Читать книгу Die Hochzeit - Dorothy West - Страница 11
6
ОглавлениеLiz kam mit Laurie auf dem Arm die Flurtreppe herauf. Frisch gebadet und gefüttert war das Baby in Spiellaune; sein kleiner Körper strampelte in der Wickeldecke, und die Händchen haschten wie kleine Diebe nach allem, was in greifbarer Nähe war – ein Knopf, eine Haarsträhne, ein Flecken Haut. Zufriedene Gluckser sprudelten wie Bläschen aus seinem kleinen Mund.
Liz war auf dem Weg zu Shelbys Zimmer, wo sie Laurie jeden Morgen hinbrachte und zu ihrer Schwester ins Bett steckte, damit die Körperwärme ihres kleinen Töchterchens Shelby in den neuen Tag begleitete. Falls jemand nachfragte, dann ließ Liz das Baby bei Shelby, um noch eine Stunde für sich zu haben, bevor Corinne, Liz’ und Shelbys Mutter, aufwachte und im Haushalt das Regiment übernahm. In Wahrheit handelte es sich jedoch um einen kalkulierten Liebesakt ihrerseits, um eine zärtliche List, die die Blutsbande zwischen ihrem Kind und ihrer Schwester verstärken und sie so sehr aneinander gewöhnen sollte, dass sie unzertrennlich wurden. Falls Liz – was Gott verhüten mochte – je etwas zustieße, wünschte sie sich Shelby als Lauries zweite Mutter. Es war noch gar nicht so lange her, dass sie es mit ihren Puppen ebenso geregelt hatten. Wenn eine der Schwestern so krank war, dass sie das Bett hüten musste und dabei vor lauter Schreck ans Sterben dachte, dann versprach die andere jedes Mal feierlich, ihren Puppen die Mutter zu ersetzen, sie genauso zu lieben wie ihre eigenen und alle miteinander als eine Familie großzuziehen.
Laurie war natürlich unvergleichlich kostbarer als jede Puppe. Falls Linc wieder heiraten wollte, würde Shelby Laurie die Mutter ersetzen müssen, und die mannstolle geile Braut, die Linc in ihr Bett lockte, konnte ihre eigenen Bälger verprügeln. Wenn aber Shelbys weißer Ehemann das Kind eines Schwarzen nicht um sich haben wollte, dann würde ihm Shelby auch nicht lange erhalten bleiben. Ihr schwarzes Blut würde den Ausschlag geben. Wehe, wenn nicht.
Liz ließ Laurie tief in Shelbys Armbeuge gekuschelt zurück und schlich auf Zehenspitzen davon, um sich die kurze Dusche zu gönnen, die seit Lauries Geburt die wohlige Entspannung in der Badewanne ersetzen musste, nach der ihr Körper so dringend verlangte. Aber so wie die unschuldigen Bedürfnisse des Kindes und daneben die Ängste Corinnes um jedes Detail der Hochzeit sie in Atem hielten, fragte Liz sich, ob sie den Labor Day noch erleben würde. Während sie Lauries Windeln wusch, wünschte Liz, dass ihr dieser unschöne Teil der Mutterschaft nicht so zuwider wäre. Anschließend setzte sie sich für eine Zigarettenlänge und einen Schluck Kaffee – Pulverkaffee, bei dem ihr wie immer jedwede Lust auf eine zweite Tasse sofort verging.
Diese Art zu frühstücken war zwar nicht nach ihrem Geschmack, aber das heiße Getränk versorgte sie immerhin mit der notwendigen Energie, um eine Stunde später mit Laurie im Kinderwagen eine Runde durchs Oval zu drehen, während die Familie ihren köstlichen Speck ohne die Gesellschaft eines schreienden Babys verzehrte. Zu Hause überhörte Liz Lauries Gebrüll einfach, sofern das Kind nicht vor Schmerzen weinte, aber hier kamen gleich alle angerannt, nahmen das Baby hoch und hätschelten es, kaum dass es einen Mucks von sich gab. Alle außer Gram, die nicht angerannt kam, weil sie das nicht mehr konnte, die es aber, auch wenn sie es gekonnt hätte, nicht tun würde.
Liz stellte den Kinderwagen an die Küchentür und nahm Laurie auf den Arm. Es war noch früh am Morgen. Sie schlich durch die Küche die Hintertreppe hinauf. Als sie fast oben war, hörte sie Gram vorsichtig mit ihrem Stock den Boden abklopfen, als suche sie den Flur nach Hindernissen ab. Ihre Schritte klangen unsicher und doch zielstrebig. Was in Gottes Namen machte sie um diese Zeit allein hier draußen, eine Frau, die sich gewiss nicht darauf besinnen konnte, wann sie zum letzten Mal vor elf Uhr wachgeworden war? Würde sie ausgerechnet jetzt Schwierigkeiten machen, an diesem letzten, entscheidenden Tag vor der Hochzeit, wo so viel monatelange, sorgfältige Planung auf dem Spiel stand?
