dieser Kraft sollte singen lernen können, die jenen Vögeln am letzten Tag des Jahres eigen gewesen waren.

Und doch war in diesem Stimmchen etwas, das mich nicht in meine Dunkelheit zurückgleiten ließ, und der brennende Wunsch in ihrem Innern hielt mich wach und gebannt.

Sie begann nun leise von sich zu erzählen, sie wollte Sängerin werden, in den nächsten Tagen standen die Aufnahmeprüfungen für die Musikhochschule bevor, die musste sie bestehen, um ihren Weg zu gehen, aber sie zweifelte an sich und fürchtete die Konkurrenz anderer, größerer und schönerer Stimmen, ‚es gibt ja nur eine bestimmte Zahl von Ausbildungsplätzen an der Hochschule,’ sagte sie, ‚wie überall, aber wenn sie mich abweisen, ist alles aus,’ und sie sagte das so schlicht wie eine ganz alltägliche Feststellung, so wie man sagt, wenn ich mir nasse Füße hole, kriege ich Schnupfen, aber es hatte etwas so Endgültiges, als wäre ihr Leben wirklich mit einer Absage zu Ende.

Ich wunderte mich über diese Unbedingtheit, ich interessierte mich nicht besonders für Musik und verstand nichts von Gesang, was für eine Art von Sängerin sie denn werden wolle, fragte ich sie, und sie sagte, sie wolle zur Oper, und als sie das Wort Oper aussprach, wurden ihre Augen groß und strahlend, und ich hörte ihr staunend zu, wie sie von etwas erzählte, mit dem ich nur eine vage Vorstellung von monströs dicken Frauen und fetten, kleinen Männern verband, die mit hölzernen Bewegungen die Arme ausbreiteten und einander in den höchsten Tönen sinnlos anschrien. Sie aber erklärte mir, nur dort sei das wahre Leben zu finden, und sie beschrieb mir, wie man mit der Musik in eine andere Wirklichkeit hinaufgelange, wo alles Dumpfe und Gepresste abfalle wie eine Hülle und wo jedes Gefühl, wie übergroß oder quälend es im alltäglichen Leben auch scheine, jedes Glück, alle Sehnsucht und auch der größte Schmerz, sich im Gesang löse und zur Glückseligkeit werde.

Ich hörte mir das verblüfft an. Die Vorstellung, meine Verzweiflung lasse sich durch Gesang auf eine höhere Ebene heben und in Glückseligkeit verwandeln, schien mir absurd und zugleich unglaublich verlockend. ‚Daneben,’ sagte sie, ‚ist jedes normale Leben eine enge, bleierne Zeit, und wenn du diese Weite einmal empfunden hast, willst du nie mehr zurück in die flache, graue Welt der andern,’ und dann schaute sie mich an und sah, dass ich sie zu verstehen begann, und als sie mich fragte, ob ich ihr helfen würde, dem Geheimnis der jubelnden Vögel auf die Spur zu kommen, nickte ich nur.

Und so stand ich neben ihr, als sie zum zweiten Mal an diesem Tag zu der großen, goldenen Brombeere über der Apothekentür aufsah. Doch kaum waren wir wieder vor den Verkaufstisch getreten, war mit einem Schlag alles anders.

Verfallen

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