Читать книгу Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union - Dr. Domenica Dreyer-Plum - Страница 12
2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten
ОглавлениеDen Grundstein für den heutigen Schengenraum legten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand mit einem bilateralen Regierungsübereinkommen, das die Erleichterung bei den Kontrollen an den deutsch-französischen Grenzen vorsah. Diesem Projekt schlossen sich Belgien, Niederlande und Luxemburg an, die zu diesem Zeitpunkt untereinander bereits seit 25 Jahren auf Grenzkontrollen verzichteten.
Die ersten fünf Staaten des Schengenraums waren Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wenn es sich um zwei bevölkerungsreiche und drei kleine Staaten handelte, ähnelten sich die fünf Staaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark: Es handelte sich um gewachsene liberale Demokratien mit solider Wirtschaftskraft und stabilen Sozialsystemen. Divergenzen waren eher marginal und betrafen die Wirtschaftsbereiche, die zentral für den Wohlstand der Staaten waren. Auch die Größe des gemeinsamen Raums spielte eine Rolle: Zu Beginn der Schengenkooperation verfügte – mit der Ausnahme Luxemburgs – jeder Schengenstaat über eine Außengrenze, deren Übertreten die Einreise in den gesamten Schengenraum bedeutete.
Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen, einem kleinen Ort in Luxemburg, der unmittelbar an Frankreich und Deutschland grenzt, ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, dass Binnengrenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne Personenkontrollen überquert werden können. Seither wird der dadurch geschaffene grenzfreie Raum als Schengenraum bezeichnet. Die Reisefreiheit sollte es fortan BürgerInnen, Geschäftsreisenden, Touristen, Migranten und Asylsuchenden ermöglichen, sich frei im Schengenraum zu bewegen.
Das Schengener AbkommenSchengener Abkommen war ein völkerrechtlicher Vertrag, der außerhalb der bestehenden europäischen Rechtsgemeinschaft geschaffen wurde. Das zeigt sich bis heute daran, dass es einerseits Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt, die nicht zum Schengenraum zählen (z.B. Irland), andererseits Schengenmitglieder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind (Island, Norwegen, Schweiz) und drittens Schengen-Anwärterstaaten (Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Zypern), die noch nicht voll in Schengen integriert sind.
Rechtlich wurde der Schengener Besitzstand mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Beschluss des Rates vom 20. Mai 1999 in das Recht der Europäischen Union überführt (1999/435/EG). Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist das Schengenrecht inzwischen Unionsrecht, während es für die darüber hinaus anwendenen Schengenstaaten internationales Recht bleibt.
Zur Verwirklichung der Abschaffung von Binnengrenzkontrollen brauchte es detaillierte technische Absprachen wie Fragen und Konflikte geregelt werden, die sich aus dem neuen gemeinsamen Schengenraum ergeben. Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens wurde schließlich das Schengener Durchführungsabkommen unterzeichnet (SDÜ bzw. Schengen III), das Maßnahmen zur Sicherheit, zum Außengrenzschutz, zur polizeilichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen enthielt. Zudem wurde ein Fahndungssystem eingerichtet (Schengener Informationssystem, auch SIS abgekürzt) und grundsätzliche gemeinsame Regeln bei der Einreise von Touristen, Geschäftsreisende und Asylsuchenden festgelegt.
Im Schengener Durchführungsabkommen wurde auch die Zuständigkeitsfrage in Asylfragen geregelt. Das Dubliner Übereinkommen, das auch als Dublin-System bekannt ist, enthielt eine Liste von Kriterien zur Feststellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates. In diesem Übereinkommen betonten die Schengenstaaten, dass es „faire“ und „objektive“ Kriterien seien, die die Zuständigkeit genau eines Mitgliedstaates präzise festlegen. Bis dato wurden Asylverfahren dort durchgeführt, wo Asylanträge eingereicht wurden. Von nun an sollte dem tatsächlichen Verfahren eine Prüfung vorausgehen, in dem nach klaren Kriterien festgestellt wurde, welcher Mitgliedstaat des Schengenraums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war.
