Читать книгу Gesunde Ernährung für hochsensible Menschen - Dr. phil. Anne-Barbara Kern - Страница 7
Zwei Komponenten einer guten Ernährung oder: Was ist eigentlich gesund?
ОглавлениеAm Anfang eines solchen Buchs muss natürlich die Frage stehen, was eine gesunde Ernährung überhaupt ist. Die Verwirrung ist groß, es gibt eine Unmenge an Ernährungsratschlägen und Ernährungs-Ideologien, die teils extrem widersprüchlich sind: z.B. Rohkost, Vollwertkost, Paleo, Ayurveda, Makrobiotik, TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) u.v.m. Ich spreche hier bewusst von Ideologien, denn diese Richtungen versprechen einfache Lösungen, die es in Wirklichkeit so nicht gibt. Als Rohköstler beispielsweise darf man einfach alles essen, was roh ist und schon wird man gesund. Wenn man sich dann die Rezepte, die in der Szene kursieren, ansieht, rollt es einem sprichwörtlich die Fußnägel hoch. Denn z.B. auch Trockenfrüchte gelten als Rohkost. Da gibt es dann Süßigkeiten, die aus Trockenfrüchten hergestellt werden, z.B. Dattelschokolade und Rohkost-Torten, die einen enormen glykämischen Index aufweisen und sicher alles andere als gesund sind. Aber es ist ja Rohkost. Die TCM-Ernährung hingegen rät von Rohkost ab, weil sie das "Verdauungsfeuer" löscht, weswegen man überwiegend gekochte Nahrung zu sich nehmen sollte - adieu all ihr guten Vitamine. In der Paleo-Diät geht man davon aus, dass man sich wie ein Urmensch ernähren sollte, also mit viel rotem Fleisch und Gemüse. Gemüsesorten, die es in der Steinzeit noch nicht gab, werden abgelehnt. Dabei hat es all unsere heutigen Gemüsesorten damals nicht gegeben. Sie sind allesamt Züchtungen, die erst später, als wir sesshaft wurden und Ackerbau betrieben haben, entstanden sind. Und es gibt noch einen weiteren Irrtum der Paleo-Diät: Sie ahmt nämlich die Ernährung der Neandertaler nach, die sich tatsächlich bis zu 100% von Fleisch ernährt haben. Dabei haben sich die Neandertaler von ganz anderem Fleisch ernährt, u.a. von Wölfen und Hyänen, Tieren, die wild gelebt haben und aufgrund ihrer artgerechten Ernährung einen hohen Nährstoffgehalt hatten. Aber selbst wenn man sich heute von solchem Fleisch ernähren würde, sind die Neandertaler eben nicht unsere Vorfahren. Sie sind ausgestorben. Sicher war ihr Stoffwechsel an diesen hohen Konsum von rotem Fleisch angepasst. Unsere Vorfahren kamen aber vom Meer und waren keine Jäger, sondern Fischer und Sammler. Das erklärt, warum es immer mehr Studien gibt, die zeigen, dass rotes Fleisch in großen Mengen unserer Gesundheit abträglich ist. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele für Ernährungs-Ideologien und ihre Widersprüche anfügen. Auch wenn es bequem scheint sich auf eine solche Ernährungs-Ideologie einzulassen, weil man dann ein festes Schema F hat, dem man einfach nur noch zu folgen braucht, bringt das alles keine wirkliche Klarheit. Es bleibt die Frage, was eine gute Ernährung wirklich ausmacht.