»Ach, Gram …«, murmelte Liz vorwurfsvoll. »Was machst du denn hier draußen? Warum hast du nicht geläutet, wenn du was brauchst? Bloß weil alle in diesem Narrenhaus über der Hochzeit den Kopf verloren haben, wird man dich trotzdem nicht vergessen. Bleib, wo du bist, tu mir den Gefallen. Komm, ich bring dich zurück auf dein Zimmer. Dann gehe ich für dich, wo immer du hinwolltest, und erledige, was immer du möchtest.«
»Das kannst du nicht«, sagte Gram. »Du hast doch dieses Kind.«
»Gram«, sagte Liz zum hundertsten Mal in diesem Sommer, »sag Laurie zu ihr. Jedes Mal, wenn du die Kleine ›dieses Kind‹ nennst, verzieht sich dein Gesicht ganz furchtbar. Wozu die Mühe, wenn es dir doch weh tut, zu einem Baby so gemein zu sein?«
Gram klopfte mit dem Stock auf die Dielen. »Hüte deine Zunge! Du bist nicht so erwachsen, dass ich vergessen hätte, wie oft ich dir die Windeln gewechselt habe. Was du gemein nennst, das nenne ich blind. Meine Augen sind nicht jünger als der Rest von mir – alte Augen wie meine muss man zusammenkneifen, damit sie ein dunkelhäutiges Kind sehen können.«
»Gram, du sagst das so, als wär’s ein unanständiges Wort. So blind bist du nicht; du hast bloß einen blinden Fleck. Vergleich doch mal Lauries Haut mit meiner. Neben der ihren sieht meine direkt verwaschen aus. Vielleicht hatten frühere Generationen Vorurteile gegenüber dunkler Haut, aber meine Generation schätzt gerade die.« Liz hielt Gram das Baby entgegen, doch die alte Dame wich haltsuchend an die Wand zurück, als Lauries winziges Händchen sich ihr entgegenstreckte.
»Fass sie ruhig an, Gram. Du hast sie noch nie berührt. Wenn du’s tust, wird etwas mit dir geschehen. Das war bei mir auch so. Ich war nie verrückt nach einem Kind, ich war bloß verrückt nach Linc. Dieses ganze Getue um die Mutterschaft war mir zuwider. Ich hasste meinen dicken Bauch, der mich von Linc fernhielt, hasste meine Schreie bei Lauries Geburt, hasste es, dass diese ganze blutige Schweinerei bloß für ein Mädchen war und dass ich das alles noch mal würde durchstehen müssen, sollte Linc sich einen Jungen wünschen. Aber dann hielten sie mir Laurie hin, und ich hab sie berührt. Genau wie du damals meine Großmutter Josephine berührt hast und später Mutter und Shelby und mich. Das ist der Moment, wo das Wunder geschieht. Wenn du zum ersten Mal Fleisch von deinem Fleisch spürst. Laurie ist Fleisch von deinem Fleisch in der vierten Generation. Lang sie an, Gram. Ich verspreche dir ein Wunder.«
Aber jetzt konnte Gram das Kind tatsächlich nicht mehr sehen. Ihr war schwindlig geworden von den Worten, die aus Liz’ Mund kamen, den Intimitäten, den Schamlosigkeiten. Flach gegen die Wand gepresst wirkte die alte Frau fast wesenlos, so dünn und durchscheinend wie Papier, als ob sie von diesem Baby eine Galgenfrist bekommen habe und diese nun plötzlich doch zu Ende sei. »Das Kind kann nichts dafür, dass du seinen Vater geheiratet hast. Warum musstest du Lincoln Nachkommen schenken? Warum hast du seine dunkle Hautfarbe nicht mit ihm sterben lassen? Bei mir war das anders: Josephine hat gesät, und ich musste ernten.«
Ihre Hilflosigkeit lastete so schwer auf Gram, dass ihr das Kinn auf die Brust sank. Ihre Tränen waren trocken wie der Staub, den ihr Leid aufgewühlt hatte. Sie sah so alt und hinfällig aus, dass Liz’ aufwallender Zorn vor seinem ursprünglichen Ziel zurückschreckte und sich in ihrem eigenen Bauch austobte.