Übergreifend galt, dass derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig wurde, zu dem der Antragsteller die engste rechtliche Verbindung aufwies. Eine solche bestand eindeutig, wenn ein Mitgliedstaat für den Antragsteller ein Visum ausgestellt hatte. Eine indirekte rechtliche Verbindung bestand, wenn Verwandte des Antragstellers bereits in einem Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchliefen oder bereits als Flüchtlinge anerkannt waren. Im Sinne des Familienschutzes übernahm dieser Mitgliedstaat dann alle Anträge der Familienmitglieder. In den meisten Fällen wurde allerdings derjenige Staat zuständig, in dem der Asylbewerber erstmalig in den Raum der Wirtschaftsgemeinschaft eingereist war, das sogenannte Ersteinreiseprinzip. Die Staaten einigten sich damit faktisch auf das Ersteinreiseprinzip als Hauptkriterium zur Bestimmung der juristischen Zuständigkeit für ein Antragsverfahren.
Nun ist zu berücksichtigen, dass sich die politische Geographie des Schengenraumes in den 1990er Jahren ebenso wie Migrationsbewegungen nach Europa noch ganz anders darstellten als heute. Damals war die schnelle, präzise und eindeutige Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig war, ein Randthema des Binnenmarktprojektes (Lavenex 2001: 860). Diese Situation hat sich inzwischen umgekehrt: die Zuständigkeitsfrage Asyl ist spätestens seit 2015 im politischen Zentrum der Gemeinschaft angekommen.
Was sind die Gründe dafür? Zum einen ist der Schengenraum in der Zwischenzeit von fünf auf 26 Vollanwenderstaaten angewachsen. Die Außengrenzen haben sich damit aus einem homogenen Zentrum in einen heterogenen Peripheriebereich verlagert. Die vormals allesamt über Land zu erreichenden Schengenstaaten sind nun umschlossen von Nachbarstaaten, dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, bereits in den 1990er Jahren ein wichtiges Zielland für Asylsuchende.
Zum anderen kann Asyl nur in einem Staat beantragt werden. Diese territoriale Dimension wird durch das Ersteinreiseprinzip verstärkt. Da es keine rechtlichen Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende gibt, ist eine irreguläre Enreise oft der einzig mögliche Zugang. Die Einreise ohne die dafür notwendigen Papiere und eine nachträgliche Rechtfertigung dieser nicht-dokumentierten Einreise durch Stellung eines Asylantrags ist völkerrechtlich von der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt.1
Aufgrund strenger Luftfahrtkontrollen im Gegensatz zu weniger stark kontrollierten (und kontrollierbaren) Land‑ und Seeaußengrenzen der Gemeinschaft, ergibt sich ein Schwerpunkt der irregulären Einreise in den ländlichen und maritimen Außenbereichen der Gemeinschaft. Das verpflichtet die Mitgliedstaaten mit Außengrenze zu strengen Kontrollen, weil sie mit der Sicherung ihrer Außengrenzen Verantwortung für das Funktionieren der Freizügigkeit und für die Sicherheit im Schengenraum tragen. Das Prinzip befördert also Strategien, die Asylzuwanderung zu verhindern oder zumindest zu minimieren, was in Konflikt steht mit den humanitären Prinzipien des Flüchtlinsgrechts (dazu mehr in Kapitel 4.1).
Das Ersteinreiseprinzip trat in den Gründerstaaten des Schengenraumes in Kraft, die eine Gemeinschaft mit engen Abhängigkeitsbeziehungen und ähnlichen staatlichen Traditionen bildeten. Die Zuschreibung der Asylgerichtsbarkeit nach dem Ersteinreiseprinzip führte weder zu größeren Verschiebungen in der Verantwortlichkeit oder zu sonstigen Störungen (Marx 2016a: 151).
Flüchtlinge, die den Schengenraum in den 1990er Jahren erreichten, stammten hauptsächlich aus Jugoslawien und migrierten zu einem großen Teil nach Deutschland. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen hatten sich bereits einige Flüchtlinge in Deutschland niedergelassen, weshalb es erste Gemeinschaften gab, die als etablierte ethnische Gemeinschaften gelten konnten. Zum anderen verfügte Deutschland aus historischer Verantwortung über ein großzügiges Asylsystem, das im Grundgesetz verankert war.2 Es lässt sich daher argumentieren, dass die Dublin-Regeln gut funktionierten, als sie nicht wirklich angewendet werden mussten, weil Deutschland in den meisten Fällen das Ersteinreiseland war und dort entsprechend die Asylanträge bearbeitet wurden (Menéndez 2016: 394).
