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2.1 Kontext des europäischen Integrationsprozesses

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Mit dem Begriff europäischer Integrationsprozess ist die Entwicklung der europäischen Rechtsgemeinschaft gemeint, die in den 1950er Jahren begonnen und bis heute nicht abgeschlossen ist. Im Jahr 1952 unterzeichneten sechs europäische Staaten einen Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und StahlEuropäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der die transnationale Zusammenlegung dieser kriegsintensiven Märkte vorsah.

Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg erhofften sich in der Nachkriegszeit von dieser Zusammenarbeit einerseits die Rückgewinnung des Vertrauens ineinander, andererseits bestimmte der wirtschaftliche Wiederaufbau die politische Agenda der Gründerstaaten. Die Zusammenarbeit in den Industriezweigen Kohle und Stahl sollte wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand generieren. Dieses Anliegen hielten die Unterzeichner auch in der Präambel des Vertrags fest. Ihr Ziel war es „durch die Ausweitung ihrer Grundproduktionen zur Hebung des Lebensstandards und zum Fortschtitt der Werke des Friedens beizutragen“ und zeigten sich

„entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß [sic!] ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errrichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen“ (EGKS-Vertrag, Präambel).

Eine von den Mitgliedstaaten unabhängige internationale Behörde (Hohe Behörde) war mit der Aufgabe betraut, die Ziele des Vertrags durch Verwaltungsakte zu verwirklichen. Kontrolliert wurde diese Behörde durch einen Rat, in dem die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten vertreten waren; sowie durch eine parlamentarische Versammlung, in die gewählte Abgeordnete der nationalen Parlamente für die jährliche Sitzungsperiode entsandt wurden.

Die folgenden knapp 70 Jahre seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – die auch als Montanunion bezeichnet wird – sind gleichermaßen geprägt durch Prozesse der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft. Die Aufnahme neuer Mitgliedsländer hat die Gemeinschaft von ursprünglich sechs auf 28 Mitgliedstaaten wachsen lassen. Zur Vertiefung zählt die wachsende Zuständigkeit der europäischen Gemeinschaft in immer mehr Politikfeldern und gleichzeitig die Intensivierung der Zusammenarbeit.

Die Kooperationsbereiche wurden zunächst auf einen gemeinsamen Markt ausgedehnt (Römische Verträge, 1957 unterzeichnet, 1958 in Kraft getreten), dann um Kooperationen im Bereich Forschung und Technologie, Umwelt, Sozialpolitik, Außen­‑ und Sicherheitspolitik erweitert (Einheitliche Europäische Akte, 1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten). Die Justiz- und Innenpolitik, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Wirtschafts‑ und Währungsunion sind in den 1990er Jahren hinzugetreten (Maastrichter Vertrag, unterzeichnet 1992, in Kraft getreten 1993). Alle Verträge und Reformen gehen in den 2007 unterzeichneten und 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon ein.

Immer mehr Politikfelder liegen nun in der ausschließlichen Zuständigkeit der Europäischen UnionZuständigkeit der Europäischen Union, darunter gemäß Art. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): Zollunion, Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt, Währungspolitik, Handelspolitik. In weiteren Bereichen teilen sich die Europäische Union und die Mitgliedstaaten die Kompetenzen, darunter gemäß Art. 4 AEUV: Binnenmarkt, Sozialpolitik, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, Energie, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Forschung und Technologie. Schließlich gibt es Bereiche, in denen die Europäische Union die Maßnahmen der Mitgliedstaaten unterstützt und koordiniert, darunter gemäß Art. 6 AEUV: Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus, Bildung, Verwaltungszusammenarbeit.

Doch auch die institutionelle Organisation unterlag tiefgreifenden Veränderungen. Von einer technokratischen Struktur der Montanunion (1952/1953), die zunächst ganz auf die Hohe Behörde (heute: Europäische Kommission) ausgerichtet war, wurde mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge (1957) ein System geschaffen, das die exekutiven Regierungsvertreter im Rat zu den Entscheidungsträgern der Gemeinschaft machte. Es folgte die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments (1979) und seit der Einheitlichen Europäischen Akte mit dem Kooperationsverfahren die stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments als Gesetzgeber. Seit dem Lissabonner Vertrag (2009) sind Rat und Parlament in den meisten Politikbereichen gleichberechtigte Gesetzgeber. Europäische Politikentwicklung basiert nun überwiegend auf Vorschlägen der Kommission, die vom Rat der EU und vom Europäischen Parlament gelesen, geändert und beschlossen werden. Immer mehr Entscheidungen werden nun durch qualifizierte Mehrheiten statt nach dem lange im Rat dominierenden Einstimmigkeitsprinzip verabschiedet.

Fragen zu Grenzen und Asyl rückten ab den 1980er Jahren im Zuge der Schengen-Politik (ab 1984) und der Neuausrichtung der europäischen Integration mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1985-1987) auf die Agenda der europäischen Politik.

Formal fällt die Grenz‑ und Asylpolitik unter die Justiz‑ und Innenpolitik eines Staates. Es handelt sich um eine der Kernkompetenzen des Staates, schließlich bedeutet die Kontrolle über die Einreise die Kompetenz, darüber zu entscheiden wer sich im Land aufhalten darf. Damit wird – gerade bei langfristigen Aufenthaltstiteln – auch über die Komposition der Gemeinschaft entschieden.

Unter diesen Vorzeichen ist es geradezu revolutionär, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit dem Schengener AbkommenSchengener Abkommen die Grundfreiheiten der Römischen Verträge von 1957 – freier Waren-, Dienstleistungs- Personen- und Kapitalverkehr – verwirklichten, indem sie Kontrollen an den gemeinsamen Landesgrenzen abschafften und zuließen, dass die Außengrenzen der kooperierenden Staaten zu Außengrenzen der Schengengemeinschaft und damit zu gemeinsamen Außengrenzen wurden.

Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

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