"Die" richtige Ernährung, die für alle Menschen gilt, gibt es nicht. Grundsätzlich ist der Mensch ein Omnivore, d.h. ein Allesfresser, der von der Arktis bis in die Tropen überleben kann und sich jeweils von dem ernährt, was er dort vorfindet. Außerdem gibt es genetische Unterschiede, die zu verschiedenen Vorlieben und Abneigungen, Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten führen. Und in dieser Hinsicht sollte man tunlichst auf seinen Körper hören. Ein gutes Beispiel, das ich in der Literatur gefunden habe, ist das von Herrn Maier.3 Er pflegt schon seit Ende der 1970er Jahre einen Lebensstil, den wir landläufig als "gesund" bezeichnen würden. So trinkt er keinen Alkohol, treibt regelmäßig Sport und nimmt keinerlei Medikamente. Sein Essen bezieht er überwiegend aus ökologischer Landwirtschaft, legt Wert auf Vollkornbrot und Rohkost und isst wenig Fleisch. Äpfel verzehrt er mehrmals täglich ungeschält, weil sich direkt unter der Schale angeblich die meisten Vitalstoffe befinden. Als Herr Maier wegen eines umgeknickten Knöchels beim Hausarzt ist, macht dieser, weil Herr Maier schon einmal da ist, auch gleich ein Blutbild. Es zeigt sich, dass Herr Maier erhöhte Leberwerte hat, obwohl er weder Alkohol noch Medikamente nimmt. Ein erster Tastbefund und auch die folgende Ultraschalluntersuchung ergeben eine Vergrößerung der Leber, sodass der Hausarzt Herrn Maier zu einer Gewebeentnahme in die Uniklinik überweist. Dort wird eine Fettleber diagnostiziert. Über die Ursache herrscht lange Unklarheit, bis sich herausstellt, dass es sich bei dem in der Leber abgelagertem Fett um Apfelwachs handelt, also das Fett, das die Apfelschale natürlicherweise bildet, um das Fruchtfleisch vor Austrocknung zu schützen. Als man Herrn Maier daraufhin auf seine Ernährungsgewohnheiten anspricht, berichtet er über seine Vollwertorientierung und von seinem jahrzehntelangen reichhaltigen Apfelkonsum. Auf die Frage, wie die Äpfel ihm denn bekommen seien, antwortet Herr Maier, dass die Äpfel oft noch den ganzen Tag mit ihm "gesprochen" hätten - sie seien ihm, obwohl sie doch so "gesund" seien, ausgesprochen schlecht bekommen. An diesem Punkt kommt den Ärzten und Herrn Maier ein Verdacht: Womöglich hat Herrn Maiers Körper ihm all die Jahre versucht, zu signalisieren, dass er die Äpfel mit Schale nicht verträgt und Herr Maier hätte gut daran getan darauf zu hören.
Dieses Beispiel veranschaulicht sehr deutlich, dass uns Ernährungs-Ideologien nicht weiterbringen. Eine richtig gute Ernährung besteht immer aus zwei Komponenten. Natürlich "wissen" wir auf der einen Seite, dass bestimmte Nahrungsmittel grundsätzlich gesund sind, bestimmte andere hingegen grundsätzlich nicht. Aber sogar das schwankt je nach Stand der Wissenschaft. So wurde beispielsweise ab dem Ende der 1950er Jahre Fett für die Entstehung von Übergewicht, Arteriosklerose und Herzinfarkt verantwortlich gemacht und eine kohlenhydratreiche, fettarme Ernährung empfohlen. Heute weiß man, dass es genau umgekehrt ist - Kohlenhydrate und insbesondere Zucker sind die Hauptursache von Übergewicht und koronaren Herzerkrankungen, während uns die richtigen Fette davor bewahren. So ist selbst diese scheinbar objektivierbare Komponente der Ernährung Schwankungen unterworfen, auch wenn es natürlich eine solche objektivierbare Komponente gibt. So ist das, was ich in diesem Buch als objektivierbare Komponente wiedergebe, dem derzeitigen wissenschaftlichen Forschungsstand geschuldet und kann in zehn Jahren schon wieder etwas anders aussehen.
Die zweite Komponente, die man für eine gute Ernährung braucht, ist immer eine individuelle. Es gibt genetisch bedingt verschiedene Ernährungstypen (dazu später mehr), bestimmte individuelle Abneigungen und Unverträglichkeiten. Diese sollten bei einer guten Ernährung unbedingt berücksichtigt werden. Wie wichtig das ist, veranschaulicht das Beispiel von Herrn Maier sehr gut: Er hielt sich an das, was in den 1980er Jahren die objektivierbare Komponente darstellte, nämlich die Vollwertkost, bei der man alles mit Schale isst, sogar Kartoffeln. Dass Äpfel grundsätzlich ein gesundes Nahrungsmittel sind, darüber sind wir uns sicher alle einig, das ist auch in wissenschaftlichen Studien immer wieder belegt worden. Doch Herr Maier ignorierte die zweite, die individuelle Komponente. Sein Körper hatte verzweifelt versucht ihm mitzuteilen, dass er mit dem Apfelwachs nicht zurechtkam. Und obwohl Äpfel mit Schale eigentlich "so gesund" sind, hat das Apfelwachs, das er nicht verstoffwechseln konnte, ihm langfristig eine Fettleber beschert. Für ihn wären also geschälte Äpfel wesentlich gesünder gewesen.