»Hör auf damit, Gram. Bitte, hör auf! Du machst mich ganz krank. Egal wie weiß wir anderen aussehen, wir sind doch genauso Schwarze wie Laurie, und es ist deine Rasse, die diese Kategorien aufstellt. Laurie ist kein bisschen anders als ich, bloß dunkler. Dein Lebensabend würde um vieles leichter sein, wenn du nur aufhören könntest, wieder und wieder den Schorf von dieser Wunde zu kratzen.«
Grams Kopf fing an zu wackeln, als wolle er sich von ihrem steifen Körper lösen. Ihre Stimme war wie ein Schrei in den Wirren einer Zeit, die nicht mehr die ihre war. »Hämmere nicht auf meinem Kopf herum, bis er diesem Kind vor die Füße rollt. Muss es denn ausgerechnet der heutige Morgen sein, an dem du mich vernichtest? Der Tod geht um im Oval. Sein Geruch hat mich aufgeweckt. Und dieser Geruch hat mich noch nie getäuscht. Vielleicht, ich sage vielleicht, bin ich es, auf die seine Wahl fällt, doch das muss nicht sein. Es könnte genauso gut diese Freundin deiner Mutter sein – du weißt schon, welche –, die nie ins Haus kommt, ohne über ihr Herz zu klagen.«
»Warum ausgerechnet Addie Bannister das Schlimmste wünschen? Noch nie hat sie dieses Haus betreten, ohne sich nach dir zu erkundigen. Sie mag dich. Du bist die Einzige, über deren Werdegang sie nicht lästert. Außerdem gehört sie beinahe zur Familie. Du wirst doch Mutter nicht gleichzeitig mit Shelbys Hochzeit eine Totenwache an den Hals wünschen.«
»Ich würde niemals etwas Schlechtes über Addie Bannister sagen«, rief Gram mit schriller Stimme. »Ich halte nichts von übler Nachrede. Und ich sage nichts weiter, als dass auf irgendjemanden hier der Tod wartet. Deine Mutter ist diejenige, die sagt, es sei Addie Bannister. Deine Mutter sagt, sie sei nur noch Haut und Knochen. Deine Mutter sagt, wenn sie sich tatsächlich die Reise hierher zumutet, dann wird ihr Herz die Aufregung nicht überstehen. Und ich will dir nur das eine sagen – falls der Tod mich für eine andere Stunde und einen anderen Ort aufspart, dann will ich endlich in meine Heimat zurückkehren und dort sterben. Das ist alles, was ich mir noch wünsche. Ich will zu Hause sterben. Und wenn ihr mir jetzt aus dem Weg geht, du und dein Kind, dann bitte ich Shelby, dass sie mich heimbringt.«
Liz trat besorgt einen Schritt vor. Einerseits wollte sie Gram vor dem Gespenst ihres eigenen Todes schützen, andererseits Shelbys großem Tag einen so deprimierenden Auftakt ersparen. Gram würde ewig leben, ja, tat sie das nicht bereits? »Gram, du willst bestimmt nicht gerade heute nach New York zurück. Shelby heiratet morgen. Da müsst ihr doch beide hier sein. Also wart’s ab, bis du mit Mutter nach Hause fahren kannst. Der Sommer ist ja bald vorbei. Noch zwei Wochen, und wir werden alle unsere Koffer packen. Und jetzt lass mich dich zurück auf dein Zimmer bringen und nach deinem Frühstück läuten. Du hast schlecht geträumt, weiter nichts. Ein schönes warmes Frühstück wird dir helfen, den hässlichen Traum zu vergessen.« Damit verlagerte sie das Baby auf ihrem Arm und griff nach Grams Hand, um sie in die entgegengesetzte Richtung zu dirigieren.
Gram schüttelte sie ab. Gleich einem Spielzeug, das man zu oft aufgezogen hat, drehte sie sich mit einer quälend langsamen, ruckartigen Bewegung um die eigene Achse und stieß ärgerlich den Stock auf den Boden. Mit dem Rest Atem, der ihr noch geblieben war, zischte sie zornig: »Halt gefälligst das Kind fest, damit’s nicht womöglich runterfällt und du nachher mir die Schuld gibst. Ich geh zurück nach Xanadu, und du kannst mich nicht aufhalten.«
Doch Gram wusste, ihre Reise war vorzeitig abgebrochen, und der anstrengende Ausflug hatte nirgends hingeführt als zu Liz’ schwarzem Baby. Sie nahm den Ellbogen zu Hilfe, um sich an der Wand entlangzutasten, und griff sich mit der Hand ans Herz, wie um die Hoffnung am Auslaufen zu hindern.