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3 Grenzpolitik der Europäischen Union

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Eine Grenzpolitik der Europäischen Union gibt es streng genommen nicht, weil die Europäische Union nicht über die ausschließliche Zuständigkeit in der Grenzpolitik verfügt. Die GrenzpolitikGrenzpolitik zählt zur Innenpolitik eines Landes. Auf europäischer Ebene wird dieser Politikbereich mit der Umschreibung Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezeichnet. Im Vertrag von LissabonVertrag von Lissabon (2009) wird der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als ein politischer Hauptbereich bezeichnet, in dem sich die Europäische Union die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten teilt (Art. 4 Abs. 2 lit. j. AEUV).

Bei geteilter Zuständigkeit agieren die europäischen Institutionen nur insoweit es die Vertragsziele vorgeben bzw. politische Ziele im Politikbereich nur durch europäische Standards verwirklicht werden können. Hier greift das SubsidiaritätsprinzipSubsidiarität:

„Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ (Art. 5 Abs. 3 EUV)

Die genauen Ziele zur Erreichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des RechtsRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werden im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Art. 67 genannt:

(1) Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.

(2) Sie stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist. […]

(3) Die Union wirkt darauf hin, durch Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung und Zusammenarbeit von Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und den anderen zuständigen Behörden sowie durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls durch die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.

(4) Die Union erleichtert den Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen.

Diese detailgenaue Legitimierung zur Rechtsetzung wird als Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bezeichnet. Demnach wird die Europäische Union bzw. die in ihrem Namen wirkenden europäischen Institutionen für jede Tätigkeit spezifisch legitimiert (Art. 4 Abs. 1 EUV). Ausdrücklich ist im Vertrag festgehalten, dass die europäischen Institutionen bzw. die Europäische Union die Identität der Mitgliedstaaten, ihre verfassungsrechtliche Organisation und grundlegenden politischen Strukturen achtet, wozu auch die nationale und regionale Selbstverwaltung zählt (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV). Die nationale Grenzpolitik betrifft die Integrität der Mitgliedstaaten und ist ein besonders sensibler Bereich für die nationale SicherheitNationale Sicherheit, die weiterhin ausdrücklich in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt:

„Sie [Anm.: die Union] achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.“ (Art. 4 Abs. 2 Satz 2-3 EUV)

Die nationale Sicherheit stellt ein hohes Gut für jeden Staat dar und zählt zu den Grundpfeilern der staatlichen Aufgaben. Gerade auch im Verhältnis zu den BürgerInnen ist die nationale Sicherheit eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben. Entsprechend wird diesem Gut hohe politische Priorität eingeräumt. Auch wenn die Binnengrenzkontrollen aufgehoben werden, so können Gründe der nationalen Sicherheit für die vorübergehende Wiedereinführung von GrenzkontrollenGrenzkontrollen führen. Diese kann die Europäische Union (in dem Fall: die Kommission) den Mitgliedstaaten nicht verwehren. Tatsächlich erfordert das Schengenrecht, dass die Mitgliedstaaten die Personenfreizügigkeit so hochachten, dass sie für die außerordentliche Wiedereinführung von Grenzkontrollen Anträge stellen müssen. Dies kann die Kommission den Mitgliedstaaten jedoch nicht verwehren.

So erklärt sich auch, weshalb der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des RechtsRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts unter den Vorbehalt gestellt wird, dass Maßnahmen greifen, die die grenzberührenden Themenfelder Kriminalität, Einwanderung und Asyl betreffen:

„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“ (Art. 3 Abs. 2 EUV)

Auffallend ist die Formulierung, dass die Union ihren Bürgern diesen Raum „bietet“. Er muss also nicht geschaffen werden, sondern ist bereits Realität. Dennoch werden im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Mandate für diesen Politikbereich formuliert. Tatsächlich betreffen diese Mandate zur Rechtsetzung vor allem die Bereiche Asyl, Einwanderung und Kontrolle an den Außengrenzen. Diese Regelungen zielen alle darauf ab, den nach innen geschaffenen Raum nach außen hin zu kontrollieren bzw. abzusichern. Demnach besteht der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des RechtsRaum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts überweigend aus Maßnahmen, die diese Freiheit, Sicherheit und Rechte gegenüber Dritten absichern.