Jetzt könnte man gerade als hochsensibler Mensch meinen, dass man dann doch lieber einfach nur intuitiv essen sollte, denn in Intuition sind wir richtig gut. Doch auch das hat bestimmte Tücken. Natürlich verfügen wir über eine somatische Intelligenz aus unserem Körper heraus, die wir auch trainieren und ausbauen können. Doch nicht alle Signale, die uns der Körper sendet, führen uns in die richtige Richtung. Denn bestimmte Nahrungsmittel waren in der Urzeit sehr knapp. Wenn wir diese gefunden haben, linderte das unsere Sorge ums Überleben. Dies ist der Grund, warum Fett, Zucker und Salz einen großen Einfluss auf unsere Stimmung nehmen. So entscheiden wir uns meist eben nicht für Chips, Schokolade oder Kuchen, weil unsere Stoffwechsellage danach verlangen würde, sondern weil wir durch sie eine Verbesserung unserer Stimmung erreichen können.4 Das Beispiel von Herrn Maier zeigt uns, wie wichtig es ist, auf unsere Intuition zu hören. Doch wenn wir uns in Zeiten, in denen es an jeder Ecke Kuchen, Süßigkeiten, Chips und Salami zu kaufen gibt, von steinzeitlichen Überlebenstrieben leiten lassen, landen wir genau bei der Ursache unserer heutigen Zivilisationserkrankungen: Bei viel zu viel Zucker, dem falschen Fett und viel zu wenig Gemüse und gesunden Fetten, insgesamt also einer kalorienreichen, aber nährstoffarmen Ernährung, die uns gleichzeitig übergewichtig macht und dabei doch unser Gehirn verhungern lässt.
Das Baukastensystem, das ich in diesem Buch zur Verfügung stelle, beruht auf zwei Säulen: Erstens darauf, was nach heutigem Forschungsstand objektiv gesund ist und den Bedürfnissen des Gehirns optimal entspricht. Diese objektive Komponente werde ich dir in Teil 2 vorstellen. Daraus kannst du dir dann jeweils die Nahrungsmittel aussuchen, die dir bekommen, die du magst, die dir schmecken. Doch um diese klugen individuellen Entscheidungen treffen zu können, brauchst du eine zweite Säule, nämlich einen theoretischen Hintergrund, der Dir vermittelt, wann du auf deine inneren Eingebungen hören kannst und wann sie dich in die Irre treiben, was du für ein Ernährungstyp bist, was dir wirklich bekommt, wo du eventuell bestimmte Nahrungsmittelunverträglichkeiten hast und wie du diese erkennst. Diesen theoretischen Hintergrund möchte ich dir im ersten Teil meines Buches vermitteln. Auch wenn die Versuchung besteht, gleich zu Teil 2, mitten in die Praxis, zu springen, möchte ich dich trotzdem bitten, erst den Teil 1 aufmerksam zu lesen. Denn nur wenn du weißt, was ich dir hier vermittle, kannst du deine Ernährung erfolgreich umstellen und optimieren.
Zusammenfassung
"Die" gesunde Ernährung, die auf jeden passt, gibt es nicht, dafür sind wir genetisch einfach zu unterschiedlich; vereinfachende Ernährungsideologien bringen uns deshalb nicht zum Ziel
Eine wirklich gesunde Ernährung muss sowohl individuelle Vorlieben, Abneigungen und Unverträglichkeiten als auch die Palette des objektiv Gesunden berücksichtigen
Intuitiv essen allein führt uns aber auf die falsche Fährte, weil unser steinzeitliches Erbe uns dann zu viel Fett und Zucker beschert, Nahrungsmittel, die schlecht für uns sind, aber einen psychischen Effekt auf uns haben
Es ist also wichtig für uns einen theoretischen Hintergrund zu haben, der uns dabei hilft, herauszufinden, was wirklich gut für uns ist