Doch die Dinge änderten sich schnell: Zunächst verfolgte Deutschland ab 1993 eine restriktivere Asylpolitik. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde das bisher großzügig als Grundrecht verstandene Asylrecht auf politisches Asyl begrenzt. Zudem wurden Transitstaaten effektiv zur Verantwortung gezogen: Flüchtlinge sollten nach Meinung des deutschen Gesetzgebers Anträge dort stellen, wo sie zum ersten Mal ein sicheres Land erreichten – und nicht bis Deutschland wandern (Hix und Hoyland 2011: 290). Seitdem rückten Peripheriestaaten mit Außengrenze stärker ins Visier der Asylzuwanderung und wurden durch die Dubliner Kriterien und den damit einhergehenden Dublin-Überstellungen stärker gefordert (Lavenex 2001: 861).
Der Schengenraum ist progressiv gewachsen und zählt nun 26 Anwenderstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn.3 Diese Liste der Schengenstaaten verdeutlicht, dass es sich inzwischen um eine politisch wie sozio-ökonomisch deutlich heterogenere Gemeinschaft handelt im Vergleich zur Gemeinschaft der Gründerstaaten. Auch die Erfahrung mit Flüchtlingen divergiert stark: Gerade die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bislang wenig Erfahrung mit Flüchtlingen (Schmidt 2015).
Die Erweiterung der Europäischen Union und des Schengenraums haben auch dazu geführt, dass Deutschland als Zielland nicht mehr direkt zu erreichen ist; dadurch ist es auch schwieriger geworden, Deutschland für Asylverfahren zuständig zu erklären (Menéndez 2016).
Auch die Asylzuwanderung hat sich verändert: Während die 1990er Jahre noch von der Zuwanderung aus Jugoslawien geprägt waren, so nahm in den 2000er Jahren die Einreise aus Nordafrika und dem Nahen Osten Richtung Südeuropa zu. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Zuwanderung im Jahr 2001 mit der Ankunft von 400.000 Flüchtlingen vor allem aus Afghanistan und Irak vorrangig in Italien, Malta und Griechenland (Hix und Hoyland 2011: 290-291).
Die hauptsächlichen Zielstaaten haben sich bis 2010 kaum verändert: Gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt verzeichneten Deutschland, Malta, Schweden, Belgien und Österreich die größte Anzahl an Asylanträgen (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die Gründe für diese spezifische Proportionalität sind einerseits geographisch bedingt (Malta), andererseits das Ergebnis historischer Verbindungen zu kolonialem Erbe (Belgien) oder bedingt durch die vergleichsweise guten Aufnahmebedingungen in nationalen Asylsystemen ebenso wie das Vorhandensein einer Diaspora (Deutschland, Schweden) (Hix und Hoyland 2011: 290-291).
Im Jahr 2014 erhielten Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn die meisten Anträge gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (Europäische Kommission 2015a). Im Vergleich zur Bevölkerungszahl haben hingegen Schweden, Ungarn und Österreich im Jahr 2014 die meisten Flüchtlinge aufgenommen (Eurostat 2015).
Der Blick auf diese Zahlen und die wiederkehrende politische Diskussion um die Zuständigkeitsfrage verdeutlichen mehrere Aspekte: (1) Schengen steht in erster Linie für den Raum ohne Binnengrenzen, für die Grenzfreiheit in der Europäischen Union. (2) Die Asylpolitik ist mit der Schengenpolitik untrennbar verbunden, das zeigt besonders die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ab 2015. (3) Es gibt einen Vorlauf für die Asylschutzkrise von 2015. Über Jahre hinweg nimmt die Asylzuwanderung zu, sind nordeuropäische Staaten wie Deutschland und Schweden Hauptzielstaaten.
Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Komplex Grenze und Asyl ergeben, gilt das Schengener Integrationsprojekt als eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration. Diese Einschätzung soll daher nun integrationstheoretisch eingeordnet werden.