Die Freiheit dieses Raums verweist einerseits auf freiheitliche Grundprinzipien einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung. In konkretem Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verweist der Begriff auf die Personenfreizügigkeit, die eine wesentliche Errungenschaft des Raums ohne Binnengrenzen darstellt.

Das Recht im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts schafft positive Rechte für die Bürger der Union: Zum einen werden grundsätzlich die Rechtsordnungen und Grundrechte innerhalb der Verfassungen der Mitgliedstaaten geachtet. Konkret soll durch den gemeinsamen Raum der Zugang zum Recht für die Bürger vereinfacht werden, was durch den Grundsatz der grenzüberschreitenden gegenseitigen Anerkennung von Rechtsprechung im Zivilrecht realisiert werden soll.

Bezüglich der SicherheitNationale Sicherheit sieht der Vertrag zum anderen vor, dass die Mitgliedstaaten ohne den Umweg über die europäischen Institutionen oder Unionsrecht direkt miteinander kooperieren. Dazu können sich die zuständigen Dienststellen und Verwaltungen der Mitgliedstaaten „Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung“ einrichten, „die sie für geeignet halten“ (Art. 73 AEUV).

In Bezug auf die GrenzpolitikGrenzpolitik entwickelt die Union eine Politik, mit der

a) sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden;

b) die Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sichergestellt werden soll;

c) schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen eingeführt werden soll.

(Art. 77 Abs. 1 AEUV)

Diesem Politikauftrag wird in diesem Kapitel nachgegangen, indem folgende Fragen besprochen werden: Welche der genannten Ziele hat die Europäische Union bereits erreicht? Wie sieht die Grenzpolitik in der Theorie – im Recht – und in den Mitgliedstaaten – in der Praxis – aus? Auf welchem Stand ist das europäische Grenzschutzsystem? Wie arbeitet es und welche Kritik gibt es daran?

Zunächst nähern wir uns diesen Fragen, indem wir die Lage an der Grenze betrachten (Kapitel 3.1). Wir wollen wissen, welche Bewegungen in den vergangenenen Jahren an den Außengrenzen der Europäischen Union beobachtbar waren und welche Bedeutung diese für den Schengenraum haben (3.1.1). Daraufhin ordnen wir ein, wie sich das Schengensystem und das europäische Grenzschutzsystem in Tandem entwickeln (3.1.2). Dann betrachten wir die geltenden Einreisebestimmungen für Kurz‑ und Langzeitaufenthalte in der Europäischen Union (3.1.3). Die bestehenden Bestimmungen und die Realität an der Grenze vergleichen wir mit den strategischen Zielen für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die die Staats‑ und Regierungschefs seit 1999 in regelmäßigen Abständen verfasst haben (3.1.4).

Im Folgenden gehen wir genauer auf die Kompetenzen der Europäischen Union ein (Kapitel 3.2) und halten fest, über welches Mandat die Europäische Union für eine gemeinsame Grenzpolitik verfügt (3.2.1) und welche Rechtsinstrumente bisher zum Aufbau eines europäischen Grenzschutzmanagements genutzt wurden (3.2.2).

In Kapitel 3.3 greifen wir diese Bestimmungen auf und setzen uns mit den gemeinsamen Verfahren zu Einreisekontrollen auseinander, die die Europäische Union mit dem Schengener Grenzkodex geschaffen hat (3.3.1). Auch die gemeinsame Visapolitik rückt in den Fokus als Kontrollinstrument (3.3.2). Daraufhin wird behandelt, welche Einreisemöglichkeiten Asylsuchende unter diesen Bedingungen haben (3.3.4).

Kapitel 3.4. konzentriert sich dann auf die Geschehnisse an der Grenze selbst und die Umsetzung der Grenzpolitik in den Mitgliedstaaten: Wie stellt sich die Lage an den Außengrenzen dar? (3.4.1) Wie sieht Grenzschutz in der Praxis an den Außengrenzen aus, welche Akteure sind daran beteiligt? (3.4.2) Und kann man die Binnengrenzen des Schengenraums tatsächlich ohne Kontrollen passieren? (3.4.3)

Schließlich beschäftigen wir uns mit Konflikten der europäischen Grenzpolitik, besonders in Zusammenhang mit der Asylzuwanderung über das Mittelmeer (3.5). Wir diskutieren die geographischen Asymmetrien des gültigen europäischen Grenzschutzsystems, analysieren den fortwährenden politischen Streit um die europäische Grenzpolitik und halten fest, welche Entwicklung sich andeutet.

Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

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