Читать книгу Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union - Dr. Domenica Dreyer-Plum - Страница 10
2.1.2 Die Grenz‑ und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften
ОглавлениеDie Grenz- und Asylpolitik ist erst 1999 mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam zu einem gemeinsamen europäischen Politikfeld geworden. Diese funktionale wie politische Vertiefung europäischer Integration lässt sich jedoch unmittelbar mit dem Gründungsvertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahr 1957 in Verbindung bringen. Im Zentrum der Gründungsverträge (und damit am Beginn der europäischen Intgration) stand die Errichtung eines gemeinsamen Marktes:
„Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.“ (Art. 2 EWG-Vertrag)
Um diesen gemeinsamen Markt zu errichten, sollten zunächst Zolltarife innerhalb der Gemeinschaft abgeschafft werden, um den freien Warenaustausch innerhalb der neu gegründeten Wirtschaftsgemeinschaft zu ermöglichen (Art. 3 lit. a EWG-Vertrag). Der freie Warenverkehr ist eine der vier GrundfreiheitenGrundfreiheiten, die in den Römischen Verträgen als Ziele der Gemeinschaft festgelegt wurden und bis heute den Charakter der Europäischen Union prägen (Titel I, insbesondere Art. 9 EWG-Vertrag).
Ein Großteil der Rechtsetzung und Rechtsprechung auf europäischer Ebene lässt sich auf diese vier Hauptziele zurückführen: Freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalverkehr (Titel I und III, EWG-Vertrag, insbesondere Art. 9, 48, 52, 59 EWG-Vertrag).
Der freie Personenverkehr war zunächst streng auf den Markt begrenzt und bedeutete die Freiheit, in einem der Mitgliedstaaten eine Arbeit aufzunehmen und unabhängig von Staatsangehörigkeit beschäftigt und entlohnt zu werden (Art. 48 Abs. 2 EWG-Vertrag). Ebenso wie sich Bürger frei in einem der Mitgliedstaaten niederlassen können, gilt dies auch für Unternehmen bspw. durch die Gründung von Tochtergesellschaften (Art. 52f. EWG-Vertrag).
Die Dienstleistungsfreiheit sollte es jedem Unternehmer ermöglichen, seine Dienstleistungen im gesamten Raum der Wirtschaftsgemeinschaft anzubieten (Art. 59 EWG-Vertrag). Bisherige Beschränkungen – gerade auch verwaltungsrechtlicher Natur (Anerkennung usw.) – sollten schrittweise abgebaut werden.
Schließlich galt es die Beschränkungen des Kapitalverkehrs soweit aufzuheben, wie es „für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist“ (Art. 67 EWG-Vertrag). Der Vertrag sah vor, dass solche Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission vom Rat zunächst einstimmig und nach Ablauf einer Übergangsphase von acht Jahren mit qualifizierter Mehrheit angenommen würden (Art. 69 EWG-Vertrag).
Offensichtlich gerieten die Freiheiten des Marktes in Konflikt mit den physichen Grenzen der Mitgliedstaaten. Durch Grenzkontrollen kam es zu Verzögerungen beim Transport von Waren, doch auch der Personenverkehr wurde dadurch beeinträchtigt. Insofern stand die Grenzpolitik den Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes und damit dem Hauptziel und Motiv der Gründungsverträge entgegen. Wollte man die Freiheiten verwirklichen, so brauchte es eine Öffnung der traditionell national kontrollierten Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten.
Die funktionale Notwendigkeit der Öffnung von Grenzen zwischen den beteiligten Staaten lag damit auf der Hand. Die informelle Kooperation in den Bereichen Justiz, Inneres, Asyl und Grenzen begann bereits in den 1970er Jahren (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Doch zu einer verbindlichen Initiative dieser Art kam es erst 1984 mit einem deutsch-französischen Regierungsabkommen und dem 1985 unterzeichneten Schengener AbkommenSchengener Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Darin ist die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Gemeinsamen Marktes festgelegt. Bevor dieses politische Ziel verwirklicht werden konnte, brauchte es gemeinsame Standards bei der Einreise in den Wirtschaftsraum und bei der Frage, wann unter welchen Bedingungen durch welchen Staat Asyl gewährt wird. Denn die Abschaffung von Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten bedeutete, dass die Außengrenze eines Mitgliedstaates zur Außengrenze des gesamten Wirtschaftsraums wurde. Wer in den europäischen Wirtschaftsraum einreiste, konnte sich bei der Aufhebung von Binnengrenzkontrollen prinzipiell frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen.
