Читать книгу Verfallen - Dorothea Renckhoff - Страница 12

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Ich weiß nicht, wie mir nach alldem noch einmal eine Versöhnung mit Anna gelang. Sie muss mich wirklich geliebt haben, und wenn ich ihr bei dieser Gelegenheit offen gesagt hätte, wie sehr all die Einladungen und Geschenke mich belasteten, vielleicht wären mir dann die Wege verschlossen geblieben, die Lucilles Stimme mich geführt hat. Aber meine Angst, Anna zu verlieren, war viel zu groß für ein derartiges Geständnis. Vielleicht handelte ich auch im Bann einer dumpfen Überzeugung, dass ich sie unweigerlich bald verlieren würde; anders lässt sich der Fatalismus kaum erklären, mit dem ich Silvester wieder in unsinniger Suche nach einem Geschenk durch die Straßen irrte und dann tatsächlich zum dritten Mal mit einem Wunderding aus den Händen des merkwürdigen, fremden Mädchens zu Anna aufbrach.

Dieses Mal hatte ich sie hinter den hohen Schaufenstern eines eleganten Ladens erspäht. Sie stand in einem dichten Wald aus Topfpflanzen und grünen Ranken und hütete eine Schar von großen, bunten Vögeln in goldfarbenen Käfigen. Als ich das Geschäft betrat, umfing mich zugleich mit der warmen Luft ein jubelnder Gesang, fremdartig und schön und von einer Kraft, dass er nicht aus Vogelkehlen zu kommen schien. Das Mädchen sah mich sofort und wartete meinen Wutausbruch nicht ab; ohne ein Wort löste sie einen der Käfige von dem Zweig, an dem er gehangen hatte, und reichte ihn mir. Ich wollte etwas sagen, aber der Vogel begann so betörend zu singen, dass ich mit beiden Händen nach den Messingstäben der kleinen Volière griff und mich widerspruchslos zum Gehen wandte. Ich weiß nicht, was ich erwartete und ob ich wirklich die Hoffnung hatte, dass es diesmal kein Blendwerk wäre, was mir die merkwürdige Fremde anbot, aber ich fühlte mich völlig besänftigt.

Auf dem Rückweg zur Tür sah ich Lucille zum ersten Mal, sie, die jetzt allein in ihrem Hotelzimmer auf einem blauen Sofa sitzt, allein und winzig klein in sich zusammengefallen. Ich sah sie, aber ihre Stimme habe ich damals noch nicht gehört, und auch, als ich sie später hörte, war es noch nicht diese Stimme, für die ich dann über den brüchigen Gletscher gegangen bin, in dessen Eis tief unter mir eine brennende Quelle sprang. Ich wusste ja auch in diesem Augenblick im Laden noch gar nicht, dass es Lucille war, die da stand, ein bisschen unscheinbar und sehr jung, und völlig selbstvergessen. Sie schien ganz in den Anblick der Vögel versunken; ihr Blick wanderte vom einen zum andern und saugte sich fest an den federbedeckten Brüsten, an den vibrierenden Kehlen, und ihre ganze Gestalt war hingegebenes Lauschen. Ich wich auf meinem Weg ein wenig zur Seite, um sie nicht zu stören, und dann schlug mir beim Öffnen der Tür die eisige Luft von draußen entgegen; ich knöpfte schnell den Mantel auf, um das schöne Tier damit wenigstens ein bisschen zu schützen, und im nächsten Augenblick hatte ich die lauschende Lucille auch schon vergessen.

Ich dachte nur an Anna, und ich ging zu ihr wie unter Zwang. Das Haus war voller Gäste, in fast allen Räumen wurde gefeiert, und nur ganz wenige unter den Anwesenden hatten meine elende Blamage mit der verwelkten Wunderblume miterlebt. Ich spürte eine Welle von Bewunderung durch den Raum gehen, als das Licht auf dem Gefieder meines Vogels spielte und er zu singen begann. Aber ich achtete kaum darauf und wüsste nicht zu sagen, wer die Menschen waren, die um uns herumstanden. Ich erinnere mich vage an die Zurückhaltung im Gesicht von Annas Mutter, als sie den Käfig entgegennahm; offensichtlich sah sie mich und meine Geschenke inzwischen endgültig mit Skepsis und Vorbehalt. Aber auch das blieb, so wichtig es hätte sein müssen, ein schwacher und flüchtiger Eindruck.

Das Einzige, woran ich mich deutlich erinnere, ist Annas Gesicht. Sie strahlte mich an; ihre Augen leuchteten, als sie den Vogel sah; sie hatte noch immer Zutrauen zu mir, trotz allem. Meine Ängste schienen sich aufzulösen im Glück dieses Abends. Nur einmal fiel ein Schatten in mein Bewusstsein; das war, als Anna dem Vogel die Käfigtür öffnete und ihm eine große Schale mit warmem Wasser hinstellte, damit er sich baden konnte, und wirklich hörte er auf zu singen und kam herausgeflattert; es sah aus, als betrachtete er voller Staunen sein eigenes Bild auf dem Wasserspiegel, ehe er hineintauchte und mit den Flügeln funkelnde Tropfen nach allen Seiten spritzte. Da glaubte ich einen Moment lang, fließende Farben in der klaren Flüssigkeit und das Gefieder erblassen zu sehen, aber im nächsten Augenblick war der Spuk vorbei, das Wasser war durchsichtig und das Federkleid leuchtend wie zuvor, und ich drängte die Angst in mir zurück.

