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Frau W. hat ein Vorurteil

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Ach ja, denkt Frau W. Die Schwiegereltern und die Nachbarn kann man sich nun mal nicht aussuchen … Der Nachbar von unten links, Eugen Motzle (der Name ist Programm!) hat gestern grämlich auf die Vase mit den blühenden Zweigen vor ihrer Wohnungstür geschaut und gesagt: «Ich gehe davon aus, Frau W., dass Sie die abgefallenen Blüten selber zusammenkehren. Dies kann unmöglich die Aufgabe des Hausmeisters sein.»

Es ist auch fast unmöglich, es Motzle recht zu machen. Ständig findet er ein Haar in der Suppe. Oder besser gesagt: eine Textilfaser in der Waschmaschine, einen Fussabdruck im Treppenhaus. Die Haustür, die eine Sekunde zu lang offen steht («Wir heizen, Frau W.!»)

Frau W. will ja nicht so sein, er hatte offenbar eine schwere Kindheit, aber dieser Mensch ist ein richtiger Griesgram. Vis-à-vis wohnen Karanovics, oder wie auch immer man das ausspricht. Nette Leute so weit, aber unglaublich laut. Sie ist ja gar nicht etwa rassistisch, aber Schweizer würden den Fernsehapparat nie so laut aufdrehen, denkt Frau W. Und die Kinder dürfen einfach alles, tragen zu nichts Sorge. Heute scheint eines Geburtstag zu haben. Kreischend und lachend hopst ein halbes Dutzend Kinder im Treppenhaus herum, sie sind wie Indianer bemalt und haben klebrige Kuchenreste im Gesicht und an den Händen. Frau W. schleppt mit missbilligenden Blicken ihre Taschen mit dem Wocheneinkauf die Treppe hoch. Sie sieht sofort, dass ihre kostbare Vase mit den Zweigen nicht mehr da ist. Frau W. reicht’s! Bestimmt ist eines der Kinder in die Vase gerannt, die Mama hat schnell die Scherben weggeräumt, und dann will es wieder niemand gewesen sein. Ist der Motzle eigentlich auch da? Der sollte diesem wilden Treiben mal einen Riegel vorschieben! Da steht er, der Eugen, hat die Hände in den Hosentaschen und schaut mit breitem Lächeln den Kindern zu: «Ist das nicht schön, wie die Kinder spielen können», sagt er zu Frau W. Frau W. ist einigermassen verblüfft. Herr Motzle hat eine weiche, freundliche Seite? Das wusste sie nicht. Oder wollte sie es einfach nicht sehen?

Es ist Abend. Ruhe ist eingekehrt. Es klingelt an Frau W.s Tür und die Nachbarin Ifeta Karanovic steht etwas verlegen da, die Vase mit den Zweigen in der Hand. «Sie nicht da sein, Frau W., da habe ich Blumen zu mir genommen, damit Kinder nicht kaputtmachen», erklärt sie. Sie streckt Frau W. einen Teller mit Süssigkeiten entgegen und fragt: «Sie wollen?»

Später sitzt Frau W. etwas beschämt in ihrer Wohnung und denkt nach. Herr Motzle ist freundlich, Frau Karanovic sorgfältig. Ganz entgegen ihrem Vorurteil. Vorurteile sind Vor-Verurteilungen, denkt Frau W. Von Anfang an legt man seine Mitmenschen auf ein Bild fest, nimmt gezielt nur das wahr, was dazu passt. Hat nicht Jesus einmal gesagt, man solle seinem Nächsten nicht sieben-, sondern siebenundsiebzigmal vergeben? Vergeben, sinniert Frau W., das heisst doch auch reinen Tisch machen, von vorn anfangen. Dem anderen die Chance geben, anders zu sein als gestern, anders als vor zehn Minuten. Dem anderen Gutes zutrauen, ihm Freiraum geben.

Als Frau W. so weit ist in ihren tiefsinnigen Gedanken plärrt vis-à-vis in voller Lautstärke der Fernseher los. Sie muss lachen. Vorurteile sind darum so hartnäckig, weil sie oft etwas Wahres haben und sie immer wieder neue Nahrung erhalten, denkt sie. Trotzdem will auch sie dranbleiben mit dem Siebenundsiebzigmal und so – mit Gottes Hilfe und einer Prise Humor!

Dann trat Petrus zu Jesus und sagte: Herr, wie oft kann mein Bruder an mir schuldig werden, und ich muss ihm vergeben? Bis zu siebenmal? Jesus sagt zu ihm: Ich sage dir, nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal.

Matthäus 18,21 und 22

Frau W. diskutiert mit Jesus

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