Die Einheitliche Europäische AkteEinheitliche Europäische Akte (1987) hielt vertraglich fest, dass die Personenfreizügigkeit durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft bis Ende 1992 auf eine neue Stufe gehoben werden sollte. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte war der EWG-Vertrag um folgenden Artikel 8a ergänzt worden:
„Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 gemäß dem vorliegenden Artikel […] den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfaßt [!] einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist.“
Diese Öffnung der Binnengrenzen sollte mit gemeinsamen Regeln bei den Außengrenzkontrollen und der Schaffung einer gemeinsamen Einwanderungs‑ und Asylpolitik einhergehen, wofür die Gemeinschaft aber zunächst kein vertragliches Mandat erhielt. Hier bestand also eine rechtliche Lücke zwischen dem Vertragsziel der Einheitlichen Europäischen Akte, die die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen innerhalb von sechs Jahren vorsah, ohne jedoch der Kommission ein Mandat zur Schaffung flankierender rechtlicher Maßnahmen zum Außengrenzschutz, zur Einreise und zur Gestaltung der Asylpolitik zu erteilen (Morijn 2017: 186).
Tatsächlich handelten die Mitgliedstaaten zunächst außerhalb des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begleitende Maßnahmen der Einreise‑ und Asylpolitik aus. Es wurden mehrere ad-hoc-Arbeitsgruppen gegründet, die sich mit den von der Grenzpolitik berührten Feldern befassten, darunter zu den Bereichen Einwanderung (Außengrenzkontrollen, Visa, Asyl), justizielle Kooperation, TREVI (Polizei, Sicherheit, Terrorismus) und CELAD zur Bekämpfung der Drogenkriminalität (Morijn 2017: 186).
So entstand 1990 im Zuge des Schengener Abkommens das Dubliner ÜbereinkommenDubliner Übereinkommen ebenfalls als völkerrechtliches Instrument, das aber erst 1997 in Kraft trat. Es enthielt einen Kriterienkatalog, nach dem geprüft werden sollte, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. So sollte verhindert werden, dass Asylanträge in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig oder nacheinander verfolgt werden. Die Frist zur Aufhebung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen verstrich indes im Dezember 1992. Es dauerte noch mehrere Jahre bis die Binnengrenzkontrollen zunächst an den Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten 1995 tatsächlichen aufgehoben wurden.
Im Vertrag von MaastrichtVertrag von Maastricht (1992 unterzeichnet/1993 in Kraft getreten) wurde die Asylpolitik erstmals als Bereich „gemeinsamen Interesses“ definiert (Art. K.1 Abs. 1 EGV-Maastricht), doch zunächst kein Mandat für asylpolitische Rechtsinstrumente erteilt. Der Vertrag von Maastricht hatte damit zwar den Rahmen für europäische Entscheidungsfindung in der Justiz‑ und Innenpolitik geschaffen, die in der neu gegründeten Europäischen Union noch streng nach intergouvernementalen Prinzipien funktionierte (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Der Vertrag ermöglichte zunächst nicht mehr als die Verabschiedung unverbindlicher gemeinsamer Positionen, die im Sinne völkerrechtlicher Vorschriften von den jeweiligen nationalen Parlamenten ratifiziert werden mussten (Art. K.2 Abs. 2 EGV-Maastricht). Diese Vorgaben stellten sich als ineffizient heraus, sodass in diesem Bereich kaum politische Ergebnisse generiert wurden (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2).
Erst der Vertrag von AmsterdamVertrag von Amsterdam (1997 unterzeichnet, 1999 in Kraft getreten) benannte konkrete Aufträge zur Rechtsetzung im Bereich Asyl (Art. 73 lit. i und lit. k EGV-Amsterdam). Die europäischen Institutionen – zu diesem Zeitpunkt Europäische Kommission und Rat der EU unter Anhörung des Europäischen Parlaments – sollten Maßnahmen beschließen, um nach objektiven und fairen Kriterien festzulegen, wer für die Prüfung eines Asylantrages zuständig sei. Dies entspricht inhaltlich dem, was bisher durch das Dubliner Übereinkommen geregelt wurde. Tatsächlich wurde auf Grundlage des Mandats im Vertrag von Amsterdam eine Verordnung erlassen, die als Dublin-II-Verordnung (VO (EG) Nr. 343/2003 v. 18.2.2003, Abl. Nr. L 50/1 v. 25.2.2003) bekannt ist und als Nachfolgeinstrument des Dubliner Übereinkommens die Bestimmungen dieses Instruments in weiten Teilen übernimmt.