Kurz vor Mitternacht erinnerte sich Anna an einen Kanarienvogel, den sie einmal besessen hatte, ‚er geriet immer in Panik,’ sagte sie, ‚wenn draußen die Raketen explodierten,’ und sie reichte mir den Käfig und führte mich in den Keller, ‚bringen wir ihn dahin, wo er das Krachen nicht hört,’ fügte sie hinzu, und dann ging es noch eine Treppe tiefer, und sie zeigte mir mehrere gepanzerte Räume, wo ihr Vater seine Gemäldesammlung aufbewahrte, ‚klimatisiert,’ erklärte sie, ‚wegen der Bilder.’ Sie schloss eine der Tresorkammern auf und machte Licht, und der Vogel erhielt einen Platz auf einem kleinen Tisch in der Mitte.

‚Wir dürfen ihn nur nicht vergessen,’ sagte Anna, als sie den Raum wieder verschloss, ‚der arme Trilltrall hat manche Silvesternacht hier gesessen und war ganz glücklich, aber einmal bin ich am Neujahrsmorgen krank geworden, ich bekam hohes Fieber, keiner dachte mehr an den kleinen Vogel, und als ich wieder klar denken konnte und nach ihm fragte, da fanden sie ihn tot in seinem Käfig, verdurstet, es hatte ihm ja niemand Wasser gebracht.’

Wir gaben uns die Hand darauf, dass dieses Mal nichts Derartiges passieren sollte, und ich frage mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn wir am Neujahrstag nicht in den Tresorraum gegangen wären, aus welchem Grund auch immer, und auch an den nächsten Tagen nicht, so lange, wie es eben dauert, bis ein Vogel verhungert und verdurstet ist. Vielleicht hätte man sich ein Tier nicht so genau angesehen, an dessen Tod man sich schuldig fühlte, oder es wäre, wenn genug Zeit vergangen wäre, überhaupt nur noch ein zierliches, kleines Gerippe übrig gewesen, etwas kleiner, als vermutet, möglicherweise, aber darüber hätte dann wohl niemand mehr nachgedacht.

Aber wir hatten uns die Hand darauf gegeben, und so stiegen wir am Neujahrsmorgen noch vor dem Frühstück hinunter, und der Anblick blieb mir nicht erspart. Ich weiß nicht, ob ich wirklich überrascht war, oder ob ich es erwartet hatte; ich weiß nicht einmal, ob Anna wirklich überrascht war, obwohl sie doch am Abend zuvor an mich und den Wert meines Geschenks geglaubt hatte. Ich weiß nur, dass mit einem Schlag eine rasende Wut aus ihr hervorbrach, kaum dass sie einen Blick auf das unscheinbare, graue Tierchen geworfen hatte, das da in dem immer noch goldfarbenen Käfig saß, auf dem Boden, wie man es von kranken Vögeln kennt, in dem nach Anis duftenden Sand, zu kraftlos, um sich auf einer der Stangen zu halten, aufgeplustert und zerzaust, und nur schwächliche Piepstöne kamen aus dem kleinen Schnabel.

Ihr Ausbruch zeigte, wie sehr die schmähliche Verwandlung der ersten beiden Prunkstücke sie verletzt und welche Kraft es sie gekostet hatte, mir zweimal zu verzeihen und noch immer Zutrauen zu mir zu haben, aber jetzt, schrie sie, sei es für immer genug, genug mit meinen Tricks, sie wisse nicht, wie sie funktionierten, und es interessiere sie auch nicht, und wie geschickt ich mich auch dabei anstelle, sie habe keinen Sinn für diese Art von Humor, der immer nur auf ihre Kosten gehe, und dass ich es nach dem ersten Mal nicht habe gut sein lassen, zeige nicht nur, dass ich sie nicht liebe, nein, der Spaß an solchen kindischen Scherzen mache deutlich, dass ich eben doch noch so unreif sei, wie es meinem Alter entspreche und wie sie es nicht habe glauben wollen, und dabei stieß und puffte sie mich mit dem Käfig und trieb mich die Treppen hinauf und aus dem Haus, und als ich die Stufen in die Auffahrt hinunterstolperte, warf sie den Käfig hinter mir her und knallte die Tür zu.

Ich bückte mich und hob ihn auf; die Messingstäbe waren verbeult; der kleine Vogel piepste erschrocken, aber er schien unverletzt zu sein. Ich blickte stumpfsinnig auf ihn nieder, und dann öffnete sich die Haustür noch einmal, aber es war nur die Haushälterin, die mit steifen Schritten hinter mir her kam und mir meinen Mantel brachte. Ich zog ihn an und sagte nicht einmal danke.

Verfallen

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