Der Vertrag von Amsterdam ist gleichzeitig der Vertrag, mit dem der bestehende Schengener Besitzstand, darunter (1) das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985, (2) das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990, (3) die Beitrittsprotokolle und ‑übereinkommen mit Italien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden, (4) die Beschlüsse und Erklärungen, die vom Exekutivausschuss auf Grundlage des Durchführungsübereinkommens erlassen wurden; in das Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurde.1 Inzwischen gilt der Schengener Besitzstand als das Rückgrat der EU-Einwanderungs‑ und Asylpolitik (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 1).
Für die Grenz‑ und Asylpolitik bleibt vorrangig wichtig, dass durch den Vertrag von Amsterdam der supranationale Politikmodus für die Bereiche Einwanderung, Asyl und Grenzkontrollen eingeführt wurde. Zwar blieb der Vergemeinschaftungsprozess unter Wahrung von Ausnahmeregeln zunächst unvollständig, was in Folgeverträgen jedoch korrigiert wurde (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 3).
Der Vertrag von Nizza (2001 unterzeichnet, 2003 in Kraft getreten) erweiterte das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auf weitere Politikbereiche, sodass nach einer Übergangsphase von fünf Jahren erste Mehrheitsbeschlüsse in diesem sensiblen Politikfeld möglich wurden (Art. 67 Abs. 5 EGV-Nizza, Vertrag von Nizza v. 26.2.2001, ABl. Nr. C 321E/37 v. 29.12.2006 und Protokoll Nr 35 (zu Art 67), ABl. Nr. C321E/317 v. 29.12.2006). Daraufhin führte der Rat eine Brückenklausel ein, die mehr Politikfelder dem qualifizierten Mehrheitsabstimmungen unterwarf und das Europäische Parlament im Mitentscheidungsverfahren stärker in den Rechtsetzungsprozess einbezog.2
Der neu geschaffene europäische Raum brachte zudem neue sicherheitspolitische Herausforderungen mit sich: Beim Wegfall der Binnengrenzen braucht es mehr Kooperation in Polizei‑ und Justizangelegenheiten. Eine solche engere Kooperation wurde in der Einheitlichen Europäischen Akte vorgesehen (1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten), im Vertrag von Maastricht wurden erste Bereiche der Justiz- und Innenpolitik in die europäische Zusammenarbeit aufgenommen (1993) doch teilweise erst im Vertrag von Lissabon (2007 unterzeichnet, 2009 in Kraft getreten) in die Gemeinschaftspolitik verlegt.
Ein weiteres Folgeabkommen in diesem Sinne beschlossen die damals elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island und Norwegen wiederum als zwischenstaatliches Abkommen im Jahr 2005 über die grenzüberschreitende polizeiliche, strafrechtliche und justizielle Zusammenarbeit (Prümer Vertrag).3 Darunter fällt zuvorderst Informationsaustausch sowie die Zusammenarbeit zur Verhinderung von Straftaten im Bereich Terrorismus, Kriminalität und Migration im Schengenraum.
Im Gemeinschaftsrecht erlebte die Justiz‑ und Innenpolitik einen großen Entwicklungsschritt mit dem Entwurf für den Verfassungsvertrag, der später ohne große Änderungen in den Vertrag von Lissabon integriert wurde.4
Vervollständigt wurde der Ansatz schließlich mit dem Vertrag von Lissabon, der Gesetzgebung zu Einreise, Einwanderung und Asyl in den supranationalen Entscheidungsmodus überführte und die Schaffung eines integrierten Grenzkontrollsystems forderte, wodurch weitgehende gemeinschaftliche Kooperationen zum Grenzschutz im Rahmen europäischer Rechtsetzung ermöglicht wurden (Art. 77-80 AEUV).